Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Vierzigstes Kapitel

Mailand

Civitavecchia, 15. bis 17. März 1836.

An einem herrlichen Frühjahrsmorgen – o welcher Frühling und in welchem Lande! – ritt ich in Mailand ein. Ich sah Martial drei Schritte von mir neben meinem Pferde. Ich sehe ihn noch. Es war in der Corsia del Giardino, am Anfang der Corsia di Porta Nova. Er trug den blauen Waffenrock und den betreßten Hut eines Generaladjutanten. Er war hocherfreut, mich zu sehen.

»Man hielt dich für verschollen«, sagte er.

»Mein Pferd war in Genf krank«, entgegnete ich.

»Ich will dir das Haus zeigen; es ist nur ein paar Schritte von hier.«

Ich verabschiedete mich von dem Kapitän Burelvillers; ich habe ihn nie mehr gesehen. Martial kehrte um und führte mich nach der Casa d'Adda.

Die Front des Gebäudes war unfertig; der größte Teil war in Ziegelrohbau wie San Lorenzo in Florenz. Ich kam in einen prächtigen Hof, saß ab und bewunderte alles voller Staunen. Dann stieg ich eine prachtvolle Treppe hinauf. Martials Diener schnallten meinen Mantelsack ab und führten mein Pferd fort. Ich ging mit ihm hinauf und befand mich alsbald in einem prächtigen Saal mit dem Blick auf die Corsia. Zum erstenmal machte mir die Architektur Eindruck. Bald wurden ausgezeichnete panierte Koteletten gebracht; dies Gericht hat mich jahrelang an Mailand erinnert.

Diese Stadt wurde für mich der schönste Ort der Welt. Für die Schönheiten meines Vaterlandes habe ich keinen Sinn; gegen meine Geburtsstadt hege ich eine Abneigung, die bis zum körperlichen Übelwerden geht. Mailand war für mich von 1800 bis 1821 der Ort, wo ich dauernd zu leben wünschte. Im Jahre 1800 habe ich ein paar Monate dort verbracht; es war die schönste Zeit meines Lebens. In den Jahren 1801 und 1802 besuchte ich es, sooft ich konnte; ich stand in Garnison in Brescia und Bergamo; und schließlich habe ich von 1815 bis 1821 nach eigner Wahl dort gelebt. Nur mein Verstand sagt mir, selbst im Jahre 1836, daß Paris den Vorzug verdient. Im Jahre 1803 oder 1804 wagte ich in Martials Arbeitszimmer nicht zu einem Stich aufzublicken, der die Aussicht auf den Mailänder Dom zeigte; die Erinnerung war zu zart und tat mir weh.

Es mochte Ende Mai oder Anfang Juni sein, als ich die Casa d'Adda betrat: dieser Name ist mir heilig geblieben. Martial war reizend gegen mich und ist es tatsächlich stets geblieben. Es tut mir leid, daß ich das bei seinen Lebzeiten nicht besser erkannt habe; da er erstaunlich viel kleinliche Eitelkeit besaß, schonte ich sie. Aber was ich ihm damals aus Höflichkeit sagte (ich begann sie zu lernen) und wohl auch aus Freundschaft, das hätte ich ihm aus begeisterter Freundschaft und aus Dankbarkeit sagen müssen.

Er war gar nicht romantisch, ich aber trieb diese Schwäche bis zum Wahnsinn. Ihr Fehlen ließ ihn in meinen Augen oberflächlich erscheinen. Bei mir erstreckte sich das Romantische auf die Liebe, auf die Tapferkeit, auf alles ...

Vom Ende Mai bis zum Oktober oder November 1800, wo ich Leutnant bei den sechsten Dragonern wurde, fand ich fünf bis sechs Monate himmlischen, vollkommnen Glücks. Man kann den Teil des Himmels in der Nähe der Sonne nicht deutlich erkennen. Aus dem gleichen Grunde fiele es mir schwer, meine Liebe zu Angela Pietragrua zu beschreiben. Wie soll man soviel Torheiten vernünftig darstellen oder auch nur verständlich machen? Ich fange schon an, Schreibfehler zu machen, wie es mir in den großen Ekstasen der Leidenschaft geschieht, und doch liegt das alles um sechsunddreißig Jahre zurück! Verzeih mir, geneigter Leser! Oder, wenn du über dreißig Jahre alt bist oder mit dreißig Jahren eine prosaische Seele hast, klappe dies Buch zu!

