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Minister Freiherr vom Stein

Von Hans Martin Elster

Ein wirkliches Verständnis des Freiherrn vom Stein, seiner Persönlichkeit, seines Lebenswerkes und seiner Bedeutung für das deutsche Volk in Gegenwart und Zukunft ist nur möglich, wenn man sich ganz in die große Begriffs- und Anschauungswelt einfügt, die um das Jahr 1800 Deutschland geistig auf den Gipfel seiner schöpferischen Möglichkeiten führte und nun nach einer Auswirkung, nach einer Gestalt in der Wirklichkeit suchte. Stein ist nicht nur der Zeitgenosse Lessings, Herders, Goethes und Schillers, er ist auch wie W. v. Humboldt und Fichte ihr Wesensverwandter, weil er ebenfalls aus dem großen Maß und Wurf dieser Genies emporwuchs. Wie ihnen, war ihm nichts Kleines, nur Größe in allen Dingen eigen.

Und zwar auf organische Weise. Schon die Vaterlandsvorstellung, so tief er auch der engeren rheinisch-westfälischen Heimat für immer und rein menschlich verbunden war, konnte ihn niemals in irgendeinen Kleinstaatbegriff hinüberwechseln. »Ich habe nur ein Vaterland, und das heißt Deutschland«, war nicht nur sein Bekenntnis im Jahre 1812, da er es von Petersburg aus dem Grafen von Münster schrieb. Nein, es war sein Bluterbe. Seit Jahrhunderten stand die Wiege seines Geschlechtes im Lahntale; im Schlosse seiner Väter zu Nassau war auch er (am 26. Oktober 1757) geboren; vom Vater war ihm die ganze Bedeutung ihres Reichsfreiherrntums übermittelt worden: nicht im Titel, in einer sozialen Bevorzugung, sondern in der Bedeutung, in einer Verpflichtung. Reichsunmittelbar war er als Reichsfreiherr; das Reich aber war jenes gesamte große Deutschland, das unter den salischen und fränkischen Kaisern im Mittelalter wahrhaft alle Deutschen umfaßt hatte; diesem Deutschland war er mit seinem Geschlechte verbunden, dieses Großdeutschland war ihm bluteigen und war ihm Sinn alles Wirkens in Politik und Verwaltung. Der Gang der vornehmlich dynastisch bestimmten Geschichte im neunzehnten Jahrhundert hat diesen Großdeutschlandbegriff im Wissen und Gewissen der Deutschen mehr als gut zurücktreten lassen. Nachdem die dynastisch bestimmte Politik ihr Ende gefunden hat, ist aber die Stunde gekommen, da eine nach der Volkheit bestimmte Politik wieder den Großdeutschlandbegriff aufnimmt. Niemand hat ihn als Lebenswirklichkeit stärker veranschaulicht denn Stein.

Wenn er nach den Göttinger Studentenjahren und einer Bildungsreise nach den Reichsmittelpunkten in Wetzlar, Regensburg und Wien doch nicht in die Dienste dieses Großdeutschlands, des Reichs, sondern Preußens trat, so war dies keine Untreue gegen seine Blutverpflichtung. Es war nur die Entscheidung für den praktischen Arbeitsmittelpunkt, in dem das größere Aktivum für den Wiederaufbau des Reichs zu finden war. Und dies war damals, zu Lebzeiten Friedrichs des Großen, in Preußen der Fall. Wenn er als Direktor des Bergwerkdepartements und als Oberpräsident in Westfalen wirkte, wenn er als Minister Preußens Verwaltung reformierte und Preußens Politik leitete, immer geschah es um Deutschlands willen. Als Preußen bei Jena und Auerstedt zusammenbrach, entfuhr ihm der Schwur, und wurde ihm sein Schicksal darin nochmals klar: »Vergeß ich deiner, Deutschland, so werde meiner Rechten vergessen!« So wurde er auch niemals Preuße im engeren Sinne des Wortes. Hier unterschied er sich sein Leben hindurch von Bismarck, der zuerst Preuße war und sich von Preußen nach Deutschland, immer aber einem preußisch bestimmten Reiche hin entwickelte. Als Stein aber die deutsche Reichsverfassung neu aufbauen wollte – tragisches und leidenschaftliches Bemühen um die Krönung seines außenpolitischen Befreiungswerkes auch in einem innenpolitischen Befreiungswerke –, da spannte er wohl Preußen in völliger Gleichberechtigung neben Österreich an den Reichswagen, die Kaiserkrone wollte er aber in Wien lassen, in einem sicheren Instinkt: um die von Norddeutschland fortstrebenden, mit Ungarn und slawischen Völkern verbundenen süddeutschen Stämme stärker an den Norden zu kitten, an das Deutschtum im aktiven Sinne zu fesseln, um die norddeutsch-preußische Energie mit der süddeutschen Kultur- und Blutwärme zu verbinden. Aus seinem Deutschlandgefühl heraus konnte Stein auch niemals zum Vertreter irgendwelcher partikularistischen noch dynastischen Interessen werden. Sein Genie wurde auf dem Wiener Kongreß, der doch durch seine Politik der Bundesannäherung an den Zaren Alexander und seinen Kampf gegen Napoleon erst möglich geworden war, kaltgestellt, weil er an Deutschland und nicht an die Dynastien in erster Linie dachte. Schon damals wollte er mit dem Kleinfürstentum aufräumen. Dabei war Stein nicht etwa ein gleichmacherischer Anhänger des absoluten Zentralismus: Seine Gemeinde- und Städteordnung, seine Verfassungsanschauungen auf ständischer Grundlage beweisen zur Genüge, daß er den kulturellen Partikularismus in seinem Werte voll anerkannte, daß er dem Stammestum sein volles Recht ließ. Als Vertreter der großen Politik, als Deutscher aber mußte er aus der Kenntnis der Weltgeschichte und der Wirklichkeit heraus hinter seinen Schwur: »Ich habe nur ein Vaterland, und das heißt Deutschland«, die oft unterschlagenen Worte setzen: »Mein Glaubensbekenntnis ist Einheit.« Die Einheit der gesamten deutschen Nation!

