Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Ein Duell

Rom, 19. bis 22. Januar 1836.

Eines Tages, wir hatten zwei Modelle, hinderte mich der lange Odru aus der Lateinklasse am Sehen. Ich gab ihm eine gewaltige Maulschelle. Einen Augenblick darauf, als ich mich wieder gesetzt hatte, zog er mir den Stuhl von hinten weg, so daß ich auf mein Gesäß fiel. Er war einen Fuß größer als ich und haßte mich sehr. Auf dem Gange hatte ich im Verein mit zwei andern eine riesige Karikatur auf ihn gezeichnet und darunter geschrieben: »Odruas Kambin«. Er wurde rot, wenn man ihn Odruas nannte, und er sagte Kambin statt quand bien.

Sofort wurde ein Zweikampf auf Pistolen beschlossen. Wir liefen in den Hof hinab; Herr Jay wollte sich ins Mittel legen, aber wir nahmen Reißaus. Die ganze Schule folgte uns. Ich bat Maurice Diday, der dabei war, mein Sekundant zu sein; ich war sehr verwirrt, aber voller Kampfesglut. Wir schlugen den Weg nach der Porte de la Graille ein, sehr belästigt durch unser Geleit. Wir mußten uns Pistolen verschaffen, und das war nicht leicht. Schließlich bekam ich eine acht Zoll lange Pistole. Ich sah Odru zwanzig Schritt vor mir gehen; er überschüttete mich mit Schmähungen. Man ließ uns nicht zusammen; er hätte mich mit einem Faustschlag getötet.

Ich antwortete auf seine Schmähungen nicht, aber ich zitterte vor Wut. Ich will nicht behaupten, daß ich keine Angst gehabt hätte, wäre das Duell in der gewöhnlichen Form verlaufen, wo vier bis sechs Beteiligte des Morgens um sechs Uhr kalt in einer Droschke sitzen und eine Stunde weit aus einer Stadt fortfahren.

Diese Prozession halbwüchsiger Knaben war ebenso lächerlich wie unbequem für uns. Die Wache an der Porte de la Graille wäre beinahe ins Gewehr getreten. Sobald wir aus irgendeinem Grunde stehen blieben, schrie alles: »Werden sie sich schießen oder nicht?« Endlich, nach halbstündiger Verfolgung, als es schon dunkelte, ließen die Bengels von uns ab. Wir stiegen in den einen Fuß tiefen Stadtgraben hinab oder blieben am Rande stehen.

Dort wurden die Pistolen geladen, es wurde eine Anzahl furchtbarer Schritte abgeschritten und ich sagte mir: »Nun gilt es, Mut haben!« Ich weiß nicht, warum Odru den ersten Schuß hatte. Ich starrte auf ein kleines viereckiges Felsstück gerade über ihm. Ich weiß nicht, warum nicht geschossen wurde. Wahrscheinlich hatten die Sekundanten die Pistolen nicht geladen. Es kommt mir vor, als ob ich gar nicht anschlug. Wir mußten uns vertragen, gaben uns aber nicht die Hand, geschweige denn, daß wir uns umarmten. Der wütende Odru hätte mich durchgebläut.

Auf dem Rückweg sagte ich zu Diday:

»Um keine Angst zu haben, während Odru auf mich anlegte, blickte ich auf den kleinen Felsen oberhalb Seyssins.«

»Dergleichen darfst du nie sagen«, entgegnete er und hielt mir eine Strafpredigt. Ich war sehr erstaunt darüber und bei näherer Überlegung höchst aufgebracht über diese Rüge. Aber am nächsten Tage stellte sich bei mir furchtbare Reue ein, weil ich die Beilegung der Sache zugelassen hatte. Das verletzte all meinen spanischen Stolz. Wie durfte ich es noch wagen, den Cid zu bewundern, nachdem ich mich nicht duelliert hatte? Wie durfte ich noch an Ariosts Helden denken? Wie die großen Gestalten der römischen Geschichte, deren Großtaten ich oft in dem süßlichen Rollin las, noch bewundern und beurteilen? Während ich diese Worte schreibe, habe ich ein Gefühl, als legte ich die Hand auf eine vernarbte Wunde.

Seit meinem zweiten richtigen Zweikampf mit Herrn Raindre (Rittmeister oder Oberst der leichten Artillerie) in Wien im Jahre 1809 habe ich nicht zweimal mehr an dies erste Duell gedacht. Jetzt erkenne ich, daß es mein steter Gewissensbiß in meiner ersten Jugend und der eigentliche Grund für meine Frechheit bei dem Duell in MailandMit Augustin Petiet. war, bei dem Cardon mein Sekundant war.

Im Fall Odru war ich erstaunt, verwirrt und ließ mich gehen. Die Angst, von dem riesigen Burschen verhauen zu werden, machte mich zerstreut; von Zeit zu Zeit hatte ich Anwandlungen vor Angst. Während des zweistündigen Geleitzuges sagte ich mir: »Erst wenn die Entfernung abgeschritten ist, droht dir Gefahr.« Was mich entsetzte, war, wie der arme Lambert auf einer Leiter nach Hause getragen zu werden. Aber ich kam keinen Augenblick auf den Gedanken, daß die Sache beigelegt würde.

