Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Tagebuch von 1813 (Paris, Deutschland, Italien)

Paris, 4. Februar 1813.

Ich habe kein Gedächtnis mehr für irgend etwas. Wäre ich in meinen bisher gefühlten Tagebüchern diskret, so begriffe ich in ein bis zwei Jahren nichts mehr davon. Ich muß meine Phantasie anstrengen, um mich zu erinnern, was ich sagen wollte.

Ich habe in Rußland mein Braunschweiger Tagebuch von 1806 bis 1807, my love to MinetteIn der Tat ist nur das zweite Braunschweiger Tagebuch von 1807–08 erhalten, das wir weiter oben wiedergegeben haben. Verloren gingen auch seine Aufzeichnungen aus Rußland sowie die Abschriften seiner Vorarbeiten zur »Geschichte der italienischen Malerei«, die mit seinem ganzen Gepäck bei Molodetschno in die Hände der Kosaken fielen. Über seine Teilnahme am Feldzug nach Rußland unterrichten uns nur die von dort geschriebenen Briefe, die in Band VIII dieser Ausgabe abgedruckt sind. Stendhal hatte Moskau am 16. Oktober 1812 verlassen und war am 31. Januar 1813 in Paris angelangt. usw. verloren. Ich halte mich für äußerst empfindsam; das ist der hervorstechende Zug. Tiefe Empfindsamkeit hat mich zu Maßlosigkeiten geführt, die allein meinem Freunde Felix [Faure] verständlich wären, aber auch ihm nur mit langen Erklärungen.

Diese Eigenschaft gibt mir holde Gedanken ein, die blitzschnell wieder verschwinden. Ich habe mir noch nicht angewöhnt, sie flugs aufzuschreiben, obschon ich mir zu diesem Zweck mehrmals Notizbücher gekauft habe. Oft vergesse ich die Sache und stets die Form. Was für Gedanken hatte ich nicht in meinem Wagen während der achtzehn Feldzugstage von Moskau bis Smolensk! Ganz wenige schrieb ich in einen Band Chesterfield, den ich mir aus dem Landhause Rostoptschins mitgenommen hatte; er ist verloren gegangen.

Gegenwärtig bin ich in einem Zustande völliger Kälte. Ich habe alle meine Leidenschaften verloren. Keinesfalls habe ich mich an den Pariser Genüssen mit der Gier eines Hirsches gesättigt, wie auf dem Gemälde von Correggio. Ich fühle mich in diesem Augenblick tot. Ein sechzigjähriger Greis könnte nicht kälter sein.

Das nonum prematur in annumHorazens Rat, neun Jahre mit der Veröffentlichung zu warten. gilt nicht für mich. Ich muß eine Sache ausführen, so lange ich in sie verliebt bin. Ohne Liebe bin ich nichts. Das habe ich bei der Komödie erfahren, die ich als Auditor schrieb und die unvollendet geblieben ist.S. Seite 332. Mein Geist ist also unbeständig, das heißt, nicht lange verliebt.

Der Frau P(alf)y scheint es jetzt noch mehr an Geist und Seele zu fehlen als in Wien, vielleicht, weil ich bei ihr einen Firnis von Hochmut fand. (Übrigens ist ihr Sohn gestorben und der frische Schmerz mag sie verändert haben.) Diese Leidenschaft ist tot. Aber was bleibt mir an Frauen? Wahrhaftig, nichts. Mein Liebesbedürfnis war nach drei Tagen gestillt; es ist nur noch eine Annehmlichkeit, an der mir freilich viel liegt.

Aber Prettschestinka ist unverhofft aufgetaucht. Man facht Asche nicht wieder zu Glut an; das ist meine Theorie.

Ich brauchte ein gemütliches Heim, wo ich die Füße auf die Feuerböcke stellen kann. Frau von P...l hätte es mir gegeben; sie ist schlicht und gut, aber der Mangel an Geist ist zu stark; dank ihrer Mutter ist sie zu spießig. Tinka hat diesen Fehler nicht, im Gegenteil, sie fällt ins Tragische. Sie hat mehr Witz und Erfahrung, man kann mehr mit ihr plaudern, wenn auch nicht zuviel.

Bei meiner Rückkehr finde ich vier Frauen, auf die ich ein Auge haben muß: P(alf)y, Frau von P...l, Tinka und D(olign)y.Deckname für die Gräfin Beugnot, der Beyle unter dem gleichen Decknamen auch sein erstes Werk, die »Briefe über Haydn, Mozart und Metastasio« (1814) gewidmet hat. Briefe an sie aus dem russischen Feldzug in seiner »Correspondance« I, 392, 419. Non parlo della mia Angelina.Von meiner Angelina (Bereyter) rede ich nicht. Was werde ich in drei Tagen mit ihnen machen? Also weg mit der Schüchternheit, die ich hatte, als ich alle verführen wollte und ihnen allen JuliensJulie von Etange in Rousseaus »Neuer Heloise«. Herz zuschrieb und von ihnen ein Leben wie im Wäldchen bei Clarens erhoffte! Also weg mit der Schüchternheit und den übermäßigen Ansprüchen! Mein Benehmen ist durch diese lächerlichen Vorstellungen beeinflußt worden. Um des Erfolges gewiß zu sein, muß ich nur noch lernen, meine Gleichgültigkeit zu zeigen.

9. Februar.

Ich fühle mich den ganzen Tag wenig wohl und mache mein Testament, was ich schon lange vorhatte. Es ist recht lächerlich, zumal ich gerade von Moskau zurückkomme.

