Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Neuntes Kapitel

2. Juli 1832.

Abgesehen von der Unverschämtheit, immerfort von sich selbst zu reden, hat diese Arbeit noch etwas andres Entmutigendes. Die kühnen Gedanken, die ich nur mit Zittern und Zagen äußere, werden zehn Jahre nach meinem Tode Gemeinplätze sein, sofern mir der Himmel ein ordentliches Lebensalter von achtzig bis neunzig Jahren gewährt.

Andrerseits macht es mir Freude, von General Foy,Maximilian Sebastian Foy (1775–1825), Artilleriegeneral unter Napoleon, 1819 liberales Kammermitglied, scharfer Gegner der reaktionären Regierung. von Frau Pasta, Lord Byron, Napoleon und all den großen Menschen oder doch hervorragenden Menschen zu sprechen, die ich kennenzulernen das Glück hatte und die mich mit ihrer Ansprache beehrt haben! Sollte übrigens der Leser so neidisch sein wie meine Zeitgenossen, so kann er sich trösten: wenige dieser großen Menschen, die ich so geliebt habe, haben mich recht erkannt. Ich glaube sogar, sie haben mich langweiliger gefunden als andre; vielleicht sahen sie in mir nur einen überempfindsamen Menschen.

Das ist in der Tat die schlimmste Sorte. Erst seit ich geistreich wurde, schätzte man mich, und zwar weit über Verdienst. Der General Foy, Frau Pasta, Herr de Tracy, Canova errieten nicht, daß ich von seltner Seelengüte war. Und doch habe ich die Anlage dazu und einen feurigen Geist, der sie zu verstehen vermochte. Einer von denen, die mich nie verstanden und alles in allem wohl derjenige, den ich am meisten geliebt habe (er verwirklichte mein Ideal, um mit irgendeinem schwülstigen Dummkopf zu sprechen), war der Venezianer Andreas Corner, ein Freund und Adjutant des Vizekönigs Eugen [Beauharnais] in Mailand.

Im Jahre 1811 war ich der Busenfreund des Grafen Widmann, Kapitäns der venezianischen Garde. (Ich war der Liebhaber seiner Geliebten.S. Seite 353 ff.) Ich sah den liebenswürdigen Widmann in Moskau wieder, wo er mich glatt darum bat, ihn zum Senator des Königreichs Italien zu machen. Ich galt damals für den Günstling meines Vetters, des Grafen Daru, der mich nie geliebt hat, im Gegenteil! Widmann machte mich 1811 mit Corner bekannt, der mich wie eine schöne Gestalt von Paolo Veronese anmutete.

Graf Corner soll fünf Millionen durchgebracht haben. Er hat äußerst hochherzige Handlungen vollbracht, genau das Gegenteil eines französischen Weltmannes. Was seine Tapferkeit betraf, so hatte er die Eiserne Krone und das Kreuz der Ehrenlegion aus Napoleons Hand empfangen.

Er war es, der am Nachmittag der Schlacht an der Moskwa (8. September 1812) ganz naiv ausrief: »Wird diese Teufelsschlacht denn nie aufhören?« Widmann oder Miniorini erzählte es mir am nächsten Tage. Keiner der tapferen, aber so gezielten Franzosen, die ich damals bei der Armee kannte, hätte ein solches Wort zu sagen gewagt, nicht mal der Herzog von Friaul (Duroc). Der besaß zwar einen Charakter von seltner Natürlichkeit, aber wegen seiner alltäglichen Witzigkeit war er noch lange kein Andreas Corner.

Dieser liebenswürdige Mann war damals in Paris, als er kahlköpfig zu werden begann, mittellos – in einem Alter von achtunddreißig Jahren, wo der Feind sich einstellt, wenn man die Illusionen verliert. Und so ging er des Abends bisweilen allein und angetrunken durch den damals dunklen Garten des Palais Royal. Das war der einzige Fehler, den ich je an ihm bemerkt habe. So enden alle unglücklichen Berühmtheiten, die entthronten Fürsten und Herr Pitt, als er Napoleons Sieg bei Austerlitz erfuhr.

Mareste, der klügste Mensch, den ich kenne, wollte sich einen Begleiter für seine Spaziergänge am Vormittag sichern und hatte daher den größten Widerwillen, mir Bekanntschaften zuzuführen. Immerhin führte er mich bei MaisonnetteJoseph Lingay. Er war 1811 Professor der Rhetorik, später Journalist und Privatsekretär des Herzogs Decazes und der nachfolgenden Minister. ein, einem der wunderlichsten Käuze, die ich in Paris gesehen habe. Er ist mager, sehr klein wie ein Spanier und besitzt dessen lebhaften Blick und reizbaren Mut. Er ist imstande, auf ein Stichwort hin, das ihm der Minister um sechs Uhr abends vor dem Diner sendet, an einem Abend dreißig elegante, wortreiche Seiten zum Beweis einer politischen These zu schreiben. Aber das teilt er mit anderen Schriftstellern vom Finanzministerium. Das Seltsame, das Unglaublichste ist nur, daß er auch glaubt, was er schreibt.

