Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Dreiunddreißigstes Kapitel

Pierre Daru

Civitavecchia, 29. Februar bis 1. März 1836.

Frau Le Brun, jetzt Marquise de Grades, hat mir gesagt, alle Bewohner dieses kleinen Salons wären über mein völliges Stillschweigen betroffen gewesen. Ich schwieg instinktiv; ich fühlte, daß mich niemand verstände. Wie konnte ich diesen Gesichtern von meiner zärtlichen Bewunderung für Bradamante erzählen! Dies Schweigen war indes die klügste Politik, das einzige Mittel, um etwas persönliche Würde zu wahren.

Wenn ich diese geistvolle Frau je wiedersehe, muß ich sie darüber ausfragen, wie ich damals war. Ich selbst weiß es nicht. Da ich stets die gleichen Gedanken in die Tiefe gegraben habe, wie soll ich da wissen, wo ich damals war? Der Schacht war zu jener Zeit zehn Fuß tief. Mit jedem Jahre habe ich fünf Fuß tiefer geschürft: wie soll ich da jetzt, wo der Schacht neunzig Fuß tief ist, mir ein Bild machen, wie er im Februar 1800 bei zehn Fuß Tiefe war? ...

Ach, wie wohl hätte mir damals ein guter Rat getan! Selbst noch im Jahre 1821! Aber zum Teufel: niemand hat ihn mir gegeben. Um 1826 erkannte ich ihn selbst, aber damals kam er fast zu spät; außerdem lief er meinen Gewohnheiten zuwider. Seitdem habe ich deutlich erkannt, daß er in Paris die conditio sine qua non ist, aber dann wären meine schriftstellerischen Gedanken auch weniger wahr und originell geworden. Wie anders wäre ich geworden, hätte Herr Daru oder Frau Cambon mir im Januar 1800 gesagt:

»Lieber Vetter, willst du in der Gesellschaft etwas vorstellen, so müssen zwanzig Personen ein Interesse daran haben, Gutes von dir zu sagen. Somit suche dir einen Salon aus, gehe regelmäßig zu jedem Empfangstage hin, gib dir Mühe, liebenswürdig oder doch sehr höflich gegen jedermann zu sein. Dann stellst du etwas in der Welt vor und kannst hoffen, einer liebenswürdigen Frau zu gefallen, wenn zwei oder drei Salons für dich eintreten. Nach zehn Jahren der Beständigkeit können diese Salons, wenn du sie in unsern Gesellschaftskreisen wählst, dich zu allem führen. Die Hauptsache ist Beständigkeit und regelmäßiges Erscheinen.«

Das hat mir stets gefehlt. Deswegen rief Herr Delécluze von den »Débats« im Jahre 1828 aus: »Hätten Sie nur etwas mehr Erziehung!«

Das Glück, dem ich soviel zu danken habe, hat mich zwar später in verschiedene, höchst einflußreiche Salons geführt. Aber im Jahre 1814 schlug ich eine Stellung aus, mit der ich Millionen verdienen konnte,Siehe S. 55. und im Jahre 1828, als ich mit den Herren Thiers (dem jetzigen Minister des Auswärtigen), Mignet, Aubernon und Béranger intim verkehrte und in jenem Salon in großem Ansehen stand, fand ich Herrn Aubernon langweilig, Mignet geistlos, Thiers zu unverschämt und geschwätzig, und allein Béranger gefiel mir. Aber ich besuchte ihn nicht im Gefängnis,Béranger kam wegen seiner Opposition gegen die Bourbonen mehrfach ins Gefängnis. um nicht vor der Macht auf dem Bauche zu liegen, und ich ließ es zu, daß Frau Aubernon mich als »unsittlichen Menschen« ansah. Und nun gar die Gräfin Bertrand im Jahre 1808 und 1809! Welch ein Mangel an Ehrgeiz, oder vielmehr, welche Trägheit!

Ich bedaure die verscherzte Gelegenheit kaum. Statt 10 000 hätte ich 20 000 Franken; statt Ritter, wäre ich Offizier der Ehrenlegion, aber ich hätte täglich drei bis vier Stunden mit jenen ehrgeizigen Banalitäten vertan, die man als »Politik« beschönigt, und ich hätte viele Niedrigkeiten begangen. Ich wäre dann Präfekt des Departements Mans geworden, was mir 1814 bevorstand.

Aber ich war nun mal ein Narr, der mehr an »Hamlet« und an den »Menschenfeind« [von Molière] dachte als an das wirkliche Leben. Langweilte ich mich in einem Salon, so blieb ich die nächste Woche fort und erschien erst nach vierzehn Tagen wieder. Bei meinem offnen Blick und der tief unglücklichen, gezwungenen Miene, die mir die Langeweile gibt, kann man sich vorstellen, wie sehr ich meine Sache durch solches Fortbleiben förderte. Zudem sagte ich von einem Tropf stets: »Er ist ein Tropf.« Dieser Schrulle verdanke ich eine Welt von Feinden. Seit ich (Anno 1826) geistreich wurde, machte ich immerfort spitze Bemerkungen und Äußerungen, die man nicht mehr vergißt, wie mir eines Tages die gute Frau Mérimée sagte. Ich hatte zehnmal im Duell fallen müssen, und doch habe ich nur drei Wunden, davon zwei bloße »Schrammen« (an der Hand und am linken Fuße).