16. Februar.

Ich beginne ernstlich an »Letellier« zu arbeiten.

15. März.

Frau von P[alf]y hat Frieseln wie in Wien. Dabei ist sie heiter und gar nicht mißgestimmt. Das ist der schöne Zug in ihrem Charakter, der gar nichts Verletzendes hat.

17. März.

Sonntag, den 6. März, fühlte ich zu meiner Verwunderung meine Neigung für MarieGräfin Palfy (Daru). wieder aufleben. Am folgenden Sonntag, den 13. März, nach dem Balle begleitete ich sie mit ihrer Schwester nach Hause. Sie schlug die Blicke nieder, als sie allein in ihrem Salon war. Sie scheint mir gegenüber schüchtern. Sie sagte zu mir, es hätte ihr leid getan, nicht mit mir auf dem Maskenball gewesen zu sein. Sie wüßte mancherlei über mich. Das bezieht sich wohl auf mein Verhältnis zu Angelina, das doch knapp zwei Jahre besteht. Sie wird es durch den Arzt Bayle erfahren haben, der es Frau Le [Brun] erzählt hat, oder durch die Gräfin D[olign]y, die es durch meine Waschfrau von ihrer Kammerzofe erfahren hat.

18. März.

Ich habe wirklich keinen Sinn mehr für das französische Trauerspiel. Diese Art, tragische Dinge darzustellen, langweilt mich. Ich komme aus dem »Hamlet«:Von Ducis er hat mir sowohl inhaltlich wie stilistisch mißfallen. Talma selbst hat zwar ein natürliches Mienenspiel, aber er dehnt viele Worte eine Sekunde lang und beschreibt mit den Armen große Kreise. Er kann mich nicht rühren. Zudem kommt diese platte Tragödie vom ersten Akt bis zum Schluß keinen Schritt vorwärts. Ein junger Mann neben mir stieß leise Rufe der Bewunderung aus, und ich gähnte.

19. März.

Heute besuchte ich Melanie.Melanie Guilbert. Sie hatte inzwischen ihr Glück gemacht und einen reichen Russen, den General Barckow, geheiratet. Ich fand bei ihr alle Kennzeichen des Glücks und der lebhaften Empfänglichkeit für die kleinen Interessen des Alltags.

Heute abend nagt an meiner Seele ein wenig der Kummer, daß ich nicht Präfekt geworden bin, während meine beiden Kollegen Bus[che] und Berg[ognié] es geworden sind.Über beide s. Chuquet, 124. Und doch wäre ich noch weit bekümmerter, wenn ich mich für vier bis fünf Jahre in ein Nest von 6000 Einwohnern vergraben müßte.

Aber gegenwärtig ist meine Seele unbeschäftigt. Durch die Ernennung und die neuen Pflichten als Präfekt fände sie Beschäftigung. Zudem erhielte ich damit eine politische Stellung und Gelegenheit, die Gesellschaft von oben herab ansehen zu können.

20. März.

Es darf nicht sein, daß ich in ein paar Jahren auf Grund dieses Tagebuchs glaube, die siebzehn bis achtzehn Präfekturen, die mir entgangen sind, hätten mich allzusehr beschäftigt. Ich war nicht mehr bei der Sache als bei einer Partie Boston. Daran dachte ich heute abend im Theater an langweiligen Stellen.

24. März.

Meine Kälte nimmt immer mehr zu. Das Fehlen jeder Leidenschaft langweilt mich heute. Ich glaube, meine Kälte kommt daher, daß ich keine höheren Güter erkenne als die, welche ich genieße. Das ist das Symptom des Spleens. Aber wahrscheinlich werde ich bald darüber hinaus sein. Die Unsicherheit über meine politische Stellung trägt dazu bei und läßt mich zu nichts kommen.

Heute früh war ich bei Lady P[alf]y. Sie war nicht zu Hause, aber ihre Schwester sagte mir, sie hätte mir etwas zu sagen. Ich liebe Marie wegen eines Traumes. Ich sprach mit ihr natürlich und zärtlich von meiner Liebe. Dieser Absatz ist in der Urschrift englisch.

23. März.

Um zwei Uhr war meine Hoffnung zuschanden, Berichterstatter für die Bittgesuche zu werden. Ich ging zur Herzogin von ..., Vermutlich Gräfin Daru. die mir sagte, als die Frage der Präfekturen spruchreif war, hätte sie mit ihrem Gatten gesprochen und er hätte zu ihr gesagt: »Ich habe ihn vorgeschlagen.« Sie entgegnete ihm: »Ich glaube, er hätte lieber das Kreuz Den Reunionsorden. und würde Baron, In der Tat strebte Beyle damals nach dem Baronstitel. Dazu gehörte jedoch ein »Majorat«, das sein Vater ihm durch Schenkung des Hauses in der Rue Grenette in Grenoble schaffen sollte. Aber dieser knüpfte unerfüllbare pekuniäre Bedingungen daran, und so mußte sich Beyle mit seinem bisherigen angenommenen Adelstitel begnügen. Vgl. »Journal«, 464 ff., Chuquet, 125 als daß er Paris verläßt.«

»Das wird kommen. Was den Baron betrifft, so ist das schwieriger, weil der Kaiser den Titel verleiht. Hat er mit dir darüber gesprochen?«

»Nein, kein Wort.«

»In Saint-Cloud hat er es vor einem Jahre gesagt, in Gegenwart der Frau L...«

Meine Seele ist verwirrt. Warum? Vom 23. Juli bis 31. Januar 1812 hatte ich nicht die geringste innere Freude. Ist das der Grund?

