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s. Bildunterschrift

W. Mulot, Die sieben Laster. Gebälkschnitzerei in Limburg.

Die schwarze Glocke

Von Leo Sternberg

Als die schwere alte Sturmglocke, die das Diözesanmuseum zu Limburg bewahrt, grün bekränzt und von Weihrauch und Myrrhen umwölkt, gleichzeitig mit dem Dom ihre Weihe erfuhr, da dachte niemand, daß sie der Stadt zur schwarzen Glocke werden würde. Sie hat auch Freude herabgeläutet in den siebenhundert Jahren, die sie ihres Amtes waltete; aber Schauder geht von ihr aus, wenn ihr schwarzer Mantel uns an die Verzweiflung erinnert, die der Schreckensschrei des ganzen vierzehnten Jahrhunderts zu ihr hinaufschickte. Sie läutete die Wende der neuen Zeit ein, als sie die ungeheure Feuersbrunst verkündete, die halb Limburg in Asche verwandelte, gleichsam als sollte die Todesreife der alten Kultur auch äußerlich offenbar werden. Man meinte, es sei ein Meteor vom Himmel gefallen, um die sündige Stadt zu strafen. Ein großer Teil des Adels und der Bürgerschaft, an deren verlassene Heimstätten nur noch die Namen der Hofraiten erinnern, wanderte aus. Und die schwarze Glocke läutete wieder; kein Unglück pflegt allein zu kommen. Verheerende Wasserfluten folgten, die das Vieh aus den Ställen herausschwemmten, die Gärten vernichteten und Mühlen und Hütten wegrissen, wie sie zuvor die steinerne Lahnbrücke donnernd gesprengt hatten. Fürchterliche Stürme brausten über die Stadt, die Obstbäume, Türme und Dächer abbrachen. Erdbeben kamen, welche die Bevölkerung monatelang in wahnsinniger Angst vor den Toren der Stadt hielten, wo man in rasch aufgeschlagenen Zelten einen Augenblick ausruhen konnte von der Erschöpfung schlafloser Nächte. Schneewehen begruben Wanderer und Wagenzüge. Die Lahn trocknete aus. Hagel und Heuschrecken vernichteten das Getreide, Fröste die Rebenblüte; das Obst fraß der Wurm. Teuerung folgte auf Teuerung. Die Verwahrlosung, die Ungunst der Witterung, die Gleichgültigkeit, die sich heimgesuchter Menschen bemächtigt, waren der Entstehung von Krankheiten günstig, die sich bei der Enge des Zusammenlebens seuchenartig verbreiteten und ganze Stadtteile entvölkerten.

Der Adel, der nichts mehr zu rauben fand, geriet in Schulden. Die Dynasten führten die Hofhaltung zwar in dem alten Glanze fort. Sie beschenkten die kirchlichen Anstalten, beteiligten sich an allen kostspieligen Unternehmungen von Kaiser und Reich, schritten zu Gerichtssitzungen in königlichem Pomp, veranstalteten Jagden, Sängerkriege, Turniere und bauten. Johann, der blinde Herr, baute im Schlosse die zum Teil noch erhaltene St.-Peters-Kapelle. Seine Gemahlin errichtete ihrem Hofnarren ein Standbild, dessen jetzt im Diözesanmuseum untergebrachter Inschriftstein mit seiner in gotischen Majuskeln gefaßten Reiminschrift noch zu lesen ist. Gerlach II. baute den Stadtgraben, dessen Verlauf noch heute die Kastanienallee der »Schiede« bezeichnet.

