Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Erinnerungen an Beyle-Stendhal von Prosper Mérimée.Vorwort zu Stendhals »Correspondance inédite« (1854).

Ich lernte Beyle um 1820 kennen.Vielmehr im Sommer 1822. Seitdem blieben unsere Beziehungen trotz des Altersunterschiedes bis zu seinem Tode stets eng und ununterbrochen. Wenige Menschen haben mir besser gefallen; die Freundschaft keines Menschen ist mir wertvoller gewesen. Von einigen literarischen Zu- und Abneigungen abgesehen, hatten wir keinen Gedanken gemein; über wenige Dinge waren wir uns einig. Wir verbrachten unsere Zeit damit, uns unsere Ansichten in vollster Ehrlichkeit streitig zu machen, indem jeder beim andern Starrsinn und Paradoxie annahm; im übrigen blieben wir gute Freunde und nahmen unsere Diskussionen stets mit großem Vergnügen wieder auf. Eine Zeitlang hatte ich ihn im Verdacht, nach Originalität zu haschen. Schließlich hielt ich ihn für völlig ehrlich. Wenn ich mir heute all meine Erinnerungen wieder wachrufe, bin ich überzeugt, daß seine Wunderlichkeiten sehr natürlich und seine Paradoxien das gewöhnliche Ergebnis der Übertreibung waren, zu der uns der Widerspruch unmerklich verleitet. Beyles Schroffheiten waren nach meiner Meinung nur der übertriebene Ausdruck seiner innersten Überzeugung.

Ich habe nie ergründet, woher seine Meinungen über einen Gegenstand kamen, in dem er sich leider im Gegensatz zu fast aller Welt befand. Was ich von seiner ersten Jugend erfuhr, beschränkt sich lediglich auf die Tatsache, daß er als Knabe einem alten, grämlichen Geistlichen anvertraut worden war, dessen Zucht ihm einen nie erloschenen Groll hinterlassen hat. In der Tat lehnte Beyle sich gegen jeglichen Zwang auf, selbst gegen jede Autorität. Man konnte ihn überreden, und zwar leicht, wenn man ihm dabei nur Spaß machte, aber ihm eine Meinung aufzunötigen, war ausgeschlossen, denn wer sich ihm gegenüber den Anschein der Überlegenheit gab, verletzte ihn tief. Noch nach vierzig Jahren erzählte er voller Bitterkeit, wie er sich beim Spielen einen neuen Anzug zerrissen hatte und der Abbé, sein Erzieher, ihn vor seinen Gefährten heftig ausschalt, er sei »eine Schande für die Religion und für die Familie«. Das ist eine jene Übertreibungen, von denen ich oben sprach. Als Beyle diese Geschichte erzählte, lachten wir; er aber sah darin nur pfäffische Tyrannei und schreiende Ungerechtigkeit, über die es nichts zu lachen gäbe, und er empfand die seiner jungen Eigenliebe geschlagene Wunde noch so lebhaft wie am ersten Tage.

»Unsere Eltern und Lehrer«, lautete einer seiner Aphorismen, »sind unsere natürlichen Feinde bei den ersten Schritten ins Leben.« Man kann sich also denken, daß er seine Glaubenssätze nicht von seinen Lehrern empfangen hat. Oft zitierte er Helvetius mit hoher Bewunderung und nötigte mich sogar, dessen Buch »Über den Geist« zu lesen, aber nie gab er meiner Bitte nach, es noch einmal zu lesen. Ich glaube, er hat ihm unter anderen Ansichten auch die von der Gleichheit des menschlichen Denkens entlehnt. Wenigstens ließ er sich nicht überzeugen, daß etwas, das ihm als falsch erschien, einem andern als richtig erscheinen könne. Er bildete sich, glaube ich, in voller Ehrlichkeit ein, daß im Grunde jeder seine Ideen teilte, aber aus Selbstsucht, aus Dünkel, Mode oder Eigensinn eine andere Sprache führte. Er war höchst gottlos, ein schroffer Materialist, oder besser ein persönlicher Feind der Vorsehung, vielleicht infolge des oben zitierten Aphorismus. Er leugnete Gott und grollte ihm gleichwohl wie einem Schulmeister. Nie hielt er einen Frommen für aufrichtig. Ich glaube, sein langer Aufenthalt in Italien hat nicht wenig dazu beigetragen, seinem Geiste das irreligiöse, aggressive Gepräge zu geben, das in allen seinen Schriften zum Ausdruck kommt und ihm so heftige Vorwürfe eingebracht hat.