27. März.

Heute las ich ohne irgendwelchen Kummer im »Journal de Paris« das große Dekret, worin die Präfekten ernannt werden.

Wissen, was das Genie ist, heißt eine Wahrheit kennen. Genie besitzen, heißt hunderte von großen wichtigen Wahrheiten gefunden haben.

31. März.

Montag gehe ich zu Frau P...l, die ich in einem jener Augenblicke nichtssagender Dummheit oder besser Gewöhnlichkeit finde, die früher meiner Liebe rasch ein Ende machten. Der Nebenbuhler war da und sie wollte ausgehen. Da ihr Geist nicht durch irgendein Ereignis bewegt wurde, war sie nur noch höflich, und zwar von jener Art von Höflichkeit, die beweist, daß die Seele, die sie zeigt, nicht hoch ist. Das alles sage ich ohne Stachel, obwohl der Nebenbuhler da war und weit vertraulicher behandelt wurde als ich.

Von da ging ich zu Lady P[alf]y in Saint-Gervais.

Die Unbeständigkeit der Gunst und die geringe Festigkeit dieser Bande stimmen mich etwas traurig. Ich lese bis ein Uhr in den Briefen Boileaus und im Don Quichotte.

Mir fehlte als Mocenigo nur das eine: Ungnade erfahren und empfunden zu haben.

4. April.

Heute morgen verbrachte ich mehrere Stunden bei Frau Lev ... im Beisein ihrer Schwester Emilie.Hier ist wieder die »Gräfin Palfy« gemeint, wie der Vergleich mit der Aufzeichnung vom 17. März nahelegt. Sie war hübsch und gefühlvoll, wie ich es bei ihr nur alle vierzehn Tage sehe. Das bestärkt meine Neigung. Es ist das Gegenteil jener selbstzufriedenen Miene eines sich spreizenden Spießbürgers, die dumme Miene, die meine Neigung tötet. Diese Miene ist leicht melancholisch.

Ihr Benehmen gegen mich (der Schwager war stets dabei) kann sowohl die Nachwirkung einer vergangenen Neigung sein, die einige Freundschaft hinterläßt, wie ein Gefühl, das sie bezwingt, sei es auf höheren Befehl, sei es, um mich dafür zu strafen, daß ich mit einer Theaterdame lebe, was sie vielleicht durch den Arzt erfahren hat, der es ihrer Schwägerin gesagt hat...

Es stellt sich heraus, daß ich die Gräfin D(olign)y stark vernachlässigt habe, eine Frau, die ich unendlich schätze und zu der ich sogar eine Neigung verspüre, die zur Leidenschaft hätte ausarten können, wenn sie mich nicht so gut kennte. Sie hat mir meine Nachlässigkeit in einem Briefchen vorgeworfen. Ich muß ihr heute abend sagen, daß ich niemandem mehr vertraue als ihr.

7. April.

Schmerz in der linken Unterleibsseite, Schwermut und Schroffheit gegen jeden, der mich unterbricht, stellen sich heute wieder etwas ein und die Kälte verschwindet.

11. April.

Emilie empfängt mich mit aller Unbefangenheit, aller Freundschaft und aller Natürlichkeit der schönsten Tage unserer natürlichen Zuneigung. Keine Leidenschaftlichkeit, aber eine fast zärtliche Freundschaft.

Ich pfeife auf mein Unglück im Ehrgeiz. Nachdem ich mich mehr ausgezeichnet habe als irgendwer, sehe ich mich als Letzter meiner Gefährten.

15. April.

Ich habe heute um zwei Uhr noch keinen Befehl erhalten.Die Zuteilung zum kaiserlichen Hauptquartier in Deutschland. Nie ist mir ein Ereignis mehr zur Last gefallen. Ich werde zum Barbaren und bin für die Kunst tot.Stendhal denkt hier vor allem an seine damals in Arbeit befindliche »Geschichte der italienischen Malerei«. Ich glaube, was mich so ausgekältet hat, war die unfreiwillige Gesellschaft so roher Gemüter.

Ich reise am 19. April 1813 nach Mainz ab. Ich bin wütend.

Tagebuch, geschrieben in Bautzen am 21. Mai 1813 während der Schlacht

... Als ich Dresden verließ, begegnete ich dem KönigKönig Friedrich August I. von Sachsen (1750-1827), seit 1763 Kurfürst, seit 1806 König. Er war Napoleons Verbündeter. um halb drei Uhr von Angesicht zu Angesicht. Der Weg nach Bautzen führt längs der Elbe durch eine liebliche Gegend, dann durch sandigen Wald, schließlich wird er rechts von den schönsten Anhöhen begleitet, die ich je gesehen habe. Am 18. Mai um zehn Uhr abends erreichten wir das Biwak. Bei meiner Abneigung, mich an kleinen Seelen zu reiben, zog ich es vor, ruhig in der Kalesche des Marschalls zu bleiben, statt mich um Abendessen und Lagerfeuer herumzustreiten. Mein Abendessen bestand aus einem Stück Brot und einem Schluck Wein. Bis vier Uhr schlief ich sehr gut auf dem Lager, das ich mir hatte herrichten lassen; Marvolain weckte mich sehr brav und brachte mir etwas sehr gute Fleischbrühe. Ich erblickte hinter unserm Biwak eine entzückende Landschaft, eines Claude Lorrain würdig, aus mehreren Baumkulissen in verschiedener Färbung auf einem Berghang bestehend. Den Vordergrund bildeten die herrlichsten unregelmäßigen Baumgruppen auf einem Wiesenplan. Ich erfuhr, daß ich hundert Schritt weit vom Marschall gelegen hatte, der gut zur Nacht gegessen und in seinem Zelte geschlafen hat.