Während Odru auf mich anlegte – ich glaube, seine Pistole versagte mehrmals –, studierte ich die Umrisse des kleinen Felsens; die Zeit dünkte mir nicht lang. Kurz, ich spielte nicht Komödie, ich war völlig natürlich und tapfer, prahlte aber nicht mit meinem Mute. Das war verkehrt; ich hätte renommieren sollen. Da ich den festen Vorsatz hatte, mich zu schlagen, hätte ich mir einen Namen in meiner Vaterstadt gemacht, in der man sich häufig duellierte, nicht wie die Neapolitaner von heutzutage, bei denen es kaum Tote gibt, sondern tapfer. Bei meiner großen Jugend und meinem zurückhaltenden, aristokratischen Wesen hätte ich mir einen großen Ruf verschafft, wenn ich den Mund etwas aufgetan hätte.

Aber in großer Gefahr war ich stets schlicht natürlich. Das fand der Herzog von Friaul in Smolensk sehr geschmackvoll, und Herr Daru, der mich nicht liebte, schrieb an seine Frau ein gleiches, ich glaube, aus Wilna, beim Rückzug von Moskau. Aber in den Augen des Pöbels spielte ich nicht die glänzende Rolle, nach der ich nur die Hand auszustrecken brauchte ...

Nach meinem Preis in der Modellklasse, der alle Höflinge des Herrn Jay, die es weitergebracht hatten als ich, gewaltig verdroß, wäre ich ins Feuer gegangen, um am Ende des Jahres nochmals einen Preis davon zu tragen. Das muß ich wohl erreicht haben, sonst hätte ich eine Erinnerung an den Kummer des Mißerfolges.

Ich bekam einstimmig den ersten Preis in der Literatur und einen zweiten Preis in der Mathematik,Den ersten Literaturpreis nebst der Homerübersetzung von Bitaubé erhielt Beyle am 16. September 1798. Zugleich wurde er in die Modellklasse der schwer zu erringen war. Herr Dupuy hatte einen ausgesprochenen Widerwillen gegen meine Klugrednerei. Täglich rief er die Brüder de Monval, de Sinard, de Saint-Ferréol, lauter Adlige – er selbst erhob Ansprüche auf den Adel – ferner den guten Aribert, den er protegierte, den liebenswürdigen Mante usw. an die Tafel, mich dagegen so selten wie möglich, und wenn es geschah, hörte er mir gar nicht zu, was mich demütigte und sehr verwirrte, denn die andern ließ er nicht aus den Augen. Trotzdem faßte ich eine ernste Vorliebe für die Mathematik, und wenn ich auf eine Schwierigkeit stieß, legte ich sie ihm an der Tafel dar. Dann mußte er antworten, aber da lag der Hase im Pfeffer. Er bat mich immerfort, ich möchte ihm meine Zweifel privatim darlegen, um den Unterricht nicht aufzuhalten, und betraute den guten Sinard damit, mir meine Zweifel zu beheben. Sinard war weit stärker als ich (in der Mathematik), aber ehrlich, und so verbrachte er ein bis zwei Stunden damit, meine Zweifel zu zerstreuen, dann sie zu verstehen, und schließlich gab er mir zu, daß er mir keine Antwort geben könne.

Mir scheint, für alle diese guten Jungen, mit Ausnahme Mantes, war die Mathematik bloß eine Sache des Gedächtnisses. Herr Dupuy schien höchst verdutzt über meinen glänzenden ersten Preis in der Literatur. Die Prüfung fand wie stets in Anwesenheit der Mitglieder des Departements, der Schulkommission, aller Lehrer und zwei- bis dreihundert Schüler statt. Ich belustigte die Herren, denn ich sprach gut, und die Herren vom Departement, die sich wunderten, sich nicht zu langweilen, machten mir ein Kompliment und sagten am Schluß der Prüfung:

»Herr Beyle, Sie bekommen den Preis. Aber machen Sie uns den Spaß, noch ein paar Fragen zu beantworten.«

Dieser Triumph ging, soviel ich mich entsinne, der Prüfung in der Mathematik voraus und gab mir ein Ansehen und eine Sicherheit, versetzt (nicht eher, wie er irrtümlich angibt). Die ehrenvolle Erwähnung in der Mathematik hatte er im Vorjahre erhalten. (Arbelet.) infolge deren Herr DupuyEr nannte sich Nupuy de Bordes. mich im folgenden Jahre oft an die Tafel rufen mußte ... Wie gern erinnere ich mich jetzt all dieser kleinen Ereignisse! Damals war ich im Aufstieg des Lebens, und mit glühender Phantasie malte ich mir die künftigen Freuden aus ... Jetzt bin ich im Abstieg.

