Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Erinnerungen eines Ichmenschen (Souvenirs d'egotisme)

Erstes Kapitel

Rom, 20. Juni 1832.

Um meine Mußestunden in diesem fremden Lande auszufüllen, möchte ich eine kleine Denkschrift über meine Erlebnisse während meines letzten Aufenthaltes in Paris vom 21. Juni 1821 bis 6. November 1830 aufsetzen. Seit zwei Monaten, seit ich die Neuheit meiner Lage überwunden habe, quäle ich mich selbst, irgendeine Arbeit vorzunehmen. Ohne Arbeit hat das Lebensschiff keinen Ballast.

Ich gestehe, mir fehlte der Mut zum Schreiben, hätte ich nicht die Hoffnung, daß diese Blätter eines Tages gedruckt werden und daß irgendeine Seele, die ich liebe, sie liest, ein Wesen wie Madame Roland [S. Seite 8. Sie wünschte er sich auch als Leserin seines Buches »Über die Liebe« (Band IV dieser Ausgabe, S. 28). oder der Mathematiker Gros.Seite 155 ff. Aber die Augen, die dies lesen werden, haben kaum das Licht der Welt erblickt. Meine künftigen Leser dürften jetzt zehn bis zwölf Jahre zählen.

Habe ich mir soviel Glück wie möglich aus den Verhältnissen gesogen, in die mich der Zufall in den neun Jahren meines Pariser Aufenthaltes geworfen hat? Was für ein Mensch bin ich? Habe ich gesunden Verstand? Habe ich einen tiefen gesunden Verstand? Habe ich einen bemerkenswerten Geist? Wahrlich, ich weiß es nicht. Bei meinen täglichen Erlebnissen stelle ich mir diese Grundfragen selten, und zudem wechseln meine Urteile mit meiner Stimmung. Meine Urteile sind bloße Einfälle.

Sehen wir zu, ob ich bei dieser Gewissensprüfung mit der Feder in der Hand etwas Tatsächliches erreiche, das für mich lange als wahr gilt. Was werde ich von dem halten, was ich hier niederschreibe, wenn ich es im Jahre 1835 wieder durchlese, falls ich dann noch am Leben bin? Wird es wie bei meinen gedruckten Werken sein, die ich nur mit tiefer Schwermut wieder lese, wenn ich keine anderen Bücher habe?

Seit den vier Wochen, wo ich daran denke, fühle ich einen wahren Widerwillen dagegen, nur von mir zu sprechen, von der Anzahl meiner Hemden, von dem, was meiner Eigenliebe zustieß. Andrerseits bin ich fern von Frankreich und habe alle Bücher gelesen, die in dies Land (Italien) eindringen. Meiner Herzensneigung folgend, hätte ich gern einen Roman über eine Liebesgeschichte geschrieben, die sich 1813 in Dresden in meinem Nachbarhause zutrug. Aber meine kleinen Amtspflichten stören mich zu oft, oder besser gesagt, wenn ich mein Papier vornehme, bin ich nie sicher, eine Stunde lang nicht unterbrochen zu werden. Solche kleinen Störungen ertöten meine Phantasie völlig. Nehme ich mein Phantasiegebilde wieder auf, so ist es mir verleidet. Darauf wird ein kluger Mann antworten: man muß sich bezwingen. Darauf entgegne ich: Es ist zu spät. Ich bin neunundvierzig Jahre alt. Nach so viel Abenteuern wird es Zeit, an ein möglichst gutes Lebensende zu denken.

Mein Hauptbedenken war nicht die Eitelkeit, die darin liegt, sein Leben zu beschreiben. Ein Buch über diesen Gegenstand ist wie jedes andre; ist es langweilig, so wird es sehr bald vergessen. Ich fürchtete, die glücklichen Augenblicke meines Lebens durch ihre Beschreibung und Zergliederung zu entweihen. Das also will ich nicht; ich werde das Glück übergehen.