Am 19. fuhren wir um elf Uhr weiter. Während ich die reizenden Höhenzüge rechts von der Straße bewunderte, schrieb ich in mein Notizbuch mit Bleistift, daß dies ein schöner Tag des Beylismus ist, wie ich ihn mir 1806 ziemlich richtig vorgestellt habe. Ich saß bequem und sorglos in einem guten Wagen, mitten in den verwickelten Bewegungen einer Armee von 140 000 Mann, die eine andre Armee von 160 000 Mann mit Kosaken in der Nachhut vor sich her trieb. Leider fielen mir Beaumarchais' sehr richtige Worte ein: »Der Besitz irgendeines Gutes ist nichts, der Genuß ist alles.« Ich begeistere mich nicht mehr für diese Art von Beobachtungen; ich bin ihrer übersatt, wie ein Mensch, der zuviel Punsch getrunken hat und sich übergeben muß. Er hat zeitlebens genug davon. Die Einblicke in die Seelen, die ich beim Rückzug aus Moskau getan habe, haben mir Beobachtungen an den rohen Gesellen, an den Säbelgriffen, aus denen eine Armee besteht, für ewig verleidet.

Wir kommen durch Bischofswerda, ein völlig niedergebranntes Städtchen. Die über die Häusermauern ragenden Schornsteine erinnern mich an Moskau. Die Emsigkeit der Einwohner hat sich schon wieder betätigt. Die armen Teufel haben die Türen und Fensteröffnungen ihrer völlig ausgebrannten Häuser schon wieder mit Ziegeln geschlossen. Den Zweck dieser Arbeit sehe ich nicht ein, aber er erregt mein Mitleid. Das gleiche Gefühl hat bei diesem Anblick ein alter Wachtmeister von der Feldgendarmerie, die unsre Bedeckung bildet. Nach langem Stillschweigen sagt er: »Schade um die Städtchen...«

Am 19. Mai um sieben Uhr erreichten wir das Biwak vor Bautzen. Seit zwei Stunden hörte ich von links lebhaftes Feuer; es war wohl eine Division des Generals Bertrand, die der Feind etwas überrascht hatte...

Am 20. um zwei Uhr morgens blinder Lärm. Um elf Uhr beweisen wir unsre Tapferkeit einigermaßen, indem wir dreimal bis an unsere Vorposten vorgehen, unter dem Feuer des Gegners, der ein Drittel Kanonenschußweite entfernt ist, so daß wir niedergeschossen werden konnten. Wir gehen bis zu einer, mit abgeschliffenen Granitblöcken bedeckten Höhe vor. Rechts sehen wir unsere Vorposten in nächster Nähe. Wir kehrten wieder um, nachdem wir uns eine Viertelstunde mit unserm Posten unterhalten hatten; da bemerkten wir einen großen Reiterschwarm und Seine Majestät links hinter uns, während der Posten abzog. Wir gingen zurück; alles bereitete sich zur Schlacht vor.

Die Truppen zogen sich nach links in der Richtung, wo der Kaiser ritt, und rechts nach den bewaldeten Höhen hin. Ich gab mir die größte Mühe, die kleinen Seelen zu bewegen, sich die Schlacht anzusehen. Deutlich erkannten wir Bautzen von der Höhe des Abhanges, dem es gegenüberliegt. Von zwölf bis drei Uhr sahen wir sehr gut alles, was man von einer Schlacht sehen kann, d. h. nichts.Vgl. die Beschreibung der Schlacht bei Belle-Alliance in Kap. 3 der »Kartause von Parma«. Der Genuß liegt in der leichten Erregung infolge des Bewußtseins, daß dort etwas vorgeht, von dem man weiß, daß es schrecklich ist. Der majestätische Kanonendonner trägt viel zu dieser Wirkung bei. Er paßt durchaus zu dem Eindruck. Brächte das Geschütz ein scharfes, pfeifendes Geräusch hervor, so würde es wohl nicht soviel Eindruck machen. Ich fühle wohl, das pfeifende Geräusch wäre schrecklich, aber nie so schön wie der Kanonendonner.

Ich traf während der Schlacht meinen Kameraden Eduard von der Schlacht an der Moskwa. Auch hier gibt es einen Flußübergang, aber die Spree ist unbedeutend, wenn auch tief eingeschnitten. Ich denke, dieser Übergang hat 2500 Tote und 4500 Verwundete gekostet. Sehr deutlich sehen wir vor allem den Kampf zwischen der Stadt und den Höhen, wo die Marschälle Macdonald und Oudinot die Russen gegen sich haben, die zähen Widerstand leisten. Ganz deutlich erkenne ich das Aufblitzen der Gewehrschüsse unter der Ziegelei.

Ein Regenguß überrascht uns, und wir suchen Schutz in einer Hütte aus Zweigen und Stroh. Währenddessen erhebt sich ein sehr lebhaftes Gewehrfeuer in einem Dörfchen ganz in unserer Nähe. Ich finde bei Eduard die gleiche Art von Witz wie am 7. September 1812: sehr deutliche Anekdoten im Stil Voltaires, auswendig gelernt und zu höhnischem Lachen reizend, ein Gemisch von Lustigkeit und starker Unanständigkeit... Ich fühle, daß ein solcher Mensch M. M.Ergänze: moi-même, d. h. Beyle selbst. sehr überlegen ist. Der träumt vierzehn Tage lang davon, fünf gute Seiten zu schreiben, hat seinen Geist durchaus nicht in Scheidemünze bei sich und trachtet nicht sehr nach Erfolgen in der Unterhaltung; vielmehr ist ihm das Erzählen langweilig. Ist er heiter, so ist seine Seele rege und genießt; um sie zu fühlen, bedürfte es einer Gräfin Simonetta ...So nennt Beyle seit 1813 Angela Pietragrua, vielleicht in Erinnerung an den gemeinsamen Ausflug nach dem Echo der Simonetta. (S. S. 366.)