Sainte-Beuve hat mit seinem gewohnten Scharfsinn einen der auffälligsten Charakterzüge Beyles hervorgehoben: die Besorgnis, zum besten gehalten zu werden, und das beständige Bestreben, sich vor diesem Mißgeschick zu schützen. Daher die künstliche Verhärtung, die trostlose Analyse der niedrigen Beweggründe aller hochherzigen Handlungen, der Widerstand gegen die ersten Herzensregungen, der bei ihm nach meiner Ansicht viel mehr zur Schau getragen als tatsächlich war. Seine Abneigung und Verachtung vor falscher Empfindsamkeit ließen ihn oft in die gegenteilige Übertreibung fallen, zum großen Ärgernis aller, die ihn nicht näher kannten und seine Äußerungen über sich selbst buchstäblich nahmen. Er legte nicht nur keinerlei Wert darauf, die mehr oder minder boshaften Ausdeutungen seiner Worte oder Schriften richtigzustellen, sondern er fand auch noch ein boshaftes Vergnügen, wohl der Eitelkeit, darin, in den Augen der Leute als Ungeheuer an Immoral dazustehen. In irgendeiner seiner VorredenS. Band 4 dieser Ausgabe, S. 10. sagte er: »Ich schreibe nur für zwanzig Leser, die ich nie gesehen habe, aber die mich hoffentlich verstehen.« Für ihn gab es auf der Welt nur zweierlei Menschen: solche, mit denen er sich gut unterhielt, und solche, bei denen er sich langweilte. Das geringste Opfer zu bringen, sich irgendwie zu bemühen, um die Achtung oder Zuneigung der letzteren zu gewinnen, das hieß ihm, sich Fesseln anlegen, die ihm unerträglich waren. Beyles unabhängiger oder, wenn man will, unsteter Geist widersetzte sich jedem Zwange. Alles, was seine Freiheit beschränkte, war ihm verhaßt; ich weiß nicht mal recht, ob er einen deutlichen Unterschied zwischen einem langweiligen und einem schlechten Menschen machte. Seine beständige Wißbegier nach allen Geheimnissen des Menschenherzens zog ihn bisweilen sogar zu Leuten hin, die er geringschätzte. »Aber wenigstens«, sagte er, »kann man bei ihnen etwas lernen.« Übrigens entfremdete ihn sein stolzer, rechtschaffener, keiner Niedrigkeit fähiger Geist einer solchen Gesellschaft, sobald irgendein anderer Vorteil als die Befriedigung einer Neugier damit verbunden war.

Seine Urteile über Menschen und Dinge waren zumeist durch die Erinnerung an die Langeweile oder das Vergnügen diktiert, die er bei ihnen gefunden hatte. Langeweile konnte er nicht vertragen. Er teilte die Ansicht der Ärzte, die dem Herzog von Lauraguais rieten, einen langweiligen Menschen wegen Mordversuchs strafrechtlich zu verfolgen. Es gab keine Übertreibung, die seine schlechte Laune ihn nicht gegen Bücher oder Menschen eingeflüstert hätte, die das Unglück hatten, ihn zum Gähnen zu bringen. Obwohl Beyle ein Phantasiemensch war und der ersten Regung nachgab, erhob er nichts destoweniger große Ansprüche darauf, alles reiflich zu überlegen und sich in allem nach den Regeln der Logik zu benehmen. Dies Wort kehrte in seinen Gesprächen oft wieder; seine Freunde entsinnen sich der besonderen Feierlichkeit, mit der er es langsam und in zwei getrennten Silben aussprach: die Lo–gik. Stets sollte die Logik uns bei all unserm Handeln leiten, aber die seine war nicht jedermanns Logik, und man hatte bisweilen Mühe, den Faden seiner Gedankengänge zu erraten.

Er pflegte zu sagen, ein Mann müsse beim Eintritt ins Leben seinen fertigen Vorrat an Grundsätzen für die gewöhnlichsten Zufälle mitbringen. Sobald man sie einmal gewonnen habe, solle man sie nicht mehr in Frage stellen. Es genüge, rasch zu prüfen, ob der besondere Fall, der einen in Verlegenheit setzt, sich durch eine der allgemeinen Vorschriften aus diesem Vorrat lösen lasse. Niemals eine Lüge verzeihen – Die erste Gelegenheit zu einem Duell beim ersten Auftreten in der Gesellschaft beim Schopfe fassen – Nie eine begangene oder ausgesprochene Torheit bereuen–so lauteten einige seiner Grundsätze.