Der Geist der Poesie ist tot, doch der Geist des Mißtrauens ist in die Welt gedrungen. Ich bin fest überzeugt, das einzige Mittel, um dem Leser die ewigen Ichs erträglich zu machen, ist völlige Aufrichtigkeit. Werde ich den Mut haben, demütigende Dinge ohne endlose Beschönigungen zu schreiben? Ich hoffe es...

Ich kenne mich selbst nicht, und das bringt mich manchmal in Verzweiflung, wenn ich des Nachts darüber nachsinne. Habe ich es verstanden, das Beste aus den Zufällen zu machen, in die mich die Allmacht des (stets verehrten) Napoleon im Jahre 1810 versetzte? Oder aus unserm Sturz in den Dreck im Jahre 1814 und unsern Anstrengungen im Jahre 1830, wieder herauszukommen? Ich fürchte, nein. Ich habe aus Laune und Zufall gehandelt. Hätte mich jemand in der gleichen Lage um Rat gefragt, so hätte ich ihm oft wichtige Ratschläge gegeben. Freunde und geistige Nebenbuhler haben mir das hoch angerechnet.

Im Jahre 1814 bot mir der Polizeiminister Graf Beugnot die Stellung eines Direktors des Verpflegungswesens von Paris an. Ich bewarb mich um nichts, ich hätte die Stellung sehr gut annehmen können. Ich gab Beugnot, einem Manne, der eitel wie zwei Franzosen war, eine Antwort, die ihn nicht gerade ermutigte; er muß sehr verletzt gewesen sein. Der Mann, der an meine Stelle kam,Van Lerbergue. (Chuquet 147.) trat nach vier bis fünf Jahren zurück; er war des Geldverdienens müde und soll nicht gestohlen haben. Meine grenzenlose Verachtung für die Bourbonen bewog mich, Paris wenige Tage nach Ablehnung des verbindlichen Anerbietens des Grafen Beugnot zu verlassen. Mein Herz war durch den Sieg alles dessen zerrissen, was ich verachtete und nicht hassen konnte. Es fand einige Erquickung an der aufkeimenden Liebe zur Gräfin Curial,Im Urtext der Deckname Gräfin Dulong. Gräfin Clementine Curial war die Tochter der Gräfin Beugnot, der Beyle sein Erstlingswerk, die »Briefe über Haydn, Mozart und Metastasio«, gewidmet hatte. die ich täglich im Hause Beugnots sah und die zehn Jahre später eine große Rolle in meinem Leben gespielt hat. Damals zeichnete sie mich aus, nicht weil ich liebenswürdig war, sondern als Sonderling. Sie sah mich als Freund einer recht häßlichen Frau von großem Charakter, der Gräfin Beugnot. Ich habe stets bereut, sie nicht geliebt zu haben. Wie herrlich ist es, mit einem geistig hochstehenden Wesen vertraulich zu sprechen.

Diese Einleitung ist recht lang geworden, aber ich muß mit einem so traurigen und heiklen Thema beginnen, daß mein Verstand mich schon warnt und ich Lust habe, die Feder fortzulegen. Aber im ersten Augenblick der Einsamkeit würde es mich gereuen.

Ich verließ Mailand, um nach Paris zu gehen, im Juni 1821, mit einer Barschaft von 3500 Franken. Ich glaube, ich hielt es für das einzige Glück, mich nach dem Verbrauch dieser Summe totzuschießen. Nach dreijährigen vertrauten Beziehungen verließ ich eine Frau,Mathilde Dembowska, geb. Viscontini (1790–1825), die Gattin des Generals Dembowski, eines geborenen Polen, der Brigadegeneral in der Armee des Vizekönigs Eugen Beauharnais gewesen war. Paul Arbelet hat in der »Revue bleue« vom 29. April 1905 ein eigenartiges Romanfragment veröffentlicht, worin Beyle – unter den ihm geläufigen Standeserhöhungen – seine unglückliche Liebe zu ihr künstlerisch zu gestalten suchte, um dadurch ihr Herz zu rühren. – Ihr Bildnis in der 2. Auflage des Buches »Über die Liebe« (Band 4 dieser Ausgabe). die ich anbetete, die mich liebte und die mich doch nie erhört hat. Nach so vielen Jahren suche ich noch die Gründe ihres Verhaltens zu erraten. Sie stand in schlimmem Rufe, obwohl sie nur einen einzigen Liebhaber gehabt hatte, aber die Damen der Mailänder Gesellschaft rächten sich derart an ihrer Überlegenheit. Die arme Mathilde verstand es nie, gegen diesen Feind vorzugehen, noch ihn zu verachten. Eines Tages, wenn ich sehr alt, sehr kalt geworden bin, werde ich vielleicht den Mut finden, von den Jahren 1818 bis 1821 zu sprechen.