Wir finden alle unsere Wagen in Bewegung. Eduard erklärt, er wolle wieder nach der Stelle gegenüber Bautzen zurück; von da haben wir guten Überblick über die Schlacht. Die Zuschauer sehen vieles in ihrer Einbildung. Sie schildern alle Bewegungen eines Karrees, das seine Stellung, seine Gestalt usw. verändert. Ich lasse sie reden. Ein Vierter kommt dazu, und als sie von ihrem Karree reden, fragt er sie treuherzig, ob es nicht vielmehr eine Hecke sei. Deutlich sieht man nur noch das Aufblitzen der Geschütze; man hört ein mehr oder minder lebhaftes Gewehrfeuer...

Glogau, 9. Juni 1813.

Vor acht Tagen hatte ich eine lange Unterredung mit Sr. Majestät.Anläßlich des Überfalls der Bagage des Hauptquartiers durch Kosaken am 24. Mai 1813, über die Beyle in Görlitz eine Erklärung zu Protokoll gab. (»Correspondance», I, 402.) Daher auch die Unterschrift seiner (posthumen) Widmung der »Geschichte der italienischen Malerei« an Napoleon: »Der Soldat, den Sie in Görlitz beim Knopfloch faßten.«

Sagan, 21. Juni 1813.

Ich habe mir eben ein gutes Pianino gemietet und es in mein kleines Schlafzimmer stellen lassen. Ein Klavierlehrer hat eine Stunde lang Mozartsche Musik darauf gespielt. Einige Stücke haben mir köstlichen Genuß bereitet, andre mich gelangweilt. Der echte Deutsche ist ein großer blonder Mensch von trägem Wesen. Ereignisse, die der Phantasie Spielraum gewähren und einen rührenden Eindruck erwecken können, mit einem Gemisch von Vornehmheit infolge des Ranges der handelnden Personen, sind seine wahre Herzensweide. Das beweist ein Titel, den ich kürzlich las: »Sechs Lieblingswalzer der Kaiserin Marie Louise von Frankreich, bei ihrem Einzug in Straßburg von der kaiserlichen Garde gespielt.«

Wenn die Musik einem Deutschen Freude macht, so müßte er eigentlich noch unbeweglicher werden. Statt dessen will er wohl die Italiener nachäffen; seine leidenschaftlichen Bewegungen, die er äußerst schnell ausführt, machen den Eindruck einer Freiübung auf Kommando und sind höchst lächerlich. Er will anmutig sein, wirkt aber im Gegenteil abstoßend.

Der Deutsche hat keine Scham vor der Rührung.

(Sagan), 23. Juli.

Jahrestag meiner Abreise nach Rußland. Ich schreibe dies am Abend um acht Uhr. Der erste Tag, wo das FieberBeyle hatte sich als Intendant in dem verseuchten Sagan den Typhus zugezogen. entschieden aufhört. Dies ist das zweitemal, daß der Anfall aussetzt. Sie waren sehr schmerzhaft und mit Delirien verbunden. Seit dem 6. Juli fühlte ich mich nicht wohl.

Welch ein Jahr ist seit damals verflossen! Damit nichts fehlte, mußte ich Intendant und krank werden.Am 28. Juli kam Beyle in Dresden an, von wo er nach einigen Tagen über Paris nach Mailand reiste, um sich dort zu erholen.

Kurze Skizze meiner Italienreise 1813

7. September 1813.

Endlich bin ich heute vormittag um halb elf Uhr in Mailand angelangt. Ich glaube, die Reise hat mir wohlgetan, obwohl ich noch sehr schwach bin, besonders wenn ich mich errege.Ich war in der Genesung von dem Fieber begriffen, das ich mir als Intendant in Sagan zugezogen hatte. (Anmerk. Stendhals.) Im Café Nuovo war ich derart schwach, daß ich mir eine Tasse Kaffee alla paneraMit Sahne. auf ein schönes, ganz neues graues Beinkleid gegossen habe. Als ich heute früh um zehn Uhr den Mailänder Dom wieder sah, sagte ich mir, daß ich durch meine Reisen nach Italien eigenartiger, mehr ich selbst werde. Ich suche das Glück mit mehr Verstand. Alle Züge der Italiener, die ich antreffe, gefallen mir:

1. Ich glaube, weil man fühlende Menschen sieht und nicht solche die die Vorteile ihrer Eitelkeit berechnen.

2. Weil diese Leute anders sind als die, welche ich im Sinne des Mocenigo habe zergliedern müssen. Z. B. die Art, wie die Brotverkäuferin in Iselle einen Gendarm bat, ihr Töchterchen zu behüten. Nichts, was der Eitelkeit des Gendarmen hätte schmeicheln können, nichts Vornehmes, lediglich das wohlwollende Lächeln und die Glut, mit der die Leute hierzulande alles betreiben, was ihr Herz ihnen eingibt. Das erklärt ihre Kälte bei allem, was mit den Interessen ihrer Leidenschaft nichts zu tun hat.