Obwohl er den Frauen gegenüber nie sehr dreist war, predigte er den jungen Leuten doch größte Dreistigkeit. »Einmal von zehnen hat man Erfolg«, pflegte er zu sagen. »Selbst bei einmal von zwanzig ist die Aussicht, Glück zu haben, doch wohl der Mühe wert, sich neunzehn Kränkungen auszusetzen, ja sich neunzehnmal lächerlich zu machen.« Nach den Grundsätzen kamen die Lebensregeln, die er als untrüglich empfahl. Einige sind mir noch in Erinnerung. Ein großer Anlaß zu Unglück ist unsere falsche Scham. Einen Salon zu betreten, ist für einen jungen Mann eine große Sache. Er wähnt, alles blickte ihn an, und er kommt vor Angst um, daß irgend etwas in seinem Benehmen nicht ganz tadellos sei. Einer unserer Freunde litt an dieser Schüchternheit besonders. Beyle sagte von ihm, wenn er den Salon der Frau P. betrat, man glaube stets, er habe im Vorzimmer ein Stück Porzellan zerschlagen. »Ich rate Ihnen mein früheres Rezept an«, sagte er zu ihm. »Treten Sie in der Haltung ein, die Sie zufällig auf der Treppe hatten, einerlei, ob sie angemessen ist oder nicht. Seien Sie wie die Statue des Komturs, und ändern Sie Ihre Haltung erst, wenn die Erregung des Eintretens völlig verschwunden ist.«

Sein Rezept für das erste Duell lautete: »Während der Gegner auf Sie anschlägt, blicken Sie einen Baum an und zwingen Sie sich, dessen Blatter zu zählen. Jede Beschäftigung lenkt von einer anderen, ernsteren ab. Wenn Sie auf Ihren Gegner anschlagen, sagen Sie sich zwei lateinische Verse auf; dann werden Sie nicht zu früh schießen, und die Erregung, infolge der man so oft zwanzig Schritte zu weit schießt, auf 5 v. H. herabgesetzt.«

»Sind Sie mit einer Frau allein, so gebe ich Ihnen fünf Minuten Zeit zu der fabelhaften Anstrengung, ihr zu sagen: ›Ich liebe Sie.‹ Sagen Sie sich: ›Wenn ich ihr das binnen fünf Minuten nicht gesagt habe, bin ich ein Feigling.‹ Einerlei, mit welcher Miene und in welchen Ausdrücken Sie Ihre Erklärung machen. Es genügt, daß das Eis gebrochen wird und daß Sie fest entschlossen sind, sich selbst zu verachten, wenn Sie es an Mut fehlen lassen.«

Beyle predigte zwar die »Liebe aus Neigung«,Sonst auch von ihm als »Liebe aus Galanterie« bezeichnet. S. die Einteilung der Liebe in vier verschiedene Arten in seinem Buch »Über die Liebe« (Band 4 dieser Ausgabe, Kap. 1). war aber zur »Liebe aus Leidenschaft« wohl befähigt. Den Namen einer bestimmten Dame konnte er nicht aussprechen, ohne daß sein Tonfall sich änderte. Im Jahre 1836 sah ich ihn nach langer Trennung wieder. Wir hatten uns dreißig Wegstunden von Paris ein Stelldichein gegeben, da wir uns tausenderlei zu sagen hatten. Wir plauderten bis spät abends, während wir auf der öffentlichen Promenade eines Städtchens, d.h. an einem der menschenleersten Orte in Frankreich, auf und ab gingen. Dort erzählte er mir mit tiefer Erregung von seinen Liebschaften. Es war das einzige Mal, daß ich ihn weinen sah. Eine weit zurückreichende NeigungJedenfalls zur Gräfin Clementine Curial. Vgl. A. Cordier, »Comment a vécu Stendhal«. Paris (1900), S. 147. wurde nicht mehr geteilt. Seine Geliebte war vernünftig geworden, er aber war toll geblieben wie ein Zwanzigjähriger. »Wie können Sie mich noch lieben?« hatte sie gesagt. »Ich bin fünfundvierzig Jahre alt.« – »Für mich«, sagte Beyle, »ist sie so alt wie damals, als sie sich mir das erstemal hingab.« Für eine nahe Zukunft sah er den Bruch eines Verhältnisses voraus, das ihm stets teuer gewesen war.Mit Madame Jules Gaulthier. Vgl. ebd. 153. Ein Gedanke, der für ihn alles andre beherrschte, sollte erlöschen. Er erzählte mir die Verwegenheiten dieser damals so verständig gewordenen Dame, und diese Erinnerungen brachten ihn außer sich. Dann begann er mit der Beobachtungsgabe, die ihn nie verließ, alle kleinen Anzeichen der beginnenden Gleichgültigkeit zu zergliedern, die er bemerkt haben mußte.