s. Bildunterschrift

Schnorr von Carolsfeld, Freiherr vom Stein

Dies Glaubensbekenntnis ist keine Konstruktion, wie Anhänger des absoluten Partikularismus und Einzeldynastentums zu überreden versucht haben. Sondern es fußt auf der Wesenserkenntnis des deutschen Volkes an sich. Dieses ist nämlich in seiner Grundnatur vom Norden bis zum Süden, vom Westen bis zum Osten eine Einheit, eine Volkheit bei aller Eigenart und Verschiedenheit seiner Stammesteile. Wer aber das Geheimnis der Größe und Wirkung Goethes nur einmal begriffen hat, der weiß, wie in ihm alle Deutschen einig sind, weil sie es in ihrem tiefsten Kerne von Natur sind. Stein ging von diesem Wesenskern und nicht von den formalen Unterscheidungen und Scheidungen, die die vorzugsweise dynastische Geschichte Deutschlands durch die Jahrhunderte vornahm, aus. Und er stellte, was die egoistische Geschichte einiger Familien und Gruppen auseinanderhielt, nun als Forderung und Ziel die Wiedervereinigung auf. Auf Grund seiner eigenen Deutschheit, die nicht im Kleinen aufgehen kann, sondern durch ihren universalen Grundtrieb das Ganze zu umschließen begehrt. Auf Grund aber auch seiner realpolitischen Erfahrungen, die ihm am Beispiel Englands und Frankreichs zeigten, daß die Völker im letzten Kern unbesiegbar waren, weil sie geeint waren. Mit dieser Grundrichtung seiner Persönlichkeit war Stein den Deutschen aber nicht nur zu seinen Lebzeiten, sondern noch ein Jahrhundert hindurch zu groß. Wohl flammte einmal, im Frankfurter Parlament, Steins Willen zum Tatwillen empor: aber die Fürsten, allen voran der preußische König Friedrich Wilhelm IV., versagten, und es versagte noch das Volk, in dem die nationale Idee noch nicht so lebendig war, daß sie sich gegen den dynastischen Kleinmut und Widerstand durchsetzte. Dann ward Steins Idee und Ziel ersetzt durch eine vorläufige Lösung: das Deutsche Reich Bismarcks! Wohlgemerkt: dieses Bismarcksche Reich ist niemals die Erfüllung Steinscher Forderung, sondern nur eine Vorstufe dazu. Bei der Kraft des Dynastentums und des Partikularismus gewiß eine notwendige und ursächliche Vorstufe, aber niemals der endgültige Bau. Denn Österreich, Süddeutschland von Steiermark, Kärnten bis Tirol, Salzburg und Deutschböhmen blieben »draußen«. Schon rein kulturell, gewiß aber auch politisch wäre Deutschböhmen nicht an die Slawen, Südtirol nicht an die Italiener und manche anderen Stammesgruppen nicht an die fremdrassigen Nachbarn verlorengegangen, wäre Steins Deutschland staatliche Wirklichkeit im 19. Jahrhundert geworden. Der langsame, schwerfällige Deutsche mußte aber erst das Leid des Weltkrieges und seiner Folgen erfahren, um zu erkennen, daß Rettung und Freiheit dem Deutschen allein bringen kann seine Einigung, seine Einheit im Steinschen Sinne.