Mein Lohndiener sagt mir eben, er hätte den Brief, dem ein zweiter an die Gräfin Simonettas. S. Seite 407, Anm. 1. beilag, der Frau Bo(rrone) persönlich übergeben.

8. September.

Wir gehen in alle Theater. Ich gucke mir die Augen nach den Personen aus, die in den Logen der Scala, besonders in der dritten im zweiten Rang rechts sitzen.

9. September.

Ich komme aus der Brera und der Villa Bonaparte. Mit erstorbenen Augen betrachtete ich alle diese schönen Gemälde, in denen ich früher so viel gesehen hatte. Ich bin äußerst erschöpft. Das sind wohl Nachwehen, aber es geht mir gut, denn ich habe die Tage der Fieberanfälle schon vergessen. Bei der Rückkehr größte Freude über ein Briefchen; bangte ich doch schon, daß sie mir ganz entfremdet sei. Gegen halb fünf Uhr komme ich mit Saint-Loup nach Monza. Ihr Fenster stand offen. Ich sehe sie vom Ende der Straße, die an ihrer Wohnung vorbeiführt. Man verdirbt das Glück, wenn man es beschreibt.

Ich erfahre den Tod Turcottis und ihres Bruders. Den des liebenswürdigen Widemann ahnte ich schon. Großer Gott, Ajax ist tot und Thersites lebt! Widemann ist ein Charakter ganz nach meinem Herzen. Ein solcher Mann, Edelmut und Heiterkeit selbst, stirbt, während die plattesten Burschen sich auf den Straßen von CularoGrenoble. spreizen.

Ich übernachte im Gasthof zur Post, wo ich wohl aufgehoben bin und man recht gut speist. Nach dem Essen fährt Saint-Loup nach Mailand zurück.

10. September.

Ich besuche sie morgens um halb zehn Uhr. Das ist früher, als es sich schickt. Hier müßte ich acht Stunden, die in holdem Geplauder dahinflogen, mit ein paar lateinischen Versen oder einer Anspielung auf das Altertum verschleiern. Ich kehre nach Mailand zurück. Abends fühle ich mich unwohl und habe etwas Fieber infolge meiner Unvorsichtigkeit. Ich gehe in eine Oper von Fioravanti, »L'Amore viene dell' odio«.Vielmehr von Generali.(Arbelet.) Er ist stets pikant im Stil von Marivaux, aber stets ohne die Glut Cimarosas »Un podestà più asino«;Ein recht eselhafter Bürgermeister. gute Späße, die die prüden Pariser Kunstrichter gemein fänden. Ich sehe deutlich, wie schlecht jetzt der französische Geschmack ist: der Stil Senecas mit unausrottbarer Kälte. Dies Volk triumphiert im Genuß von Collés Chansons. Es ist Marivaux, der leidenschaftlich sein will. Ein so schlechter Geschmack wie denkbar, aber sehr geistvoll.

11. September.

Sono felice.Ich bin glücklich. Um drei Uhr ist sie noch nicht da. Ich lese die Berichte der Schlacht bei Dresden.Napoleons Sieg am 26. und 27. August. Ich kaufe mir Machiavellis Lustspiele und das Leben Aretinos. Will man Musik genießen, so muß man nach Como fahren. Die Gräfin Simonetta erzählt mir viel von der Familie Monbelli;In seiner »Reise in Italien« (Band V dieser Ausgabe, S. 315 f.) schwärmt Stendhal von den Schwestern Esther und Anna Monbelli, zwei Sängerinnen, die damals im Alter von 19 und 17 Jahren waren. ich hoffe sie bei ihr zu sehen.

15. September.

Seit vier Tagen habe ich nichts geschrieben, denn das Glück beschreiben heißt es vermindern. Indes muß ich gestehen, daß ich den Taumel von 1811 nicht mehr empfinde. Ich war zu lange krank und erhole mich erst. Zudem fehlt die Neuheit und die zehnjährige Trennung. Doch mir scheint, ich bin in der zweiten Periode der Liebe, wo mehr Vertrautheit, Zutrauen, Natürlichkeit herrscht.

Heute abend erkannte ich, da ich sie vier Tage nicht sehen durfte, daß mir zu meinem Glück nur etwas Arbeit fehlt. Ich habe mir Arbeit zu machen gesucht. Ich habe die grünen Hefte nicht hier, somit kann ich nicht an der Geschichte der Malerei arbeiten. Zudem: Bene dicendi sapere est fons.. Das heißt, um gut zu schreiben, muß man seine Sache kennen. Ich müßte mich vierzehn Tage vorbereiten. So andauernd kann ich nicht arbeiten. Allerdings muß ich den Ausreden mißtrauen, die ich mir selbst mache, um nicht Hand ans Werk zu legen. Ich bin wie die Pythia, die man zwingen mußte, den Dreifuß zu besteigen. Trotzdem glaube ich diesmal recht zu haben.

Diesen Winter in Paris werde ich hoffentlich arbeiten, aber hier scheint es mir schwierig. Ich bin in vielem das Gegenteil von Rousseau, und besonders darin, daß ich nur arbeiten kann, wenn die Eindrücke fern liegen. Wenn ich in einem köstlichen Hain lustwandle, kann ich dies Glück nicht beschreiben; in einem kahlen Zimmer, wo nichts meine Aufmerksamkeit erregt, kann ich etwas leisten. Hier aber bin ich auf dem Schlachtfeld. Ich hatte zwar keine Schlacht zu liefern, aber die Sache bleibt die gleiche.