Ich habe oft versucht, ihn zu erraten. Ich glaubte, bei ihm einen völligen Mangel an Logik zu sehen, bisweilen auch ein Gewissensopfer mit kleinen Gewissensbissen, die sich regten. Das alles auf den großen Grundsatz gestützt: Ich muß leben. Er hat keinen Begriff von den Bürgerpflichten. Er sieht das etwa so an, wie ich das Verhältnis der Menschen zu den Engeln, an das Herr F. Ancillon, gegenwärtig Minister des Auswärtigen in BerlinJoh. Friedrich Ancillon (1767-1837), Prediger der französischen Gemeinde in Berlin, 1810 Erzieher Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, seit 1832 preußischer Minister des Auswärtigen. Er hat mehrere politische und literarische Schriften in französischer Sprache verfaßt. Sein »Tableau des révolutions du système politique de l'Europe depuis la fin du 15. sieècle« (Berlin 1803-05, 4 Bde.) las Beyle 1806 mit Genuß und hat daraus Anregungen für seine »Geschichte der italienischen Malerei« gewonnen. Vgl. Arbelet, »Histoire de l'histoire de la Peinture en Italie«, S. 401 ff., 477. den ich 1806/07 so gut kannte, steif und fest glaubt. Maisonnette fürchtet sich vor den Bürgerpflichten wie ich mich vor den religiösen. Wenn er so oft das Wort Ehre und Redlichkeit gebraucht und dabei einen leichten Gewissensbiß verspürt, so setzt er sich innerlich darüber hinweg mit seiner ritterlichen Hingebung an seine Freunde. Hätte ich ihn ein halbes Jahr lang links liegen lassen und ihn dann um fünf Uhr morgens aus dem Bett geholt, um Fürsprache für mich einzulegen, er hätte es getan. Er wäre bis nach dem Nordpol gegangen, um sich mit einem Manne zu schlagen, der meine gesellschaftliche Ehre in Frage gestellt hätte.

Da er sich nie in die Utopien des öffentlichen Glücks, der besten Staatsverfassung verlor, war er hervorragend in der Kenntnis von Einzelheiten. Eines Abends, als Mareste, Mérimée und ich über Herrn de Jouy, den damaligen Modeautor und Nachfolger Voltaires, sprachen, stand er auf und suchte in einer seiner umfangreichen Autographensammlungen einen Brief de Jouys, worin dieser die Bourbonen um das Ludwigskreuz bat. In zwei Minuten hatte er dies Schriftstück gefunden, das in so scherzhaftem Kontrast zu der wilden Bürgertugend des Liberalen de Jouy stand.

ErJoseph Etienne Jouy (1764–1846). stammte aus Jouy bei Versailles; sein Vater war ein Bürgersmann, namens Etienne. Mit jener französischen Unverschämtheit, die die braven Deutschen nie begreifen werden, verließ der kleine Etienne mit vierzehn Jahren seine Heimat und ging nach Indien. Da nannte er sich Etienne de Jouy; E. de Jouy und schließlich kurz Jouy. Später wurde er tatsächlich Kapitän; ein Volksbeauftragter, glaube ich, machte ihn zum Obersten. Obwohl tapfer, hat er kaum oder gar nicht gedient.

Er war ein sehr hübscher Mann. Eines Tages flüchtete er mit ein bis zwei Gefährten vor der Hitze in einen indischen Tempel. Dort fanden sie die Priesterin, eine Art Vestalin. Jouy fand es spaßhaft, sie dem Dienst Brahmas abspenstig zu machen, und zwar auf dem Altar des Gottes selbst. Als die Inder das merkten, strömten sie bewaffnet herbei, schlugen der Vestalin die Hände und den Kopf ab, hieben den Offizier in Stücke, und Jouy, der nach dem Tode seines Gefährten dessen Pferd besteigen konnte, galoppierte davon.

Bevor Jouy sein Talent zum Ränkeschmieden in der Literatur betätigte, war er Generalsekretär der Präfektur in Brüssel (um 1810) gewesen. Dort war er, glaube ich, der Geliebte der Präfektin und das Faktotum des Präfekten, eines wahrhaft geistvollen Mannes, mit dem er die Bettelei ausrottete, die in Belgien, einem stark katholischen Lande, ärger ist als irgendwo.

