Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Achtunddreißigstes Kapitel

Der Sankt Bernhard

Civitavecchia, 9. März 1836.

In einer gewissen Höhe wurde die Kälte schneidend. Ein beißender Nebel umgab uns; schon lange war die Straße mit Schnee bedeckt. Bald war es nur noch ein schmaler Pfad zwischen nackten Felswänden; unter der dichten Decke von schmelzendem Schnee lag Steingeröll. Von Zeit zu Zeit scheute mein Pferd vor einem toten Pferde, aber schließlich unterließ es auch das; es war eben nur ein Klepper.

Der Weg wurde immer schlechter. Zum erstenmal kam ich in Gefahr. Sie war zwar nicht groß, aber doch für ein vierzehnjähriges Mädchen, das noch nicht zehnmal im Leben eingeregnet war. Die Gefahr lag also in mir selbst: die Umstände setzen den Menschen herab.

Ich schäme mich nicht, mir gerecht zu werden: ich war dauernd lustig. Wenn ich träumte, so dachte ich darüber nach, mit welchen Worten J. J. Rousseau wohl diese runzeligen, schneebedeckten Berge geschildert hätte, deren Spitzen sich in den dahineilenden dichten grauen Wolken verloren. Mein Pferd stolperte, der Kapitän fluchte und machte ein finsteres Gesicht; sein vorsichtiger Diener, mit dem ich mich angefreundet hatte, war leichenblaß.

Ich war völlig durchnäßt; immerfort wurden wir durch Gruppen von fünfzehn bis zwanzig bergauf marschierenden Soldaten behindert und gehemmt. Nach sechs Jahren heroischer Träumereien erwartete ich Gefühle heldenhafter Freundschaft bei ihnen, aber ich fand nur verbissene, boshafte Egoisten; oft fluchten sie auf uns, weil wir ritten und sie zu Fuße laufen mußten. Noch einen Schritt weiter, und sie raubten uns unsere Pferde. Dieser Anblick des menschlichen Charakters machte mich stutzig, aber ich half mir bald darüber hinweg mit dem Gedanken: Ich sehe also etwas sehr Schwieriges!

Kurz, nach einer Unzahl von Schlangenwindungen, die mir unendlich lang vorkamen, erblickte ich in einer Schlucht zwischen zwei riesigen, spitzen Felsen linker Hand ein niedriges schwarzes Haus, fast von einer vorbeiziehenden Wolke verdeckt. Das Hospiz! Wir erhielten dort wie die ganze Armee ein halbes Glas halb gefrorenen Weines. Wahrscheinlich bekamen wir auch ein Stück Brot und Käse dazu.

Mir ist, als ob wir hineingingen, aber vielleicht haben auch die Beschreibungen vom Innern des Hospizes dies Bild in mir hervorgerufen, das nun, nach sechsunddreißig Jahren, an Stelle der Wirklichkeit tritt. Diese Gefahr der Lüge ist mir gegenwärtig, seit ich an dies wahrheitsgetreue Tagebuch denke. So stelle ich mir den Abstieg sehr deutlich vor. Aber ich muß gestehen, daß ich fünf bis sechs Jahre später einen Stich davon sah, der mir sehr ähnlich schien, und meine Erinnerung ist allein der Stich. Darin liegt auch die Gefahr, sich Stiche von schönen Bildern auf Reisen zu kaufen. Bald verdrängt der Stich die Erinnerung völlig und zerstört das wirkliche Bild. So ist es mir mit der Sixtinischen Madonna in Dresden und dem schönen Stich von Müller ergangen.

Was ich deutlich sehe, ist, daß ich Mühe hatte, mein Pferd am Zügel zu halten; der Pfad bestand aus starren Felsen, auf denen die vier Pferdefüße grade Platz hatten, und dabei machte der Klepper Miene zu stürzen. Rechts war nicht viel Gefahr dabei, aber links klaffte ein Abgrund! Was hatte Herr Daru gesagt, wenn ich sein Pferd verlor! Außerdem waren all meine Habseligkeiten und der größte Teil meines Geldes in dem riesigen Mantelsack.

Der Kapitän fluchte auf seinen Burschen, der ihm sein zweites Pferd wundritt. Er schlug seinem eignen Pferde mit der Gerte auf den Kopf; er war ein heftiger Mensch und fragte im übrigen ganz und gar nicht nach mir. Um das Unglück voll zu machen, kam ein Geschütz vorbei; wir mußten nach rechts ausweichen; aber darauf kann ich nicht schwören; es ist so auf dem Stiche.