Allein, der Glanz war Schein. Durch die Mißernten, die Stockung des Verkehrs, die Entvölkerung und den Untergang ganzer Ortschaften, die erhöhte Unsicherheit der von Besitzlosen und Unzufriedenen belagerten Straßen, die allgemeine Not des heimgesuchten Landes und der häuserleeren, halb abgebrannten Residenz, auf deren freien Plätzen das Gras wuchs, waren die Einkünfte der Dynasten beträchtlich geschmälert worden. Der Verlust tüchtiger Hauptleute, wie des Hauptmanns v. Hatzstein, der so stark war, daß er ein Ohm Wein aufhub und aus dem Spunden trank, hatte den unglücklichen Ausgang mancher Fehden zur Folge, deren wirtschaftliche Schäden seit der Anwendung des Schießpulvers sich überdies bedeutend vergrößert hatten, wie z.B. einem Überfall die halbe Brückenvorstadt zum Opfer fiel. Zudem war Gerlach II. ein Dichter, also unfähig zu wirtschaften. Und so erleben wir denn das klägliche Schauspiel, wie er, in beständiger Geldverlegenheit, Korngülten und Judengeld, Münze, Mühlen- und Marktzoll, alle seine Regalien nacheinander gegen Darlehen und Bürgschaften verpfändet, Turm und Tor, Mauer und Graben seiner Residenz versetzt, sich in Abhängigkeit bringt von Zünften, wohlhabenden Juden, der ganzen Bürgerschaft, bis er zuletzt sogar seine Herrschaft, Burg und Stadt Limburg, für 28 000 alte kleine Florentiner Gulden zur Hälfte dem Erzbischof von Trier verpfändete, der nach dem Aussterben des Hauses im Mannesstamm schließlich die ganze Herrschaft Limburg an sich zog.

Der Reichtum und die Macht, die der Adel innegehabt, gingen zwar auf das Bürgertum über. Alles wurde demokratisiert. Die Stadt hatte sich als Preis ihrer Zustimmung zu jenen Verpfändungen eine Vertretung der Bürgerschaft aus zwölf Räten mit zwei Bürgermeistern neben den bisherigen zwölf Schöffen errungen. Sie hatte das Recht erlangt, von jedem Frachtwagen, der die Brücke passierte, einen großen Turnos als Zoll zu erheben. Sie genoß Zollfreiheit im Verkehr mit Frankfurt, Köln, Mainz und den Städten der Wetterau sowie das Privilegium, daß ihre Bürger weder vor einem andern Gericht als dem Schultheißen von Frankfurt verklagt noch wegen der Schulden des Dynasten gepfändet werden durften. Die Ritter mußten sich gegen die Übermacht des Bürgertums zu Innungen zusammenschließen, deren Spottnamen – die Bengeler, die Spieler, die Narren, die Heufresser, für die Limburger Rittergesellschaft »die Pfaffen« – bezeichnend genug sind. Den höchsten Sieg aber feierte die städtische Selbstherrlichkeit in jener denkwürdigen Gerichtssitzung auf dem lindenbepflanzten Platze vor der Dechanei, in der der Schöffe Johann Voppe aufstand – »gar herrlichen« – und sich gegenüber den geistlichen und weltlichen Fürsten, die erschienen waren, darauf berief, daß über einen Limburger Bürger immer zuerst der Schöffenstuhl zu Limburg zu richten habe und ohne dessen Genehmigung kein Limburger von den Herren oder dem Amtmann verhaftet werden dürfte – also daß die Fürsten mit ihrem ritterlichen Gefolge aufstanden und sich »der großen vursichtigkeit« wunderten.