Die Lo–gik war nicht vergessen. »Alles in allem«, sagte er, »ist ihr Benehmen verständig. Sie liebte das Whistspiel; jetzt liebt sie es nicht mehr. Um so schlimmer für mich, wenn ich es noch liebe. Sie stammt aus einem Lande, wo die Lächerlichkeit das allergrößte Unglück ist. Zu lieben ist in ihrem Alter lächerlich. Seit anderthalb Jahren trotzt sie diesem Unglück um meinetwillen. Das sind für mich anderthalb Jahre geraubten Glücks.«

Lange stritten wir uns über die Wahrheit von Dantes Versen:

... Nessun maggior dolor Che ricordarsi del tempo felice Nella miseria.Kein größres Leid, Als sich der Zeit des Glückes Im Unglück zu erinnern.

Er behauptete, daß Dante unrecht hätte und daß die Erinnerungen an glückliche Zeiten stets und überall glücklich seien. Heute scheint es mir, daß Beyle recht hatte.

In Italien hatte er eine andre LiebeAngela Pietragrua. gehabt, von der er sonst nie sprach. Trotzdem erzählte er mir selbst das tragische Ende dieser Liebe. Die Dame hatte angeblich einen sehr eifersüchtigen Gatten, der sie zu großer Vorsicht nötigte. Die Liebenden konnten sich nur selten und nur im tiefsten Geheimnis sehen. Um jeden Verdacht abzuwenden, verbarg sich Beyle in einem Städtchen,Barese. das zehn Wegstunden vom Wohnsitz seiner Schönen entfernt lag. Wurde ihm ein Stelldichein gewährt, so reiste er inkognito ab und wechselte mehrmals den Wagen, um die Spione irrezuführen, von denen er sich umgeben wähnte. Schließlich kam er bei sinkender Nacht an, in einem Mantel von der Farbe der Mauern gehüllt, und wurde durch eine Zofe, deren Treue erprobt war, in das Haus seiner Geliebten eingelassen. Eine Zeitlang ging alles gut, bis schließlich die Zofe, die von ihrer Herrin Schelte bekommen hatte oder durch Beyles Geschenke gewonnen war, ihm eine niederschmetternde Offenbarung machte. Der Gatte war gar nicht eifersüchtig, und die Dame verlangte soviel Heimlichkeit nur, damit Beyle nicht mit einem Nebenbuhler, oder besser mit mehreren Nebenbuhlern zusammentraf, denn es handelte sich um mehrere, und die Zofe erbot sich, den Beweis zu liefern. Beyle nahm es an. Eines Tages, als er nicht erwartet ward, kam er nach der Stadt. Er wurde von der Zofe in einem dunklen Kämmerchen versteckt und sah durch eine Öffnung in der Wand mit eignen Augen den Verrat, der drei Schritte weit von seinem Versteck begangen wurde.

»Sie glauben vielleicht«, sagte Beyle, »ich wäre hinausgestürzt, um beide zu erdolchen? Durchaus nicht! Mir war, als wohnte ich einer Possenszene bei, und ich tat weiter nichts, als mein Lachen zu bezwingen, um das Geheimnis zu wahren. Ich verließ das finstere Kämmerchen ebenso unmittelbar, wie ich es betreten hatte, und dachte nur an die Lächerlichkeit dieses Abenteuers. Ich lachte ganz allein darüber und war übrigens voller Verachtung für die Dame und alles in allem sehr froh, auf diese Weise meine Freiheit wieder zu haben. Ich aß Eis und traf Bekannte, denen meine heitere und etwas zerstreute Miene auffiel. Sie sagten zu mir, ich sähe aus wie einer, dem ein großes Glück widerfahren sei. Während ich mit ihnen plauderte und mein Eis aß, bekam ich unbezwingliche Lachanfälle, und die vor einer Stunde gesehenen Marionetten tanzten vor meinen Augen. Ich ging nach Hause und schlief wie gewöhnlich. Am nächsten Tage erschien mir das, was ich in dem dunklen Stübchen gesehen, nicht mehr urkomisch, sondern häßlich, traurig und abstoßend. Jeder Tag vermehrte die Last meines Unglücks. Anderthalb Jahre lang blieb ich stumpf, zu jeder Arbeit unfähig, außerstande, zu schreiben, zu reden, zu denken. Ich fühlte mich von einem unerträglichen Leiden bedrückt, ohne mir recht sagen zu können, was mir fehlte. Ein größeres Unglück gibt es nicht, denn es lähmt jede Tatkraft. Nachdem ich von diesem Zustand niederdrückender Schwäche etwas genesen war, spürte ich eine seltsame Wißbegier nach allen Verrätereien, die sie an mir begangen hatte. Das war für mich eine furchtbare Pein, aber es bereitete mir doch ein gewisses körperliches Vergnügen, sie mir bei all ihren zahlreichen Verrätereien vorzustellen. Ich habe mich gerächt, aber dumm, durch Verhöhnung. Sie war über unsern Bruch betrübt und bat mich unter Tränen um Verzeihung. Ich besaß den lächerlichen Stolz, sie verächtlich abzuweisen. Mir ist, als sähe ich sie mir noch nachfolgen, wie sie sich an meinen Rock klammerte und sich auf den Knien durch einen langen Gang hinter mir herschleppte. Ich war ein Tor, ihr nicht zu verzeihen, denn gewiß hat sie mich nie so geliebt wie an jenem Tage.«