Sehr deutlich entsinne ich mich des langen Abstiegs in kreisförmigen Windungen um den zugefrorenen See. Endlich, in der Gegend von Etrouble, begann die Natur weniger wild zu werden. Das war für mich ein köstliches Gefühl. Ich sagte zu dem Kapitän: »Ist der Sankt Bernhard weiter nichts?« Ich glaube, er wurde böse und hielt mich für einen Prahlhans. Soweit ich mich entsinne, behandelte er mich als Rekruten, was mich tief beleidigte.

In Etrouble, wo wir nächtigten, war ich überglücklich, aber ich begriff, daß ich meine Bemerkungen nur in Augenblicken machen durfte, wo der Kapitän guter Dinge war. Ich sagte mir: »Ich bin in Italien, in dem Lande, wo Rousseau seine Julietta in Venedig fand, in Piemont, im Lande der Frau Bazile. Ich begriff aber, daß solche Gedanken für den Kapitän noch mehr Konterbande waren; ich glaube, er hatte Rousseau einmal als Schlingel von Schriftsteller bezeichnet ...

Ich vergaß zu sagen, daß ich aus Paris meine Unschuld mitbrachte; erst in Mailand sollte ich diesen Schatz verlieren. Das Spaßigste dabei ist, daß ich mich nicht deutlich entsinne, mit wem. Meine Schüchternheit und die Gewalt des Eindrucks hat die Erinnerung völlig verwischt.

Unterwegs gab mir der Kapitän Reitunterricht. Zur Beschleunigung gab er seinem Pferde Schläge auf den Kopf, so daß es aufbäumte. Das meine war ein träger, vorsichtiger Klepper, den ich nur mit kräftigen Sporenstichen anfeuern konnte. Zum Glück war es sehr kräftig.

Da ich dem Kapitän die Geheimnisse meiner tollen Einbildungskraft nicht anzuvertrauen wagte, stellte ich ihm wenigstens Fragen über die Reitkunst, und zwar ganz unverblümt. Ich glaube, ich habe ihn weidlich gelangweilt.

Sein kluger Bursche erbot sich, in meinen Dienst zu treten; er hätte mich völlig gegängelt, während der schroffe Burelvillers ihn schlecht behandelte. Mir machte das Schimpfen des Kapitäns gar keinen Eindruck; ich glaubte ihm unendlichen Dank zu schulden. Zudem war ich so beglückt über den Anblick der schönen Landschaften und das Prangen des Frühlings, daß ich nur den einen Wunsch hegte, dies Leben möchte ewig währen.

Wir glaubten, die Armee sei weit voraus. Plötzlich fanden wir sie durch das Fort Bard aufgehalten. Ich sehe mich eine halbe Stunde von diesem Fort biwakieren, links von der Straße. Soweit ich mich entsinne, hielt uns die Bergfeste zwei bis drei Tage auf. War der Erste Konsul bei uns?In »Vie de Napoléon« XVIII sagt Stendhal: »Ich sah den General Bonaparte zwei Tage nach seinem Übergang über den Großen Sankt Bernhard (30. Floréal VIII = 20. Mai 1800). Es war beim Fort Bald am 22. Mai 1800 (vor 37 Jahren, o Leser!). Acht bis zehn Tage nach der Schlacht bei Marengo betrat ich seine Loge in der Scala, um Bericht über die Maßnahmen bei der Besetzung der Zitadelle von Arona zu erstatten.«

War es während unsers Lagerns in der kleinen Ebene vor dem Fort, als der Oberst Dufour es durch einen Handstreich zu nehmen suchte und zwei Pioniere die Ketten der Zugbrücke durchschlagen wollten? Sah ich die Geschützräder mit Stroh umflochten? Oder ist das nur die Erinnerung an die Erzählung dieser Ereignisse?

Der furchtbare Kanonendonner zwischen den hohen Felsen in einem so engen Tale machte mich toll vor Erregung. Schließlich sagte der Kapitän: »Wir reiten über einen Berg links vorbei. Das ist der Weg.« Es war der Albaredo, wie ich nachher erfuhr.

Nach einer halben Stunde hörte ich, wie von Mund zu Mund weiter gerufen wurde: »Zügel locker fassen, damit die Pferde euch beim Abstürzen nicht mitreißen.«

»Teufel! Es ist also gefährlich!« sagte ich mir.

Wir machten auf einer kleinen Hochfläche halt.

»Ach, jetzt schießen sie auf uns!« versetzte der Kapitän.

»Sind wir in Schußweite?« fragte ich ihn.

»Sie haben wohl schon Angst, Bürschchen?« entgegnete er mürrisch in Gegenwart von sieben bis acht Personen.

Das war für mich der Hahnenschrei. Ich ritt bis an den Rand der Hochfläche, um mich mehr auszusetzen, und als er weiterritt, blieb ich ein paar Minuten zurück, um meinen Mut zu zeigen. Das war meine Feuertaufe. Diese Art von Entjungferung drückte mich nicht mehr als die andre.


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