Allein, der Feudalismus blieb; nur daß an die Stelle der Ritter jetzt die Patrizier traten. Wie immer, wenn neue Gesellschaftsschichten emporkommen, suchte man den Ritterstand an Üppigkeit und Luxus womöglich noch zu überbieten. Die Kleiderstoffe wurden grellfarbig; man ging mit flatternden, bis zur Erde herabfallenden Überärmeln, mit federgeschmückten Gugeln, mit Schellchen an den Schwänzchen des Hermelins und an den Spitzen der Schnabelschuhe; die Frauen zeigten sich bei öffentlichen Gelegenheiten in einer nach unsern Begriffen wenig züchtigen Tracht. Unmäßigkeit, Trunksucht und Laster nahmen überhand, die der Chronist nur in lateinischer Sprache zu erzählen wagt. Die Zünfte verloren sich in engherzige Bestimmungen, die den Zuzug neuer Kräfte verhinderten, die Gesellenfreiheiten unterdrückten und ein bedrohlich anschwellendes Proletariat großzogen. Derselbe zunftgerechte Krämergeist führte in der Poesie an Stelle des Schwungs und der Phantasie Lebhaftigkeit und Regelzwang ein: die Öde des Meistergesanges. Von einer Erweiterung des geistigen Horizonts über die Grenzen der Theologie hinaus konnte keine Rede sein. Trotzdem war der Quell der wahren Religiosität so sehr versiegt, daß die Stimme der wieder und wieder warnenden Bußprediger in dem Festlärm verhallte, in den das oberflächliche Geschlecht sich stürzte, um sich selbst, der innern Langeweile und der Mahnung des Gewissens zu entfliehen.

Und wieder ertönte die schwarze Glocke ... Aus den Sümpfen und Unratstätten Ägyptens kam mit schwarzen Flügeln und langem Drachenhalse, den Reiter Tod auf ihrem Rucken tragend, die Pest über Europa geflogen, an der Spitze eines Zuges von Raben und Aasvögeln, deren Schwärme den Himmel verfinsterten. Den Hals tief herabgebogen in die Gassen, flog sie über die Städte und hauchte in Türen und Fenster das Gift. Dreimal strich sie über Europa, und dreimal tauchte sie ihren Hals in die Brunnen und engen Gassen der unglücklichen Lahnstadt, deren Mauern und Dächer und Domtürme schwarz waren von Krähen und Raben. Denn wo ihr Rachen hinhauchte, da lagen die Straßen voll Leichen, und die Säuglinge krochen darüber und sogen sich aus den Brüsten der Mutter den Tod. Man floh entsetzt ins Weite, aber die Bauern, denen die ersten Flüchtlinge die Pest in die Gehöfte getragen, steinigten jede fremde Seele, der sie begegneten. Wer verdächtig aussah, wurde von Haus und Herd geholt, um draußen in den Siechenbaracken zu verschwinden. Viele entflohen und versteckten sich in Gräben und Sielen, jeden tötend, der nahekam. Man schüttete auf dem Massengrab, in dem man die Leichen begrub, einen ganzen Berg auf, der noch lange der Pestberg hieß, um den Seuchenherd zu ersticken. Aber es half nichts. Man verteilte Wacholder und Essig; ließ Scheiterhaufen von Fichtenholz rauchen, um die Luft von dem furchtbaren Gerüche zu reinigen. Aber das Geläute der schwarzen Glocke hörte nicht auf. Man strömte in die Kirchen, die man auch nachts nicht verließ; und der erleuchtete Dom mit dem Spiegelbild seiner blutroten Fenster im Wasser verkündete im Dunkel fernhin den Jammer der Stadt. Wallfahrten und Bußgänge und Pilgerzüge nach Rom wurden unternommen; Fasten wurden befohlen; die Reliquien wurden jeden Tag auf den Altären ausgestellt. Und da alles nichts half, ergriff die Pest auch die Seelen. Man lästerte den Himmel, warf die Kruzifixe ins Wasser, ließ die Leichen in den Häusern verfaulen, ergab sich wüstem Sinnestaumel und lebte in wilder Zuchtlosigkeit dem Heute, dem kein Morgen mehr folgen mochte.

Da erschienen in langer Prozession mit schwarzen Holzkreuzen und Bannern, auf denen Feuer- und Schwefelregen niedergingen, die Flagellanten, rote Kreuze auf den finstern Kapuzen, die das Gesicht bis auf die Augenlöcher verhüllten, geführt von Kerzenträgern und Vorsängern, in deren traurige Weise der Zug der Vermummten einfiel. Und in ihren Händen trugen sie Geißeln. Und als sie in den Dom eingezogen waren und der Vorsänger das Miserere anstimmte

Nu recket uf die uwer hende,
Daz Got daz große sterben wende;
Nu recket uf die uwer arme,
Daz sich Got ober uns irbarme!