Beyles dauernde Beschäftigung war das Studium der Leidenschaften. Fragte ein Provinzler ihn nach seinem Berufe, so antwortete er ernst: »Beobachter des Menschenherzens«. Eines Tages gab er diese Antwort einem Tropf, der fast auf den Rücken fiel, denn er wähnte, das sei ein besserer Ausdruck für Polizeispion. Bei jeder Anekdote, die Licht in irgendeine Falte des Menschenherzens werfen konnte, behielt er stets den bezeichnenden Zug, das Wort oder die Handlung, durch die sich die Leidenschaft offenbarte. In der eben erzählten Geschichte war dieser Zug das Sich-auf-den-Knien-Hinschleppen, und nach seiner Gewohnheit, aus besonderen Tatsachen allgemeine Schlüsse zu ziehen, war dies Benehmen für ihn der Ausdruck der Reue und der leidenschaftlichen Liebe.

Um das Kapitel über die Liebe abzuschließen, glaubte Beyle, daß es auf Erden kein anderes Glück geben könne als das der Liebe. »Alles erscheint in rosigen Farben«, sagte er. »Ich möchte in Fräulein Flore vom Varieté-Theater verliebt sein und würde Don Juan nicht beneiden.«

Nächst der Liebe war die Literatur Beyles Lieblingsneigung. Er las gern und schrieb immerfort. Nulla dies sine linea, sagte er oft zu mir, indem er meine Trägheit tadelte. Obwohl seine Werke einige Nachlässigkeiten zeigen, sind sie doch gründlich durchgearbeitet. Alle seine Bücher sind mehrmals neu geschrieben, bevor er sie in Druck gab, aber seine Änderungen bezogen sich nicht auf den Stil. Er schrieb stets rasch, änderte seinen Gedanken, achtete aber sehr wenig auf die Form. Er verachtete den Stil sogar und behauptete, ein Schriftsteller sei vollkommen, wenn man sich seiner Gedanken erinnerte, ohne daß einem der Wortlaut wieder einfiele. Er haßte alles Gesuchte und Anspruchsvolle und war unnachsichtlich gegen die Schriftsteller, die nach überraschenden Wortverbindungen suchen, ihre Perioden feilen und den alltäglichsten Gedanken eine wunderliche auffällige Wendung geben. Dagegen bewunderte er unsere großen Prosaschriftsteller des 17. und 18. Jahrhunderts aufrichtig und warm. Er las sie immer wieder, um sich, wie er sagte, vor der Ansteckung des Zeitstils zu schützen...

Racine mißfiel ihm höchlichst. Unser großer Vorwurf gegen Racine im Jahre 1820 war sein völliger Mangel jeder natürlichen Darstellung oder Lokalfarbe, wie wir es mit unserm Romantikerausdruck nannten. Shakespeare, den wir Racine in dieser Hinsicht stets entgegenstellten, hat zwar noch hundertfach gröbere Fehler begangen, die wir wohlweislich verschwiegen. »Aber Shakespeare«, sagte Beyle, »war ein besserer Kenner des Menschenherzens. Es gibt keine Leidenschaft, kein Gefühl, das er nicht mit wunderbarer Wahrheit bis in die kleinsten Schattierungen geschildert hat. Die Lebendigkeit und unnachahmliche Individualität aller seiner Figuren stellt ihn über alle Dramatiker.« – »Und Molière«, wandten wir ein »welchen Rang weisen Sie dem an?« – »Molière ist ein Schurke, der den ›Höfling‹ nicht auf die Bühne bringen wollte, weil Ludwig XIV. ihn nicht gut fand.«