Beim Sturze Napoleons bat er um das St. Ludwigskreuz. Da die damals regierenden Tröpfe es ihm abschlugen, begann er sich in der Presse über sie lustig zu machen und hat ihnen mehr Schaden getan, als alle kräftig geschmierten Literaten der »Débats»« ihnen genutzt haben. Daher im Jahre 1820 die Wut der »Débats»« gegen die »Minerva«.Deren Mitarbeiter Jouy war.

Durch seinen »Eremiten von der Chaussee d'Antin«,L'Hermite de la Chaussée d'Antin«, Paris 1812–14. ein Buch, das so recht dem Geist des französischen Spießers und der blöden Neugier des Deutschen angepaßt war, sah und fühlte sich de Jouy fünf bis sechs Jahre lang als Nachfolger Voltaires, dessen Büste er daher in seinem Garten aufgestellt hatte. Seit 1829 stellen ihn die Literaten der Romantik in Schatten, obwohl sie weniger Geist haben als er, und sein Alter ist verbittert (amareggiata) durch den aufgebauschten Ruhm seiner Mannesjahre.

Als ich 1821 nach Paris kam, teilte sich de Jouy in die literarische Diktatur mit einem andern, noch weit gröberen Dummkopf, A. V. ArnaultAntoine Vincent Arnault (1766–1834), Dramatiker, Satiriker und Fabeldichter, 1800 Chef der Abteilung des öffentlichen Unterrichts im Ministerium des Innern, nach Napoleons Sturz vom Institut de France ausgeschlossen und bis 1819 verbannt, 1829 wieder in die Akademie aufgenommen und 1833 zu ihrem lebenslänglichen Sekretär ernannt. vom Institut de France, dem Liebhaber der Frau B., den ich bei der Schwester seiner Geliebten, Frau C(uvie)r, oft getroffen habe. Er hatte den Geist eines betrunkenen Portiers. Seine Verbannung hat dieser Korkseele etwas Leben eingehaucht. Ich lernte ihn 1811 als sehr niedrig, sehr kriechend, beim Grafen Daru kennen, den er bei seiner Aufnahme in die Französische Akademie mit einer Ansprache empfing.

Fouy, der weit galanter war, verkaufte die Reste seiner männlichen Schönheit an Frau D...rs, die älteste und langweiligste Kokette jener Zeit. Sie war oder ist noch lächerlicher als die Gräfin B(ariguey) d'H(illiers), die im zarten Alter von siebenundfünfzig Jahren noch Liebhaber unter den Leuten von Geist ergatterte. Vielleicht habe ich deshalb im Salon der Frau Dubignon Reißaus vor ihr genommen. Sie nahm sich einen Tölpel, namens Manon, Beisitzer im Staatsrat, und als eine mir befreundete Dame zu ihr sagte: »Was! einen so häßlichen Menschen!« entgegnete sie: »Ich habe ihn wegen seines Geistes genommen.«

Das Spaßige ist, daß dieser traurige Sekretär des Grafen Beugnot ebenso schön wie geistvoll war. Man kann ihm den Geist des Karrieremachens, des geduldigen Vorwärtskommens und des Herunterschluckens von Kröten nicht abstreiten. Zudem verstand er sich zwar nicht auf die Finanzen, aber auf die Kunst, die staatlichen Finanzoperationen darzustellen. Diese beiden Dinge verwechseln die Räuber.

Die Gräfin d'(Hilliers), deren noch immer prächtige Arme ich bewunderte, sagte zu mir:

»Ich werde Ihnen zeigen, wie Sie durch Ihre Talente Ihr Glück machen. Allein würden Sie sich den Kopf einrennen.«

Ich besaß nicht Geist genug, sie zu verstehen. Ich betrachtete die alte Gräfin oft wegen der reizenden Roben von Victorine, die sie trug. Ich liebe ein gut gearbeitetes Kleid bis zum Wahnsinn; das ist für mich ein Genuß. Die Gräfin Daru hat mir diesen Geschmack beigebracht.

Ich glaube, von der Gräfin d'H(illiers) erfuhr ich, daß der Verfasser eines köstlichen Liedes, den ich vergötterte und den ich in meiner Tasche trug, kleine Geburtstagsgedichte für die beiden alten Affen de Jouy und Arnault und die gräßliche Gräfin d'H[illiers] verfaßte. So etwas habe ich nie getan, aber ich habe auch nicht den »König von Yvetot«, den »Senator« und die »Großmutter« verfaßt.Bekannte Dichtungen von Jean Pierre de Béranger (1780-1857). Béranger war es zufrieden, durch Anfeiern dieser Affen den (übrigens wohlverdienten) Ruf eines großen Dichters erlangt zu haben. Er verschmähte es, der Regierung Louis Philippes zu schmeicheln, der sich so viele Liberale verkauft haben.


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