– da entblößten sie sich bis zum Gürtel und schwangen, auf den Knien liegend, die gestachelten Riemen über den Rücken, Schlag auf Schlag, in wahnwitzigem Hatz gegen den verruchten Körper, bis sie Schaum vor dem Munde, in einem Rausche von Selbsterniedrigung, mit schwarzen Ringen um die Augen, in Krämpfen zuckten und das Blut an den Fersen herunterlief. Und indem sie sich mit der Wollust der Selbstvernichtung des Mords, des Meineids, der Hoffart und jeder Ehrlosigkeit bezichtigten, versetzten sie das arme Hirn der leicht umgelenkten Massen in einen solchen Zustand von Reue, hündischer Selbstanklage und Märtyrersehnsucht, daß Ritter, Bürger und Bauern weinend in das Geheul der Bußlitaneien einstimmten und selbst Frauen und Kinder fanatisiert ihren Leib marterten. Zweimal am Tage wand man sich blutüberrieselt unter der furchtbaren Zuchtrute und schloß diesen »Gottesdienst« damit, daß man einen von einem Engel vom Himmel herniedergebrachten Brief Christi verlas, wonach Gott aus Zorn über die Sünden der Christenheit den Schwarzen Tod sandte und nur auf Fürbitte Marias nicht bis zur völligen Vernichtung schritt.

Aber das Sterben hörte trotz der Verkündigung und trotz aller Peitschenhiebe nicht auf, und das Volk, am Ende seines Vertrauens und müde der Almosenlast, welche die Geißelfahrer ihm aufbürdeten, drohte wieder von der Bewegung abzufallen. Schon hatte sich zu allen andern Übeln als Folge der schauerlichen Erregungszustände Epilepsie eingestellt. Die Tanzwut kam hinzu, bei der die Besessenen in religiösem Wahnsinn wie Derwische tanzten, bis sie mit geiferndem Munde und unförmlich aufgetriebenem Leibe unter Zuckungen zusammenbrachen, eine Erscheinung, die ebenso wie die Geißelzüge das Laster sich zunutze machte, um unter dem Deckmantel der Krankheit und der Frömmigkeit Greuel zu verüben. Auch Geistlichkeit und Obrigkeit drohten jetzt einzugreifen. Da wandten die Geißler ein teuflisches Mittel an, um ihre Popularität wiederherzustellen. Sie verbreiteten das Märchen, die Juden – in deren Reihen sich viele Ärzte befanden – hätten Flüsse und Brunnen verpestet mit einem Gift, das aus Christenherzen, Hostienteig, Basiliskenfleisch und Kröten bereitet sei. Dies war die Losung, um sich gleich wilden Bestien auf die Juden zu stürzen, sie zu verbrennen, mit Heugabeln, Dreschflegeln und Äxten zu erschlagen oder so lange zu foltern, bis sie in den Delirien des Schmerzes Giftmischerei und alles zugestanden, was man wollte. Nur diejenigen blieben verschont, die zum Kreuze griffen oder es vorzogen, sich lieber mit Weib und Kind dem Feuer zu überliefern als jenen Händen. Wenn auch im Grunde ihr bares Geld die Vergiftung war, wegen der sie getötet wurden (wie ein Chronist aus jener Zeit sagt), so spielte der religiöse Fanatismus doch ebenso dabei eine Rolle, wie bei der Judenschlacht, die der nassauische Bauer Armleder einige Jahre vorher, um die Marter und Wunden Christi zu vergelten, ins Werk gesetzt hatte.