Beyle hat viel über die schönen Künste geschrieben und eigne Gedanken entwickelt, zu einer Zeit, wo jedermann unbesehen die falschesten Ansichten hinnahm, wenn sie nur von einem berühmten Schriftsteller stammten. Man kann sagen, er hat Rossini und die italienische Musik (für Frankreich) entdeckt. Seine Altersgenossen werden sich der Angriffe entsinnen, die er zu bestehen hatte, weil er den Schöpfer des »Barbiers von Sevilla« und der »Semiramis« gegen die Stammgäste der damaligen komischen Oper in Schutz nahm. In den ersten Jahren der Restaurationszeit war unser Nationalstolz noch durch die Erinnerung an unsere Niederlagen gereizt, und jede Erörterung wurde zur patriotischen Frage. Ausländischer Musik den Vorzug vor der einheimischen zu geben, war fast Vaterlandsverrat. Beyle hatte sich frühzeitig über die Vorurteile des großen Haufens erhoben, und in dieser Hinsicht schoß er bisweilen über das Ziel hinaus. Heute, wo die Kultur so weit fortgeschritten ist, kann man sich kaum noch vorstellen, welcher Mut im Jahre 1818 zu der Behauptung gehörte, daß eine italienische Oper mehr wert sei als eine französische. So kühn und verwegen seine Urteile waren, als er sie aussprach, heute erscheinen sie als Gemeinplätze, als truisms, um einen seiner Lieblingsausdrücke zu gebrauchen.

Ohne Musiker zu sein, besaß Beyle doch ein sehr lebhaftes Melodiegefühl, das er durch eine gewisse Gelehrsamkeit, die er auf seinen Reisen in Italien und Deutschland erworben, ausgebildet und vervollkommnet hatte. Wie mir scheint, liebte und suchte er in der Musik das dramatisch Wirksame, oder besser, wenn er seine persönlichen Eindrücke zergliederte, erklärte er sie in dramatischen Ausdrücken, die ihm geläufig waren und deren Verständnis er bei seinen Lesern voraussetzte.

Ein gleiches traf für die Malkunst zu. Als leidenschaftlicher Bewunderer der großen Meister der römischen, florentiner und lombardischen Schule hat er ihnen oft dramatische Absichten zugeschrieben, die ihnen nach meiner Auffassung fern lagen. Wenn er in einer Jungfrau von Raffael oder Correggio eine Menge von Leidenschaften oder Nuancen der Leidenschaft entdeckt, die die Malerei nicht auszudrücken vermag, so fragt man sich, ob er die Absichten und den Zweck dieser großen Meister recht begriffen hat. Aber er erzählt die Eindrücke, die er von ihren Werken empfangen hat, auf seine besondere Weise; er beschreibt ihre Wirkung, ohne die Ursache erklären zu können. Hätte er seine Eindrücke vor ein und demselben Gemälde zu verschiedenen Zeiten zu Papier gebracht, so wäre er wahrscheinlich selbst überrascht gewesen, wie verschieden sie waren... Das Dramatische in den Künsten wird von den Franzosen am besten verstanden. Darum erklärte Beyle die Schönheit wahrscheinlich aus der Leidenschaft. Trotz seines Anspruchs, Kosmopolit zu sein, war und blieb er doch Franzose im Geist wie im Herzen.

Für die Skulptur hatte er weit weniger Sinn als für die Malerei. Die griechischen Statuen erschienen ihm zu leidenschaftslos; er warf ihnen vor, schöne, geistlose Gestalten darzustellen. Sein Lieblingsbildhauer war Canova, dessen Anmut er bewunderte, obwohl er zugab, daß er etwas manieriert war. Michelangelo rühmte er, glaube ich, mehr, als er ihn im Grunde schätzte. Als er mich vor den Moses am Grabmal Julius' II. führte, wußte er zu seinem Lobe nur zu sagen, man könne den Ausdruck unbeugsamer Wildheit nicht besser wiedergeben.

Von den Koloristen hielt Beyle wenig. Wir hatten lange Diskussionen darüber. Rubens und dessen Schule verachtete er tief. Den Vlamen, ja selbst den Venezianern warf er Gewöhnlichkeit der Formen und des Ausdrucks vor. Correggio verband nach seiner Meinung den Vorzug der Form und der Luftperspektive. Für ihn war er der anmutigste Maler, Michelangelo der dichterisch gewaltigste.

Mit der Baukunst hatte er sich wenig befaßt und die Baudenkmäler nur von ihrer malerischen Seite betrachtet, ohne zu fragen, ob sie ihrem Zweck entsprächen. Alles Häßliche und Traurige war ihm zuwider, und diese beiden Fehler fand er an unserer nordischen Baukunst. Ich glaube, ich mußte ihm erst den Unterschied zwischen einer romanischen und einer gotischen Kirche klarmachen, aber beide verurteilte er gleichermaßen. Unsere finsteren, düsteren Kirchen waren nach seiner Meinung von schurkischen Mönchen erfunden, die sich durch die Einschüchterung der Frommen bereichern wollten. Die italienische Renaissancearchitektur sagte ihm wegen ihrer Eleganz und Gefälligkeit zu. Im übrigen kümmerte er sich nur um anmutige Einzelheiten und durchaus nicht um die Gesamtanlage. Trotz seiner Lo–gik urteilte er nicht mit dem Verstande, sondern mit der Einbildungskraft.

