Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwanzigstes Kapitel

Die erste Liebe

Rom, 2. bis 3. Januar 1836.

Von der Tyrannei befreit, begann meine Seele sich etwas aufzurichten. Mich bedrückte nicht mehr fortwährend das entnervende Gefühl ohnmächtigen Hasses. Meine gute Großtante Elisabeth wurde meine Vorsehung. Sie ging fast allabendlich zu Frau Colomb oder Frau Romagnier, um ihre Partie Karten zu spielen. Die beiden trefflichen Schwestern hatten nichts Spießbürgerliches, von einigen Ängstlichkeiten und Gewohnheiten abgesehen. Sie waren schöne Seelen, etwas in der Provinz sehr Seltenes, und meiner Großtante zärtlich zugetan. Aber ich sage nicht Gutes genug von diesen guten Basen; sie besaßen eine große, hochherzige Seele und haben mir das bei den großen Gelegenheiten ihres Lebens in eigenartiger Weise bewiesen.

Mein Vater ging mehr und mehr in seiner Leidenschaft für die Landwirtschaft und für Claix auf und verbrachte dort drei bis vier Tage in der Woche. Das Gagnonsche Haus, in dem er seit dem Tode meiner Mutter täglich speiste, war ihm bei weitem nicht mehr so sympathisch. Offen gesprochen hatte er nur mit Seraphie. Meine Großtante Elisabeth hielt ihn durch ihre spanische Gesinnung in Respekt; sie sprachen immer nur sehr wenig miteinander. Die kleinliche Dauphineser Verschlagenheit und peinliche Schüchternheit meines Vaters paßte schlecht zu der edlen Aufrichtigkeit und Schlichtheit meiner Großtante. Auch der Unterhaltung mit meinem Großvater war mein Vater wenig gewachsen. Er war ehrerbietig und höflich und Herr Gagnon sehr höflich. Das war alles. Mein Vater brachte also kein Opfer, wenn er die halbe Woche in Claix blieb. Ein paarmal, als ich mit ihm dorthin gehen mußte, sagte er zu mir, es sei in seinem Alter traurig, kein Heim zu haben.

Wenn ich zum Abendessen nach Hause kam, hatte ich kein allzu strenges Verhör zu erwarten. Meist sagte ich lachend, ich hätte meine Großtante von Frau Colomb oder Frau Romagnier abgeholt. Tatsächlich begleitete ich sie auch häufig bis zur Haustür, lief dann aber zurück und verbrachte eine halbe Stunde im Stadtgarten, wo sich im Sommer bei Mondscheinabenden die junge, elegante Welt der Stadt unter den prächtigen, uralten Kastanienbäumen ein Stelldichein gab.

Bald wurde ich dreister und ging öfter ins Theater, immer auf Stehplatz ins Parkett. Mit zärtlichem Interesse betrachtete ich eine junge Schauspielerin, Fräulein Kably.So die eingebürgerte Lesart. Nach Arbelet,»Jeunesse de Stendhal«, hieß sie Virginie Cubly. Bald war ich sterblich in sie verliebt. Gesprochen habe ich mit ihr nie. Sie war ein ziemlich großes Mädchen mit Adlernase, hübsch, schlank und gut gebaut. Sie besaß noch die Magerkeit der ersten Jugend, aber ein ernstes, oft schwermütiges Antlitz.

Alles war neu für mich in dem seltsamen Wahnsinn, der plötzlich alle meine Gedanken beherrschte. Jedes andere Interesse erlosch bei mir. Kaum erkannte ich das Gefühl wieder, dessen Schilderung mich in der »Neuen Heloise« entzückt hatte; noch weniger war es das wollüstige Gefühl der »Felicia«. Ich wurde völlig gleichgültig und gerecht gegenüber meiner ganzen Umgebung; damals erstarb auch mein Haß auf meine tote Tante Seraphie.

Fräulein Kably spielte Liebhaberinnenrollen im Lustspiel und sang auch in der komischen Oper.

Man begreift wohl, daß das echte Lustspiel nichts für mich war. Mein Großvater redete mir zwar stets die Ohren voll mit dem großen Wort »Kenntnis des Menschenherzens«, aber was konnte ich über dies Menschenherz wissen? Höchstens ein paar Vermutungen, die ich mir zusammengelesen hatte, besonders aus dem »Don Quichotte«, wohl dem einzigen Buche, gegen das ich kein Mißtrauen hegte. Alle übrigen waren mir ja von meinen Tyrannen empfohlen worden, und als Neubekehrter enthielt sich mein Großvater aller Scherze über die Bücher, die mein Vater und Seraphie mir zu lesen gegeben.