Wird man es mir glauben? Dieser himmlischen, leidenschaftlichen Liebe, die mich ganz der Erde entrückte und mich in die himmlischsten, köstlichsten, erwünschtesten Träume versetzte, wurde erst im September 1811 der sogenannte Lohn zuteil! Elf Jahre, wo nicht der Treue, so doch einer Art von Beständigkeit. Die Frau, die ich liebte und bei der ich Gegenliebe zu finden glaubte, hatte noch andre Liebhaber,Angela Pietragrua, geb. Borrone, damals dreiundzwanzig Jahre alt, war zu jener Zeit die Geliebte des Kriegskommissars Louis Joinville. Näheres im Tagebuch aus Italien von 1811. aber sie würde mich bei gleichem Range vorziehen, sagte ich mir.

Ich bin eine Viertelstunde ausgegangen, bevor ich weiter schreibe. Wie soll ich jene Zeit vernünftig darstellen und dabei meinem Gegenstand gerecht werden? Ich will ja nicht sagen, was die Dinge waren – das entdecke ich wohl erst jetzt im Jahre 1836, aber wenn ich das schreibe, was sie für mich im Jahre 1800 waren, so würfe der Leser das Buch fort. Was soll ich tun? Welchen Entschluß fassen?

Ist der Leser je wahnsinnig verliebt gewesen? Hat er je das Glück gehabt, mit der Frau, die er im Leben am meisten geliebt hat, eine Nacht zu verbringen? Doch ich fühle, ich werde lächerlich oder vielmehr unglaubwürdig. Meine Hand versagt mir den Dienst. Ich bin wie ein Maler, der nicht mehr den Mut hat, ein Stück seines Gemäldes zu vollenden. Um das Ganze nicht zu verderben, skizziert er das, was er nicht malen kann. Man verdirbt so holde Erinnerungen, wenn man sie erzählt.

(Ende der Handschrift.)

Testament

Ich vermache und schenke dies Manuskript »Das Leben des Henri Brulard« sowie alle meine Lebenserinnerungen Herrn Abraham Constantin, Ritter der Ehrenlegion, und wenn er es nicht veröffentlicht, dem Verleger, Herrn Alphonse Levavasseur, Place Vendôme. Wenn er vor mir stirbt, vermache ich es nacheinander den Verlegern Lavocat, Fournier, Amyot, Treuttel und Würtz, Didot unter der Bedingung:

  1. Vor der Drucklegung alle Frauennamen völlig zu verändern und alle Männernamen stehen zu lassen.
  2. Exemplare an die Bibliotheken zu Edinburg, Philadelphia, Neu-York, Mexiko, Madrid und Braunschweig zu senden.
  3. Das Werk erst nach meinem Tode zu drucken.

Civitavecchia, 30. November 1835.

H. Beyle.

Testament

Ich vermache und schenke den vorliegenden Band dem Porzellanmaler, Herrn Abraham Constantin aus Genf. Läßt Herr Abraham Constantin ihn nicht binnen tausend Tagen nach meinem Tode drucken, so vermache und schenke ich diesen Band nacheinander dem Verleger, Herrn Alphonse Levavasseur, Place Vendôme Nr. 7, dem Schriftsteller Philarète Chasles, dem Verleger Henri Fournier, Rue de la Seine, dem Verleger Paulin, dem Verleger Delauney, und wenn keiner dieser Herren es für vorteilhaft hält, ihn in den fünf, auf meinen Tod folgenden Jahren zu drucken, hinterlasse ich diesen Band dem ältesten Verleger in London, dessen Name mit einem C. anfängt.

Civitavecchia, 24. Dezember 1835.

H. B.


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