Herr Daru (der spätere Minister) hatte damals (1800) eine kleine Dichtung im Jesuitenstil, die »Cléopédie« veröffentlicht, d. h. eine Dichtung im Stil der lateinischen Gedichte, wie sie die Jesuiten um 1700 machten. Sie schien mir seicht und flüssig; ich habe sie seit dreißig Jahren nicht mehr gelesen. Herr Daru, im Grunde geistlos, war sehr stolz darauf, Vorsitzender von vier literarischen Gesellschaften zu sein.

Diese Albernheit grassierte um 1860, war aber nicht so seicht, wie sie heute erscheint. Es war ein Wiederaufleben der Gesellschaft nach der Schreckenszeit von 1793 und der halben Schreckenszeit der folgenden Jahre ...

Eines Abends nahm er mich in eine dieser Gesellschaften mit. Er trug seine Verse mit einer gutmütigen Miene vor, die mir auf seinem strengen, geröteten Gesicht seltsam erschien, und ich blickte ihn erstaunt an. Ich sagte mir: »So mußt du es auch machen«, aber ich hatte gar keine Neigung dazu. Diese Poesie entsetzte mich: welch ein Gegensatz gegen Ariost und Voltaire! Das war spießbürgerlich und platt, aber ich bewunderte mit lüsternen Blicken den Busen der Frau Constance Pipelet, die ein Gedicht vortrug ...

Ich ging auch ins Louvre zu Régnault,J. B. Régnault (1754-1829). Nach Colombs › Notice‹ XX hat Beyle mehrere Monate bei ihm gearbeitet. dem Maler der »Erziehung Achills«, eines platten Gemäldes, Und wurde Schüler in seiner Akademie. Alle Trinkgelder für Schrankfächer, Stühle usw. erstaunten mich sehr. Ich kannte alle diese Pariser Bräuche nicht und überhaupt keine Bräuche. Ich muß wohl als knickerig erschienen sein.

Ohne die heimlich gelesenen Autoren hätte ich wohl Geschmack an jener Art von Literatur gefunden, hatte die »Cléopédie« und den Geist der französischen Akademie bewundert. Wäre das ein Schade gewesen? Ich hätte von 1815 bis 1830 Erfolg, Ruf und Geld gehabt, aber meine Werke wären weit seichter – und viel besser geschrieben.

Ich glaube, die Geziertheit, die man von 1825 bis 1836 als »guten Stil« bezeichnet, wird um 1860 recht lächerlich erscheinen, sobald Frankreich nicht mehr alle fünfzehn Jahre politische Umwälzungen durchmacht und Zeit findet, über die Geistesfreuden nachzudenken. Die starke, gewaltsame Regierung Napoleons (den ich persönlich so liebte) hat nur fünfzehn Jahre gewährt, die ekelhafte Regierung der blöden Bourbonen ebenso lange. Wie lange wird die dritte währen? Wird sie mehr Verstand haben?

Doch ich schweife ab... Unsere Enkel müssen uns diese Seitensprünge verzeihen; wir halten in einer Hand die Feder, in der andern den Säbel... Ich kehre also zum Januar 1800 zurück. Da ich kaum auf der Schule gewesen war, besaß ich tatsächlich nur die Erfahrung eines zehnjährigen Kindes und wahrscheinlich einen teuflischen Hochmut. Ich war tatsächlich der beste Schüler der Zentralschule gewesen. Außerdem – und das war mehr – besaß ich richtige Gedanken über alles, hatte ungemein viel gelesen und liebte das Lesen über alles. Ein neues Buch tröstete mich über alles hinweg.

Die Familie Daru jedoch war trotz der Lorbeeren des HorazübersetzersPierre Daru hatte 1798 eine Übersetzung der Episteln des Horaz herausgegeben. Er schrieb später Geschichtswerke, die ihm 1828 die Pforten der französischen Akademie öffneten, die »Histoire de la République de Venis« (1819), die »Histoire des Ducs de Bretagne« (1824), die Stendhal mit Interesse gelesen und besprochen hat. (Correspondance, II, 151,287,319.) durchaus unliterarisch. Es war eine alte Höflingsfamilie aus der Zeit Ludwigs XIV., wie Saint-Simon sie geschildert hat. An Pierre Daru bewunderte man nur den Erfolg; jede literarische Erörterung wäre ein politisches Verbrechen, ein Antasten des Familienruhmes gewesen.

Eine Stätte gab es jedoch, wo ich weniger verlegen und natürlicher sein konnte: den Salon der hübschen, trefflichen Frau Rebusset, die im ersten Stock des Daruschen Hauses wohnte. Mein Zimmer lag, glaube ich, gerade über ihrem Salon. Meine Base, Frau Rebusset, hatte eine Tochter Adele, die viel Geist erwarten ließ; mir scheint aber, sie hat später nicht Wort gehalten. Nachdem wir uns wie Kinder geliebt hatten, traten Gleichgültigkeit und Haß an Stelle der Kindereien, und ich verlor sie 1806 völlig aus den Augen. Wie ich 1835 in den Zeitungen las, ist ihr dummer Gatte, der Baron August PétietHier irrt Stendhal. August (Augustin) Pétiet (geb. 1784) starb erst 1858. (Chuquet 48 f.) Wegen des Duells vgl. S. 213, Anm. 5. – derselbe, der mich im Duell am linken Fuße verletzte – gestorben und hat sie als Witwe mit einem halbwüchsigen Sohn hinterlassen.


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