Deutschland wird auf diesem Wege zu seiner großen politischen Einheit nichts von seiner kulturellen Wertigkeit in den einzelnen Ländern, bei den einzelnen Stämmen verlieren. Wenn es seine Einheit nur auf Steinscher Grundlage und nicht auf einer formalen Demokratie, auf der westlerischen Demokratie, der Zivilisationsanschauung Frankreichs, Englands, Amerikas aufbaut. Auch hier weist Stein uns für immer den Weg in den Grundsätzen und Grundzügen seiner Arbeit. Er fußt im Kulturellen und Organisatorischen auf der germanisch erfaßten Volkheit. Sie kannte nicht den schematischen Gleichheitsgedanken, sondern sie ordnete die Masse nach dem Gefolgschaftsgedanken. Gefolgschaft wurde geleistet dem Führer. Der Führer wurde aber erst von Natur, durch seine Leistung und Persönlichkeit bestimmt, dann durch Erbschaft und Tradition, wenn er die Eigenschaften des Führers, höchste Leistung und höchstes Verantwortungsbewußtsein, behielt. Sonst trat Wechsel in den Führungen ein; allein das Moment der Sammlung im Gefolgschaftsgedanken blieb. Aus der Gefolgschaft konnte jeder Leistungs- und Persönlichkeitsüberragende zum Führer emporwachsen. Diese germanische Gliederung – im Mittelalter und seinem Kaisertum zur höchsten Blüte entwickelt – war sittlich geboren und sittlichen Wesens. Von hier aus ging der den Deutschen immer notwendige, von ihnen aber oft generationsweise vergessene ethische Strom durch das politische Leben aus. Von hier war Steins politische Weltanschauung ethisch durchdrungen. Stein war nun natürlich nicht der enge Kopf, der etwa jene germanische Gefolgschaftsidee einer anderen Zeit und Kultur aufpressen wollte. Er entwickelte sie vielmehr organisch aus den Zuständen der Zeit heraus, durch die Erfahrungen, die er im Bergwerkswesen gemacht hatte. Hier, wie in aller freien Wirtschaft, ist der Gefolgschafts- und Führergedanke auf Grund von Leistung und Verantwortung lebendig; kein freier Wirtschafter kann sich in der Industrie als Besitzer und Werkführer halten, wenn seine Leistung und sein Verantwortungsbewußtsein nicht die Gefolgschaft der Arbeiter, Angestellten, Abnehmer anzieht und festhält, an sich bindet. Und weiter: Stein sah, wie die freie Wirtschaft Kräfte entfesselte, entwickelte und band durch die Selbstverwaltung. Diese Erfahrungen übertrug er nun folgerecht auf den Staat. Er machte ihn durch den Gedanken der Verantwortlichkeit vor der Gefolgschaft, durch die Tat der Selbstverwaltung zum persönlichen Eigentum jedes Untertans: er verband die äußerliche Staatsform und -organisation mit der inneren Natur des Deutschen. Er machte den Deutschen frei und zugleich haftbar für das Ganze. Er germanisierte die demokratische Konstruktion der Westvölker. Er ist es gewesen, der uns unsere einzig mögliche Staatsform, unsere einzig mögliche staatliche Lebensweise schenkte. Wie der Baum aufwächst aus der einzelnen kleinen Zelle zur Einheit Baum, die Zelle aber nicht ohne die Einheit, ohne das Ganze, das Ganze, die Einheit aber nicht ohne die Zelle bestehen kann, so schuf Stein den Staat, indem er von der kleinsten Gemeinde, vom Dorf an über die Kreise, Regierungsbezirke, Provinzen zum Staate die Selbstverwaltung emporwachsen ließ. Dabei behielt jedes Teilchen seine volle Selbständigkeit in den kulturellen Fragen, mußte dagegen, um diese sich zu erhalten, von seiner politischen Selbständigkeit an das Ganze abgeben; das Ganze aber sicherte, durch Verwaltung der politischen Notwendigkeiten, wieder das kulturelle Leben der Teile. So konnte das Ganze nicht ohne die Teile, die Teile nicht ohne das Ganze leben. In Preußen dauerte es zwar bis zur Landgemeindeordnung von 1892 fast noch ein Jahrhundert, ehe der Steinsche Bau vollendet wurde. Nun steht er aber auch um so fester da, und alle anderen Länder mußten ihn übernehmen. Noch aber ist er nicht errichtet für die politische Einheit Großdeutschlands: auch dieses Ziel zeichnete Stein uns vor in seinem Reichsverfassungsplane, in jenem Bundesstaate unter der österreichischen Kaiserkrone, der 1815 nicht Wirklichkeit wurde. Dies Ziel zu erreichen, ist Lebensinhalt und Aufgabe des jetzigen und der kommenden deutschen Geschlechter. Dann wird einst das Steinsche Staatsideal erfüllt werden: »Der Staat ist kein landwirtschaftlicher und Fabrikverein, sondern sein Zweck ist religiös-sittliche, geistige und körperliche Entwicklung; es soll durch seine Einrichtungen ein kräftiges, mutiges, sittliches, geistvolles Volk, nicht allein ein kunstreiches, gewerbefleißiges gebildet werden.«


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