Nach diesem Triumph im August wagte mein Vater sich nicht mehr so sehr wie früher meiner Jagdpassion zu widersetzen. Er ließ es, wenn auch ungern, zu, daß ich sein Jagdgewehr nahm ... Ich glaube, in jenem Herbst hatte ich das köstliche Vergnügen, eine Wachtel zu schießen. Es war eine der lebhaftesten Freuden meines Lebens. Bei der Heimkehr sagte ich zu einem alten mürrischen Diener, der etwas Jäger war: »Barbier, Ihr Schüler hat von Ihnen gelernt.« Es hätte ihm gewiß mehr Eindruck gemacht, wenn ich ihm zwei Sous geschenkt hätte; zudem verstand er gar nicht, was ich meinte. Sobald ich erregt bin, falle ich in die spanische Geistesart, die ich von meiner Großtante Elisabeth geerbt habe. Schön wie der Cid, pflegte sie zu sagen.

Tief in Träume versunken, durchstreifte ich mit der Flinte im Arm die Weinberge der Umgegend von Furonières. Da mein Vater, der mir in allem entgegenwirkte, mir das Jagen verbot oder es höchstens aus Schwachheit duldete, ging ich fast nie mit richtigen Jägern auf die Jagd, höchstens mit Joseph Brun, der unsere Weinstöcke beschnitt, auf die Fuchsjagd in den Felsklippen von Comboire. Dort postierte ich mich und zürnte mir selbst ob meiner Verträumtheit, denn man hätte mich wachrütteln müssen, wenn ein Fuchs kam. Einmal kam einer auf fünfzehn Schritt langsam an mir vorbeigelaufen. Ich schoß drauflos und traf ihn nicht. Die Gefahr an den abschüssigen Felsen am Dracufer war so groß, daß ich mit meinen Gedanken beim Heimweg war. Die Bauern, mit denen ich jagte, hatten von klein auf ihre Schafherden in diese Felsklippen geführt und zogen im Notfall ihre Schuhe aus. Für mich kam das nicht in Frage, und so ging ich höchstens zwei- bis dreimal in diese Felsen. Weit größere Angst stand ich eines Tages in Schlesien im Jahre 1813 aus, als ich in einem Hanffeld stand und plötzlich achtzehn bis zwanzig Kosaken auf mich zukamen.Das bezieht sich wohl auf den Überfall der Bagage des Großen Hauptquartiers durch 20 Kosaken am 24. Mai 1813, bei der Stendhal zugegen war und über die er einen Bericht (Chuquet 494) aufgesetzt hat. Am 2. Juni in Glogau hat er auch Napoleon darüber berichtet. Vgl. Chuquet, 126ff.

Ich schoß im Jahre 1795Wegen der Preisverteilung wohl erst 1798. noch zwei Wachteln. Die zweite fiel senkrecht auf mich herab und schlug mir fast ins Gesicht. Ich sehe noch die dicken Bluttropfen, die aus ihr hervorquollen. Dies Blut war ein Siegeszeichen. Erst 1808, in Braunschweig, als ich zu den Leitern der Treibjagden gehörte, bei denen fünfzig bis sechzig Hasen geschossen wurden, siegte mein Mitleid über das Jagdvergnügen; heute erscheint mir nichts platter, als einen hübschen Vogel in vier Unzen toten Fleisches zu verwandeln. Ich würde ohne Not keine Mücke töten...

Ich denke noch an einen köstlichen Morgen, wo ich bei warmem Wind und schönem Mondschein mit Barbier aufbrach. Wir gingen zum Jahrmarkt nach Sassenage, der Wiege meiner Familie. Dort waren die Beyles Richter (beyles) gewesen, und der ältere Zweig war 1795 noch ansässig. Dieser Zweig besaß 15-20 000 Franken Einkommen; sie wären mir ohne das Gesetz vom 13. Germinal ganz zugefallen. Mein Patriotismus hat darunter nicht gelitten; allerdings wußte ich damals nicht, was Mangel und harte Brotarbeit heißt. Geld war für mich nur zur Befriedigung der Launen da; da ich jedoch keine Launen hatte, nie in Gesellschaft ging und kein weibliches Wesen sah, war das Geld in meinen Augen nichts.

Ich war damals wie ein großer Fluß, der in einem Wasserfall zu Tale stürzen will, wie der Rhein bei Schaffhausen. Sein Lauf ist noch still, aber alsbald wird er in ungeheurem Sturz aufschäumen. Mein Rheinfall war die Vorliebe für die Mathematik, die mich zunächst als Mittel, aus Grenoble, dem Inbegriff des Spießbürgertums, fortzukommen, dann aber um ihrer selbst willen völlig in Anspruch nahm.

Die Jagd war meine letzte Seelenregung vor der Liebe zur Mathematik. Ich ging freilich, so oft ich konnte, noch zu Victorine Bigillion, aber sie war in jenen Jahren wohl lange Zeit auf dem Lande. Ich verkehrte auch viel mit ihrem älteren Bruder, mit La Bayette, Galle, Barral, Michoud, Colomb und Mareste, aber mein Herz war bei der Mathematik.


 << zurück weiter >>