Was ich brauchte, war also das romantische Lustspiel, oder vielmehr ein Schauspiel, in dem wohl unglückliche Liebschaften, aber keine Geldnöte vorkamen. Traurige Stücke, die auf Geldnöten beruhten, haben mich stets als spießbürgerlich und allzu naturwahr abgestoßen.

Fräulein Kably glänzte besonders in Florians »Claudine«.Eine dreiaktige Prosakomödie von Pigault-Lebrun nach einer 1793 veröffentlichten Novelle von Florian, 1797 in Paris zuerst aufgeführt, vermutlich 1798 in Grenoble. Beyle war damals fünfzehn Jahre alt. Das obige Motiv aus »Claudine« hat er später in seiner Novelle »Minna Wangel« verwertet. (Arbelet, »Jeunesse«, 357, 361.) Eine junge Savoyardin, die von einem eleganten Reisenden ein Kind gehabt hat, legt Männerkleider an und geht mit ihrem Murmeltier nach Turin, wo sie auf einem öffentlichen Platz das Handwerk des Stiefelputzers ausübt. Sie findet ihren noch immer geliebten Freund wieder und wird sein Diener, aber er will sich verheiraten. Der Darsteller des Liebhabers – er hieß Poussi, wie mir nach so langer Zeit plötzlich wieder einfällt – ruft in einem gewissen Augenblick, wo er seinen Diener ausschilt, weil er schlecht von seiner Braut spricht, mit dem natürlichsten Ausdruck: »Claudio! Claudio!« Sein Tonfall klingt noch heute in meiner Seele wider; ich sehe den Darsteller noch vor mir.

Das Stück wurde auf Wunsch des Publikums einige Monate lang häufig gegeben. Es gewährte mir den lebhaftesten Genuß, den ein Kunstwerk mir hätte geben können, wäre mein eigentlicher Genuß nicht seit lange eine zärtliche, treue und tolle Bewunderung gewesen. Ich wagte Fräulein Kablys Namen nicht auszusprechen. Nannte ihn jemand in meiner Gegenwart, so empfand ich eine seltsame Herzensregung und fiel beinahe um. Meine Pulse flogen. Sagte jemand etwa »die Kably« statt Fräulein Kably, so hatte ich ein kaum bezwingbares Gefühl von Haß und Abscheu.

Mit ihrem dünnen Stimmchen sang sie auch in der Oper »Der nichtige Vertrag« von Gaveau,Auch dies Stück wurde 1797 zuerst in Paris aufgeführt. (Arbelet, 1. c.) einem Armen im Geist, der ein paar Jahre später im Wahnsinn starb. Dort begann meine Liebe zur Musik, die vielleicht meine stärkste und kostspieligste Leidenschaft gewesen ist. Sie beherrscht mich noch jetzt mit zweiundfünfzig Jahren und ist lebendiger denn je. Ich weiß nicht, wieviel Meilen ich zu Fuß zurücklegen oder wieviel Tage Gefängnis ich auf mich nehmen würde, um Mozarts »Don Juan« oder Cimarosas »Matrimanio segreto« zu hören, und ich weiß nicht, für was sonst ich dies Opfer brächte. Leider verabscheue ich alle mittelmäßige Musik; sie ist in meinen Augen eine Satire gegen die gute, z. B. Donizettis »Furioso«, den ich gestern abend in Rom im Valletheater hörte. Die Italiener sind darin ganz anders als ich; sie mögen eine Musik nicht mehr, wenn sie fünf bis sechs Jahre alt ist. Neulich sagte einer zu mir: »Kann eine Musik, die ein Jahr alt ist, gut sein?« Doch mein Gott, wie schweife ich wieder ab!

Ich lernte also mit Wonne die dünne, abgehackte, säuerliche Musik des »Nichtigen Vertrages« auswendig. Ein leidlicher Schauspieler, der ganz lustig die Bedientenrolle spielte – heute erkenne ich, daß er die echte Sorglosigkeit eines armen Teufels besaß, der zu Hause nur auf traurige Gedanken kommt und daher mit Freuden in seiner Rolle aufgeht – gab mir den ersten Begriff vom Komischen ... Er brachte mich herzlich zum Lachen, solange Fräulein Kably nicht auftrat; sprach er mit ihr, so war ich gerührt und bezaubert. Eine Landschaft von der Größe eines Wechselbriefes, in der viel Gummigutti, durch Braun verstärkt, vorkam – ich hatte sie von Le Roy gekauft und kopierte sie mit Wonne – schien mir völlig das gleiche wie das Spiel dieser komischen Figur. Daher kommt es vielleicht, daß ein Musikstück oder ein Gemälde bei mir noch heute oft den gleichen Eindruck hervorruft. Wie oft ist mir das nicht in der Brera in Mailand (1812 und 1814) begegnet!