Freilich – auch jene entsetzliche Seuche war wie jedes Unglück verschuldet, wenngleich das Zeitalter in der Erkenntnis der Ursachen und der Mittel ihrer Bekämpfung irrte. Man wußte nichts von Hygiene. Die Straßen waren so eng, daß den Planwagen, die durch die Fahrgasse von Limburg fuhren, ein Ausscheller vorangehen mußte, der die Bäcker veranlaßte, ihre Fensterauslagen hereinzunehmen. In vielen »Ahlen« stießen die vorgekragten Giebel zusammen. Nirgend zeigten sich Vorboten des folgenden Jahrhunderts, von dem Äneas Sylvius meint, kein Volk Europas habe reinlichere und luftigere Straßen als die Deutschen, und ein schottischer König würde wünschen, so zu wohnen, wie ein mittelmäßiger Bürger einer deutschen Stadt. Vielmehr starrten die krummen, winkligen Straßen mit ihren Sackgassen, Höfen und Durchgängen von Unsauberkeit. Das Volksbuch von Till Eulenspiegel läßt uns erkennen, wie es darin ausgesehen haben mochte. Hunde, die die eitrigen Lappen eines Hautkranken berochen, wälzten sich dort mit Kindern auf der Straße. Die Schornsteine fehlten oder waren so mangelhaft, daß alles verrußte und verräucherte. In dem Unrat, den Düngerhaufen und städtischen Abfällen, für deren Abfuhr nichts geschah, wühlten die Schweineherden. Die Abwässer, von keinem Kanal aufgenommen, standen verschlammt in allen Vertiefungen der unebenen Wege, eine Brutstätte von Larven und Gewürm. Die Toten wurden innerhalb der Stadt, im Hof der Pfarrkirche begraben, und da die alten Gräber immer wieder benutzt werden mußten, so deckte man eine Leiche mit den Überresten der andern zu, soweit die aufgelesenen Knochen nicht im Beinhaus zur Schädelburg aufgeschüttet wurden. Die ekle Lauge des fauligen Gerinnsels der ganzen Stadt sickerte in das Grundwasser und vergiftete – freilich in andrer Weise als der finstere Volksglaube annahm – tatsächlich die Brunnen. Weder in das dunkle, feuchte, übelriechende Gäßchengewirr, in dem die Katzen schlichen, noch in die kleinen fensterarmen Holz- und Lehmhütten, die mehr Höhlen oder Ställe als Häuser waren, drang ein Strahl des keimetötenden heilkräftigen Sonnenlichtes. Unmäßigkeit, Schlemmerei, Schmutz und ein unerhörter Tiefftand der gänzlich vom Aberglauben beherrschten Medizin kamen hinzu – und es starben während eines Vierteljahrs in Limburg zweitausendvierhundert Menschen, außer den Kindern. Und die Straßen, an denen der Würgengel diesmal vorübergegangen, zeichnete er bei dem zweiten Sterben, und wo er bei dem zweiten vorübergegangen, da kehrte er bei der dritten Seuche ein, bis der letzte Schlag der schwarzen Glocke endlich ausschwang, verschwebend wie summende Luft, und der Friede des Todes lag über der verstummten Stadt.