Im Jahre 1821 widerstand ich nur mit großer Mühe der Versuchung, mich totzuschießen. Ich zeichnete eine Pistole an den Rand eines schlechten Liebesdramas. Vielleicht geschah es aus politischer Neugier, daß ich damals kein Ende machte. Vielleicht auch hatte ich unbewußt Angst, mir weh zu tun. Schließlich nahm ich Abschied von Mathilde.

»Wann kommen Sie wieder?« fragte sie.

»Ich hoffe, nie.«

Es kam zu einer letzten Stunde voller Ausflüchte und vergeblicher Worte. Ein einziges hätte mein Leben anders gestalten können, ach! für nicht lange. Diese engelhafte Seele in einem so schönen Körper ist im Jahre 1825 aus dem Leben geschieden.

Endlich reiste ich ab, in einem Zustande, den man sich vorstellen kann. Von Mailand fuhr ich nach Como, jeden Augenblick in Furcht und fast überzeugt, daß ich umkehren würde. Diese Stadt, in der ich nicht länger bleiben zu können glaubte, ohne zu sterben, ich konnte sie nicht ohne das Gefühl verlassen, man entrisse mir meine Seele. Mir war, als ließe ich dort mein Leben. Was sage ich: gab es ein Leben ohne sie? Bei jedem Schritt, der mich von ihr entfernte, fühlte ich mein Leben entschwinden. Ich atmete nur noch mit Seufzen. (Shelley.)

Bald war ich ganz verblödet. Ich unterhielt mich mit den Postillionen und ging ernstlich auf ihre Betrachtungen über die Weinpreise ein. Das Schrecklichste war, daß ich mich dabei selbst beobachtete. Ich fuhr über Lugano, Bellinzona, Airolo. Beim Klang dieser Namen schaudere ich noch heute.

Ich gelangte zum Sankt Gotthard, der damals noch schrecklich war. Ich ritt über den Paß, in der stillen Hoffnung, zu stürzen und mich gründlich aufzuschinden. Obgleich ich alter Kavallerieoffizier bin und mit dem Pferd oft gestürzt bin, habe ich doch eine Scheu vor dem Sturz auf Geröll, das unter der Last des Pferdes nachgibt. Der Führer, der mich begleitete, hielt mich schließlich an und sagte, ihm läge zwar wenig an meinem Leben, aber sein Verdienst würde geschmälert und niemand würde ihn mehr annehmen, wenn man erführe, daß einer seiner Reisenden abgestürzt sei. Ich behauptete, krank zu sein und nicht gehen zu können.

Mit diesem Führer, der sein Schicksal verfluchte, kam ich bis Altdorf. Ich starrte alles blöde an. Ich bin ein großer Verehrer Wilhelm Tells, obwohl die Lohnschreiber aller Länder behaupten, er hätte gar nicht gelebt. In Altdorf, glaube ich, rührte mich ein schlechtes steinernes Standbild Tells, eben weil es schlecht war. So also, sagte ich mir mit sanfter Schwermut, der zum erstenmal die starre Verzweiflung wich, so also gestalten sich die schönsten Dinge in den Augen gemeiner Menschen. So erschien Mathilde im Salon der Frau Traversi. Der Anblick dieses Standbildes tröstete mich etwas. Ich fragte nach der Tellskapelle.