Beyle war kurze Zeit Offizier gewesen und hatte als Auditor mehrere Feldzüge mitgemacht, u. a. den von 1812 nach Rußland im kaiserlichen Hauptquartier. Von Natur tapfer, hatte er den Krieg mit kalter Neugier beobachtet. Ohne unempfänglich für die großen, dramatischen Szenen zu sein, denen er beigewohnt hatte, stellte er den Krieg doch mit Vorliebe in seinen wunderlichen und grotesken Seiten dar. Übrigens waren ihm die Übertreibungen der Nationaleitelkeit zuwider, und so geriet er aus Widerspruchsgeist oft in das gegenteilige Extrem. Wie Courier hat er sich unbarmherzig über den sogenannten Chauvinismus lustig gemacht, der doch auch sein Gutes hat, denn dank ihm kämpft ein Rekrut wie ein alter Soldat.

Er stritt von vornherein alle Ansprachen, alle erhabenen Worte auf dem Schlachtfelde ab. »Wissen Sie, was militärische Beredsamkeit ist?« fragte er uns einmal. »Ein Beispiel dafür. Am dritten Tage des Rückmarsches von Moskau waren wir bei sinkender Nacht, etwa 1500 Mann, vom Gros der Armee durch eine starke russische Abteilung getrennt. Ein Teil der Nacht verging mit Wehklagen. Dann redeten die Energischen auf die Hasenfüße ein, und zwar mit solchem Erfolg, daß beschlossen wurde, sich mit der Waffe durchzuschlagen, sobald es hell genug sei, um den Feind zu erkennen. Glauben Sie aber nicht, man hätte gesagt: ›Tapfere Soldaten‹ usw. Nein: ›Ihr Pack, morgen werdet ihr alle tot sein, denn ihr seid zu be..., um eine Flinte zur Hand zu nehmen und zu kämpfen.‹ Diese heroische Ansprache verfehlte ihre Wirkung nicht. Bei Morgengrauen rückten wir entschlossen auf die Russen los, deren Wachtfeuer wir noch brennen sahen. Mit gefälltem Bajonett kommen wir unbemerkt an und finden nichts als einen toten Hund. Die Russen waren in der Nacht abgerückt.«

Während des Rückzuges hat er nach seiner Angabe nicht zu sehr gehungert, doch konnte er sich durchaus nicht entsinnen, wie, noch was er gegessen hatte, außer einem Stück Talg, das er mit 20 Franken bezahlt hatte und an das er mit Wonne zurückdachte.

Beim Verlassen Moskaus hatte er sich einen in rotes Maroquinleder gebundenen Band »Facetien« einer Voltaire-Ausgabe aus einem brennenden Palast mitgenommen. Seine Kameraden tadelten ihn, wenn er am Abend ein paar Seiten darin beim Wachtfeuer las. Man fand das leichtfertig. Er selbst empfand eine Art Reue darüber und ließ ihn nach ein paar Tagen im Schnee liegen.

Er gehörte zu den wenigen, die auf dem furchtbaren Rückzuge ihre moralische Kraft, die Achtung vor andern und die Selbstachtung bewahrten. Eines Tages, an der Beresina, erschien Beyle vor seinem Vorgesetzten Daru rasiert und sorgfältig gekleidet. »Sie haben sich rasiert!« sagte dieser. »Sie sind ein Held.«

Herr B(ergognié), Auditor im Staatsrat und dem Hauptquartier zugeteilt, hat mir erzählt, daß er Beyle sein Leben verdankte. Da er das Gedränge auf den Beresinabrücken voraussah, hätte er ihn veranlaßt, den Fluß am Abend vor dem fluchtartigen Übergang zu überschreiten. Fast hätte er Gewalt dazu angewandt. Er war des Lobes voll über Beyles Kaltblütigkeit und gesunden Verstand, der ihn auch dann nicht verließ, wenn die Entschlossensten den Kopf verloren. Beyle wußte sich in schwierigen Lagen stets zu helfen; wie er bescheiden sagte, verdankte er dies seinem Vorrat an fertigen Grundsätzen, infolgedessen er stets zu handeln wußte, wenn die andern ihre Zeit mit Überlegen verloren.

Wie viele Leute seines Alters schien er mir seine Zeitgenossen sehr streng und unsere Generation etwas zu nachsichtig zu beurteilen. Er bewunderte den Bildungstrieb und die tiefschürfende Wißbegier der Jugend von zwanzig Jahren, als er vierzig alt war. Er hielt sich zwar etwas über unsern Ernst und unsere Schulgelehrsamkeit auf, sagte aber, wir ließen uns nichts vormachen wie zu seiner Zeit...