[ Somit bleibt das Bücherlesen und die Niederschrift meiner Beobachtungen über die italienischen Sitten, etwas ganz anderes als die Beschreibung meines Lebens. Ich bin in kein Buch vernarrt; nur in diesem glücklichen Zustand lese ich mit Nutzen. Ich vermehre den Vorrat an Ideen, oder vielmehr, ich berichtige meine Ideen und komme der Wahrheit immer näher. Die Menschenkenntnis ist für mich wie ein übertünchtes Gemälde. Immerfort fällt ein Stückchen Tünche ab und ich nähere mich der ersehnten Wahrheit. Das waren meine Gedanken, als ich zum letztenmal in der sehr mäßigen Oper »L'Amore viene dell' odio« war.

13. September.

Locatelli.»Ein junger talentvoller Mailänder Künstler«, der komische Rollen spielte und aufsagte. (»Reise in Italien«, S. 67, 73 f.) Äußerst heiterer Abend. Ich erzähle mit Erfolg von Moskau.

Donnerstag, 16. September 1813.

Da ich die Gräfin Simonetta erst Montag nachmittag wiedersehen kann, wollte ich Mailand nicht eigens verlassen, um nach Monza zu fahren; das wäre noch verdächtiger gewesen. Ich fand es weit natürlicher, vier Tage in Como zu verbringen und auf dem Rückwege bei Monza vorbeizukommen und mich nur so lange dort aufzuhalten, als die Vorsicht oder vielmehr meine Liebe es gestattet. Ich habe mir also einen kleinen Vetturino genommen und bin nach Como gefahren.

17. September.

Ich gehe um elf Uhr aus und besuche die Quelle des Plinius.In der Villa Pliniana. S. »Reise in Italien«, S. 351. Um vier Uhr bin ich zurück. Diese Reise nach Como mit ihren Fahrten auf dem See und abends bei den jungen Monbellis war reizend. Das und meine Fahrt nach MonticelloVgl. »Reise in Italien«, S. 364. für die Genüsse, die der Anblick der Schönheit bietet, die Spaziergänge in Monza für das Gefühl, und der Blick auf Venedig von dem Markusturm, der Mondschein an den äußersten Gärten am Ende der Riva degli Schiavoni als Eigenartigkeit.

Monza, 21. September 1813.

Geburtstag,D. h. Gedenktag an seinen »Sieg« über Angela Pietragrua am 21. September 1811 (s. Seite 366). zur gleichen Stunde. Meine Seele kehrt wieder. Ihre Tränen auf dem Kirchhof, als wir um den kleinen Tempel von Pellegrini herumgehen. Nichts fehlt ihr. Auf meinen Hosenträgern sehe ich: es war der 21. September 1811, um halb zwölf Uhr mittags.

23. September 1813.

Ich komme aus der Brera. Sollst du leben oder dein Leben beschreiben? Du sollst nur ein Tagebuch führen, soweit es dir hilft, da grandeAls Großer. zu leben. Ich habe meine ganze Seele wiedergefunden. Welch ein Unterschied zwischen diesem Besuch der Brera und dem mit Saint-Loup in den ersten Tagen meiner Ankunft!

Ich habe die Gewohnheit starker, angespannter Aufmerksamkeit verloren, denn ich denke zumeist nur an Dinge, die ich verachte und nichtssagend finde.

24. September.

Nosce te ipsum.Erkenne dich selbst.

Was mir am frühsten fehlen wird, wenn ich alt werde, ist das Gedächtnis. Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf einen Gegenstand und geht dann zu etwas anderm über.

In Dresden war ich gegen meinen Willen zu zerstreut, um die Bilder von Correggio und Mengs richtig zu sehen. Hier beginnt meine Aufmerksamkeit sich wieder der Malerei zuzuwenden, und jetzt erkenne ich, was mir beim Anblick jener Meisterwerke fehlte und worin ich gefehlt habe. Mich für etwas zu begeistern und es dann völlig zu vergessen, das ist mein Fall nel comporro.Beim Bücherschreiben. Jetzt liegt mir die Geschichte des Spanischen Erbfolgekrieges ganz fern. In RichmondEin Lustschloß vor den Toren von Braunschweig, wo Beyle an der Geschichte des Spanischen Erbfolgekrieges schrieb. Vgl. Seite 296. war ich begeistert dafür und sah alles mögliche darin. Das nonum prematur in annumS. Seite 398. hat für mich keinen Sinn. Nach neun Jahren würde ich mein Werk kaum mehr verstehen.

Mein Mangel an Gedächtnis für Geschichte, soweit sie meinen Gegenstand nicht angeht, ist unglaublich und fast beunruhigend. Ich kann dasselbe Geschichtsbuch alle zwei Jahre mit gleichem Genuß lesen. Das habe ich bei der Lektüre von Duclos in Liegnitz erfahren.

Cabanis schildert meinen Seelenzustand sehr richtig mit den Worten: »Zu bemerken ist, daß das Empfindungsvermögen sich wie eine Flüssigkeit von bestimmter Gesamtmenge verhält. Sobald sie sich reichlicher in einen ihrer Kanäle ergießt, nimmt sie in den andern im gleichen Verhältnis ab.«

Ich verließ sie am 21. abends in Monza. Ich arbeite, weil ich fern von ihr bin, und zwar an der Malerei. Die äußerste Konzentration auf einen Gegenstand beweist nur die Leidenschaft und nicht das Genie.