»Sie werden sie morgen sehen.«

Am nächsten Morgen bestieg ich ein Boot in recht übler Gesellschaft; es waren Schweizer Offiziere aus der Schweizer Garde Ludwigs XVIII., die nach Paris fuhren.

Hierher gehört eine vier Seiten lange Beschreibung von Altdorf, Gersau, Luzern, Basel, Belfort, Langres und Paris. Da ich aber nur von geistigen Dingen schreibe, langweilt mich eine Schilderung von Äußerlichkeiten. Frankreich und besonders die Umgegend von Paris hat mir stets mißfallen, ein Beweis, daß ich ein schlechter Franzose und ein boshafter Mensch bin, wie mir später Cuviers Schwiegertochter sagte.

Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich von Basel nach Belfort kam und statt der hohen, wenn auch nicht schönen Schweizer Berge die scheußliche flache Champagne sah. Wie häßlich sind die Frauen! sagte ich mir in einem Dorfe, wo ich sie mit blauen Strümpfen und Holzschuhen sah. Später sagte ich mir jedoch: Wie höflich, wie zuvorkommend sind sie! Welches Gerechtigkeitsgefühl in ihren bäurischen Gesprächen!

Langres hat eine Lage wie Volterra, eine Stadt, die mir damals teuer war – als Schauplatz einer meiner kühnsten Taten in meinem Kriege mit Mathilde.Er war ihr im Juni 1818 nach Volterra nachgereist und hatte sie bis in die Schulanstalt verfolgt, wo ihre beiden Söhne waren. Ich dachte an Diderot – bekanntlich der Sohn eines Messerschmieds aus Langres – und an seinen »Jacques le fataliste«, das einzige Werk von ihm, das ich schätze, und zwar weit höher als die »Reise des Anacharsis«»Voyage du jeune Anacharsis en Grèce« (Paris 1788, 4 Bde.) vom Abbé Jean Jacques Barthélemy (1716–95). und hundert andre, von Pedanten geschätzte Schmöker.

Das schlimmste Unglück, rief ich aus, wäre das, wenn die nüchternen Menschen, meine Freunde, unter denen ich nun leben werde, meine Leidenschaft zu einer Frau verrieten, die mich nie erhört hat!

Das sagte ich mir im Juni 1821. Jetzt, im Juni 1832, erkenne ich zum erstenmal, daß diese ewig wiederkehrende Furcht zehn Jahre lang das Leitmotiv meines Lebens war. Deswegen bin ich geistreich geworden, etwas, das mir im Jahre 1818 in Mailand, als ich Mathilde liebte, äußerst verächtlich war.

Ich fand Paris mehr als häßlich, es beleidigte meinen Schmerz. Ich hatte nur den einen Gedanken: nicht erraten zu werden. Ich zog in die Rue Richelieu, ins Hotel de Bruxelles, das ein gewisser Petit, ein früherer Kammerdiener des Herrn von Damas, führte. Durch seine Höflichkeit, Grazie und Schlagfertigkeit, seine völlige Gefühlsarmut, seinen Abscheu vor jeder tiefen Seelenregung, seine lebhafte Erinnerung an Freuden der Eitelkeit, auch wenn sie dreißig Jahre zurücklagen, seine völlige Ehrlichkeit in Geldsachen erschien er mir als das Muster eines Franzosen von ehemals. Ich gab ihm schleunigst den Rest meiner Barschaft von 3000 Franken zum Aufheben. Gegen meinen Willen stellte er mir eine Quittung aus, die ich umgehend verlor. Das verdroß ihn sehr, als ich mir nach ein paar Monaten mein Geld zurückgeben ließ, um nach England zu reisen, wohin mich der völlige Ekel vor Paris trieb.

Ich habe sehr wenig Erinnerungen an jene leidenschaftlichen Zeiten; die Dinge glitten unbemerkt von mir ab, oder wenn ich sie wahrnahm, verachtete ich sie. Meine Gedanken weilten in Mailand auf der Piazza Belgiojoso. Ich muß mich sammeln, um mich der Häuser zu erinnern, in denen ich in Paris verkehrte.


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