Die enge Verbindung zwischen diesen beiden Künsten vollzog sich bei mir für immer im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren, durch vier bis fünf Monate lebhaftesten Glücksgefühls und der stärksten, fast bis zum Schmerz gesteigerten Wonne, die ich je empfunden habe.

Fräulein Kably sang auch in Grétrys »Probe auf dem Dorfe«,1783. die weit besser war als der »Nichtige Vertrag«, und in anderen Opern. Kurz, dank Fräulein Kably erhob ich alle schlechten Opern von 1794 in den Himmel; nichts erschien mir platt und gewöhnlich, sobald sie auftrat.

Eines Tages nahm ich allen Mut zusammen und erkundigte mich, wo sie wohnte. Das ist wahrscheinlich die größte Heldentat meines Lebens. »In der Rue des Clercs«, war die Antwort. An Tagen, wo ich großen Mut hatte, ging ich pochenden Herzens durch diese Straße. Vielleicht wäre ich umgefallen, wenn ich ihr begegnet wäre. Ich fühlte mich sehr erleichtert, wenn ich die Straße durchschritten hatte und sicher war, ihr nicht mehr zu begegnen.

Eines Morgens ging ich allein am Ende der hohen Kastanienallee im Stadtgarten, wie stets an sie denkend, als ich sie am andern Ende des Gartens vor der Mauer des IntendanturgebäudesDes Rathauses. erblickte. Ich wurde fast ohnmächtig und nahm schließlich Reißaus, wie vom Teufel verfolgt. Zum Glück bemerkte sie mich nicht, zumal ich ihr völlig unbekannt war. Das ist ein hervorstechender Zug meines Charakters; so war ich stets (selbst vorgestern noch). Das Glück, sie in der Nähe, ein paar Schritt von mir zu sehen, war zu groß; es versengte mich und ich floh vor diesem Brand wie vor einem wirklichen Schmerz. Diese Eigentümlichkeit läßt mich glauben, daß ich in der Liebe das melancholische Temperament besaß, wie es Cabanis beschreibt.

Tatsächlich war die Liebe für mich stets die Hauptsache, oder vielmehr das Einzigste. Vor nichts habe ich mich mehr gefürchtet, als daß meine Geliebte einen Nebenbuhler vertraulich anblickte. Mein Groll auf den Nebenbuhler ist sehr gering; er tut, was er kann, sage ich mir; aber mein Schmerz ist grenzenlos und stechend. Er ist so stark, daß ich mich vor der Haustür auf eine Steinbank setzen muß. An dem bevorzugten Nebenbuhler bewundre ich alles. Kein anderer Kummer übt auf mich den tausendsten Teil dieser Wirkung aus.

Beim Schreiben bin ich weder schüchtern noch schwermütig. Ich trotze der Gefahr, ausgepfiffen zu werden. Ich fühle mich mutig und stolz, wenn ich einen Satz schreibe, der von einem der heutigen Großen (Chateaubriand oder Villemain) verworfen würde. Um 1880 wird es gewiß auch ein paar geschickte, maßvolle Modeschriftsteller und Marktschreier dieser Art geben. Aber wenn man diese Zeilen liest, hält man mich gewiß für neidisch, und das macht mich untröstlich: dies gemeine spießbürgerliche Laster liegt meinem Charakter wohl gänzlich fern. Tödlich eifersüchtig bin ich nur auf Leute, die meiner Geliebten den Hof machen, ja sogar auf solche, die es vor zehn Jahren getan haben...

Seit einer Stunde finde ich großes Vergnügen daran, meine Empfindungen zur Zeit von Fräulein Kably richtig zu schildern, aber wer zum Teufel wird den Mut haben, diese schreckliche Häufung von Ichs und Michs zu lesen? Dabei kann ich dies fade Gericht nicht mal mit einer marktschreierischen Sauce würzen, wie Rousseau in seinen »Bekenntnissen« ... Ach, auch wegen dieser Bemerkung wird man mich für einen Neidbold halten, der einen grauenhaft sinnlosen Vergleich mit dem Meisterwerk dieses großen Schriftstellers ziehen will!

Ich schwöre noch einmal und ein für allemal: ich hege eine gewaltige, ehrliche Verachtung gegen alle Aufschneider, bestochenen Pedanten und Jesuiten vom »Journal des Débats«, aber deshalb halte ich mich noch lange nicht für einen großen Schriftsteller. Ich schreibe mir kein andres Verdienst zu, als die Natur ähnlich zu schildern. Zweitens bin ich meiner völligen Ehrlichkeit, meiner Verehrung der Wahrheit gewiß, und drittens meiner Schreiblust, die im Jahre 1817 in Mailand in der Corsia del Giardino bis zur Schreibwut ging.


 << zurück weiter >>