25. September.

Eine Bemerkung Grimms über die Nachteile übermäßigen Lesens hatte mir solchen Eindruck gemacht, daß ich den Vorsatz faßte, nichts mehr zu lesen. Ich hatte mir Bücher nach dem Comer See mitgenommen, aber ganz von selbst und ohne Widerstreben habe ich gar nichts gelesen. Heute habe ich wieder zu Duclos' »Mémoires sur les moeurs«S. Seite 138, Anm. 2. gegriffen. Ich finde keinen Geist, der dem meinen mehr entspräche, von der Empfindsamkeit abgesehen. Was er über den Geist der Galanterie (Ausgabe Des Essarts, 11,2) sagt, ist nach Form und Inhalt ganz in meiner Art. Mir ist, als hätte ich diesen Satz vor drei bis vier Jahren geschrieben und ihn nur etwas vergessen.

Zu meinem Glück muß ich unbedingt am Morgen allein und gleich nach der Hauptmahlzeit in Gesellschaft sein, mindestens bis zehn Uhr. Über mein Verhältnis zur Gräfin Simonetta kann ich nichts Besseres sagen als Duclos' Bemerkung: »Nur der Geist kann auf die Dauer den Geist ernähren; allein produziert er nicht lange.« (Duclos, II, 37.)

Mitten in meinem Überschwang überfiel mich plötzlich trostlose Unfruchtbarkeit und Kälte. Der Grund, den ich mir nicht erklären konnte, ist dieser:

Sie besaß zu viel Empfindungskraft, um in der Wahl ihrer Liebhaber, die ihr gefielen, streng zu sein. Nicht deren Verdienst, sondern ihre eigne Empfindungskraft riß sie hin. Sollte ich eifersüchtig sein, um mich von dieser Liebe zu heilen? ... Nein, die Liebe ist ein glückliches Fieber. Nichts bleibt, wenn sie vorüber ist. Soll ich mich unglücklich fühlen, weil ich für sie nicht das war, was Louis [Joinville]S. Seite 208, Anm. 1. für sie gewesen ist?

Bei allen guten Dingen ist der Besitz nichts, der Genuß ist alles. Louis aber sah in ihr nur ein gewöhnliches Weib. Das alles beweist, daß ich ebenso glücklich oder glücklicher bin als er. Aber warum sollte ich nicht der erste sein, den eine so seltene Frau liebt? Das ist die Lösung des Rätsels. In den Bergen bei Sassenage hat man diesen Winter nur einen Bären erlegt.

Sonntag, 26. September.

Herrliches Wetter nach einer regnerischen Woche. Ich gehe auf den Corso und betrachte die Stätten, die ich so geliebt habe. Ich kann die Trennung von der Gräfin Simonetta nicht ertragen. Bei der Rückkehr spreche ich bei ihr vor und erfahre, daß ihr Gatte erst gestern abgereist ist, um sie abzuholen, und daß er wahrscheinlich erst Mittwoch zurückkehrt. Warum hat sie mir von Mittwoch bis Sonnabend nicht geschrieben? Hat sie einen andern Liebhaber?

Dann würde ich sofort nach Venedig abreisen. Ich hätte das Vergnügen, mich zu rächen, ob sie mich liebt oder nicht. Aber in beiden Fällen erschüttere ich ihr Vertrauen, wo ich als Fremder und Durchreisender ohnedies so verdächtig bin. Ich bringe ihren Liebhaber um, wenn sie einen hat; andernfalls beraube ich mich zum mindesten einer holden Illusion.

Letzten Sonntag war ich in der Tremezzina,Die Gegend von Tremezzo am Comer See. Vgl. die Aufzeichnung vom 17. September. am vorletzten bei ihr in ihrem Garten. Was tun? Mailand ist mir unerträglich. Ich fahre heute abend nach Venedig.

(12.) Oktober.

Um halb sieben aus Venedig zurück, erhalte ich einen Brief von der Gräfin Simonetta. In meiner Antwort verabrede ich mit ihr die Zeichen zu einem Stelldichein...

Ich war mit ihr in der Erstaufführung des Balletts »Prometheus«.Von Salvatore Vigand, Musik von Beethoven. Sie war schöner denn je; wir waren mit Antonio fast die ganze Zeit allein. Morgen um halb ein Uhr Contrada dei Bigli. Sie fürchtet, die Österreicher werden mich von hier vertreiben.Die Österreicher bedrohten damals Italien. Der Vizekönig Eugen hielt noch die Isonzolinie, aber schon am 3. Oktober, während Stendhal in Venedig weilte, wurden dort Verteidigungsmaßregeln getroffen. (Arbelet.)

27. Oktober.

A Conversation of two hours, and a serions one, after...Zweistündige Unterhaltung, und zwar ernstlich, nach ... Je länger ich lebe, um so mehr erkenne ich, daß Molière unser einziger Klassiker ist. Sein Kolorit ist abstoßend, aber seine vis comica und sein gesunder Verstand söhnen mich wieder mit ihm aus.Stendhal hat damals Molière studiert und ihn »zwischen seinen Stelldicheins« vom 2. bis 11. November durch Randbemerkungen kommentiert. S. A. Cordier, »Molière jugó par Stendhal«, Paris 1898.

Da ich sehe, daß die Dinge in Frankreich schief gehen, reise ich ab.Die Völkerschlacht bei Leipzig (16. bis 19. Oktober) brach die Napoleonische Fremdherrschaft. Die Österreicher schlossen Venedig ein und drangen bis zur Etsch vor. Stendhal war indes noch am 11. November in Mailand. (S. Seite 416, Anmerk. 5.) Ich hatte seit einem Monat ein schönes Zimmer an der Piazza Belgiojoso.Nämlich in der obengenannten benachbarten Contrada dei Bigli. Ich schlief mit meinen Waffen neben mir.


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