Ihr Glanz war dahin. Es läßt sich ermessen, welche Lücken jene Sterblichkeitsziffern in ein Gemeinwesen rissen, das zur Zeit seiner höchsten Blüte zweitausend Ritter und Bürger unter Waffen aussenden konnte und achttausend Menschen zählte, die zu Ostern das Abendmahl empfingen. Allenthalben sah man auf Tod und Ruinen. Verlassene Häuser, die niemand wieder aufbaute, schwarz ausgeschlagene Kirchen, brachliegende Felder, greisenhaarige Armut, gebrochene Männer, bleichwangige Witwen, Kinder mit ernsten Augen, die nicht lange leben, Verwachsene – denn niemals hatten die Frauen so viel mißgestaltete Wesen zur Welt gebracht wie in diesen schreckensvollen Jahren. Überall ragte Golgatha, die Schädelstätte, und predigte, daß die Welt nur ein Kerker sei, das Leben ein Abel; daß man einzig danach streben müsse, die Befreiung daraus zu verdienen, und jederzeit gerüstet sei, vor den Richterstuhl des Höchsten zu treten, der das furchtbare Strafgericht verhängt. Man suchte die Erlösung durch den Glauben und unterwarf sich in Demut der Leitung der Kirche. Alles verkirchlichte sich. Die Kirche regelte die Sitten; die Kirche übernahm die Wohlfahrtspflege; sie unterwies in praktischen Dingen und belehrte in geistigen. Es wurden neue Brunnen angelegt; das Heilige-Geist-Hospital wurde durch die reiche Stiftung des Limburger Bürgers Werner Senger zu einem der großartigsten Krankenhäuser ausgestaltet. Kruzifixe mit ewigen Lampen wurden an den Straßenbiegungen aufgestellt. Heiligenfiguren belebten die Ecken, Nischen und Thüreingänge der Häuser, wie sie noch allenthalben in Limburg zu finden sind, Heiligenhäuschen, Bildstöcke, Marienbilder bewachten das Feld. Man stiftete Laternen zur nächtlichen Beleuchtung gefährlicher Wege und das Stundenläuten für verirrte Wanderer. Die Wilhelmiten, die ihr Kloster wegen der häufigen Überschwemmungen von der Lahninsel vor das Diezer Tor verlegt hatten, bauten die St.-Anna-Kirche; die Barfüßerkirche erstand in ihrer jetzigen Gestalt; die Zisterzienser von Eberbach gründeten sich ein Bruderhaus und jene Kapelle, die später nacheinander als Salzmagazin, als evangelisches Bethaus und als Synagoge gedient hatte. Die Kalandsbrüder, die bei der Pest den Verschmachtenden beigestanden, siedelten sich an, und lange noch wohnte auf der weidenbewaldeten Arnoldschen Insel im Schatten des Domfelsens Bruder Siechenhorst, dessen Lied und Geigenspiel die Kraft hatte, unheilbare Kranke zu trösten und das Auge der Sterbenden noch einmal zu verklären: das Volkslied erklang in seiner schmerzvollen Innigkeit.

s. Bildunterschrift

Das Verlangen nach dem Jenseits kehrte die tränengeröteten Augen des Zeitalters glühend nach oben und riß die Entwicklung aller Lebensformen mit hinauf, so hoch, daß das Leben gleichsam nicht mitkonnte – eine Vorstellung, die sich beim Anblick der vielen unvollendeten gotischen Kathedralen unwillkürlich unsrer bemächtigt. Wer in den Formen den ewigen Gehalt sucht, wird empfinden, daß Seelen solcher Art sich in einfachen gewöhnlichen Bauformen nicht ausleben können. Sie bedürfen wundersamer, überschwenglicher Eindrücke. So schlank wie die magern Gestalten in ihren enganliegenden Gewändern werden die Säulen. Schmal schauen die Wände auf. Der Rundbogen streckt sich und streckt sich zum steilen Scheitel zweier sich schneidenden Biegungen. Die Mauern werden so leicht, daß sie von einem Wald von schlanken Strebepfeilern als Widerlagern umstellt werden müssen. Die ruhevolle Breite der Horizontallinie ist geschwunden. Führer und Hauptausdruck des Baues ist der Turm, nach dessen Vorbild die ganze Kirche stilisiert wird – anders als bei den Italienern, die den Turm unorganisch als Kampanile neben die Kirche stellen, weil er nicht aus dem Geist geboren ward, jenem Geiste, der die Kirche zu einem Gerüst von lauter aufwärtsstrebenden, nach Entwicklung und Auflösung drängenden Kräften macht, als wäre sie die in Stein verzauberte Seele der Zeit, wie diese auch im Innern erfüllt von unbestimmtem Zwielicht. Denn der klare Tag darf nicht hereindringen. Obwohl die Fenster die ganze verfügbare Wandfläche einnehmen, webt er, durch gemalte Scheiben verwandelt, aus blutendem Purpur und geheimnisvoll glutenden Feuern die farbige Dämmerung, in der sich die Mystik der Zeit, noch genährt von der deutschen Mondscheinsehnsucht, in ihrem Elemente befand.


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