Seine Gefühle gegen Napoleon waren nicht leicht zu ergründen. Vertrat er doch fast stets das Gegenteil dessen, was gerade gesagt wurde. Er war bald ein Nörgler, bald ein begeisterter Verehrer und sprach von ihm bald wie von einem durch Flitter geblendeten Emporkömmling, der immerfort gegen die Regeln der Lo–gik verstieß, bald bewunderte er ihn und vergötterte ihn fast. Die Männer des Kaiserreichs behandelte er ebenso verschieden wie ihren Herrn und Mister. Er hatte eine Geschichte Napoleons begonnen. Ein schwungvolles Bruchstück daraus steht in seiner ›Reise in Frankreich‹,Mémoires d'un Touriste« (1838), Bd. II, S. 148 ff. es ist die Ankunft des Kaisers in Grenoble im Jahre 1815.

Nach Beyles Erzählungen zu urteilen, scheint es mir, daß es in seiner Jugendzeit weniger Selbstsucht gab als heutzutage und daß selbst die Modenarrheiten etwas Edleres hatten. So aß und trank Beyle zwar gern gut, wollte dies aber durchaus nicht zugeben. Die Zeit, die man beim Essen verbrachte, erklärte er für vergeudet; am liebsten hätte er seinen Hunger mit einer am Morgen genossenen Pille für den ganzen Tag gestillt. Heute ist man feinschmeckerisch und rühmt sich dessen. Zu Beyles Zeit erhob ein Mann vor allem Anspruch auf Tatkraft und Mut. Wie soll man auch als Schlemmer in den Krieg ziehen!

Beyle liebte die kleinen, vertraulichen Gesellschaften. In einem kleinen Kreise von Freunden oder von Leuten, gegen die keine Voreingenommenheit bestand, gab er sich mit Freuden der ganzen Heiterkeit seines Charakters hin. Er suchte durchaus nicht zu glänzen; er wollte nur sich und die andern unterhalten, denn, wie er sagte, »man muß seine Eintrittskarte bezahlen«. Er war stets lebendig, manchmal etwas närrisch, ja unanständig, aber er brachte die Leute zum Lachen, und selbst Prüde konnten nicht ernst bleiben. Die Anwesenheit eines langweiligen oder böswilligen Menschen ließ ihn zu Eis erstarren und trieb ihn rasch in die Flucht. Er pflegte zu sagen, das Leben sei kurz und die Zeit, die man mit Gähnen verlöre, sei nicht wieder einzubringen. Sehr bewunderte er das Wort: »Schlechter Geschmack macht verbrecherisch.«

Ehrlichkeit war ein Charakterzug Beyles. Kein Mensch war rechtschaffener und im Verkehr zuverlässiger. Ich habe nie einen Schriftsteller gekannt, der in seinen Kritiken freimütiger war noch die seiner Freunde freundlicher aufnahm. Gern überließ er ihnen seine Manuskripte und bat um strenge Randbemerkungen. Auch die härtesten, ungerechtesten Bemerkungen brachten ihn nie auf. Es gehörte zu seinen Grundsätzen, daß ein »Schwarzkünstler« nie erstaunt noch verletzt sein darf, wenn man ihm sagt, daß er ein Esel sei. Diesen Grundsatz betätigte er buchstäblich, und zwar weder aus tatsächlicher noch aus gespielter Gleichgültigkeit. Kritiken beschäftigten ihn lebhaft; er erörterte sie eifrig, aber ohne Schärfe, als ob es sich um Werke eines seit mehreren Jahrhunderten toten Schriftstellers handelte.

Er hatte die seltsame Gewohnheit angenommen, sich bei den gleichgültigsten Handlungen in den Schleier des Geheimnisses zu hüllen, um die Polizei irrezuführen, die er für so einfältig hielt, sich mit Salongeschwätz zu befassen. Nie schrieb er einen Brief, ohne ihn mit einem Decknamen zu unterzeichnen; statt aus Civitavecchia datierte er ihn aus Abeille. Die Aufzeichnungen, die er sich fortwährend machte, waren die reinen Hieroglyphen, deren Sinn er oft selbst nicht erriet, wenn sie ein paar Tage zurücklagen.

Den Tod fürchtete er nicht, sprach aber nicht gern davon, denn er hielt ihn eher für etwas Schmutziges und Gemeines als für etwas Schreckliches. Er hat den Tod gefunden, den er sich gewünscht hatte, den auch Cäsar sich gewünscht hat: Repentinam inopinatamque (den raschen und unerwarteten).


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