Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Dreizehntes Kapitel

Der Tod des armen Lambert

Rom, 15. Dezember 1835.

Von neuem beteure ich, daß ich keinen Anspruch erhebe, die Dinge so zu schildern, wie sie sind, sondern nur wie sie auf mich gewirkt haben... Da ich nach dem barbarischen System meines Vaters und Seraphies keinen gleichaltrigen Freund oder Gefährten hatte, so verteilte sich mein Mitteilungsbedürfnis wie folgt:

Mein Großvater war mein ernster, ehrwürdiger Kamerad. Mein Freund aber, dem ich alles sagte, war sein Kammerdiener Lambert, ein sehr gewandter Bursche. Meine Anvertrauungen langweilten ihn zwar oft, und wenn ich ihm zu stark zusetzte, gab er mir eine kleine harte Kopfnuß, die meinem Alter entsprach. Ich liebte ihn dafür nur um so mehr. Seine Hauptaufgabe, die ihn sehr verdroß, war, aus Saint-Vincent (bei Le Fontanil), dem Anwesen meines Großvaters, Pfirsiche zu holen. Nahe bei dieser Hütte, die ich herrlich fand, waren sehr gut angelegte Spaliere, die vorzügliche Pfirsiche trugen. Daneben waren Weingitter mit ausgezeichneten Trauben. Das alles beförderte Lambert in zwei Körben am Ende eines Stockes, den er über der Schulter trug. Der Weg bis Grenoble war vier Stunden.

Lambert war mit seinem Schicksal unzufrieden und suchte es zu verbessern, indem er Seidenraupen züchtete. Er hatte sich einen Maulbeerbaum erstanden, und beim Abpflücken der Blätter fiel er herunter; man brachte ihn auf einer Leiter ins Haus. Mein Großvater pflegte ihn wie einen Sohn. Aber er hatte eine Gehirnerschütterung und sah nichts mehr; nach drei Tagen war er tot. In seinem Delirium stieß er klägliche Rufe aus, die mir das Herz durchbohrten. Zum erstenmal lernte ich den Schmerz kennen und dachte an den Tod.

Der Verlust meiner Mutter hatte mich in einen Zustand des Wahnsinns versetzt, in den sich viel Liebe mischte. Mein Schmerz über Lamberts Tod war ein Schmerz, wie ich ihn zeitlebens empfunden habe, ein bewußter, herber Schmerz ohne Tränen und Trost. Ich war tief bekümmert und fiel beinahe um (was Seraphie herb tadelte), wenn ich zehnmal am Tage in das Zimmer meines Freundes ging und sein schönes Gesicht anstarrte; er lag im Sterben. Nie vergessen werde ich seine schönen schwarzen Augenbrauen und sein kräftiges, gesundes Aussehen, das durch sein Fieber nur noch gesteigert wurde.

Ich sah zu, wie er zur Ader gelassen wurde. Nach jedem Aderlaß machte man das Experiment mit einem Licht, das man ihm vor Augen hielt... Ich könnte noch zwanzig bis dreißig Seiten mit den deutlichen Erinnerungen von diesem großen Schmerz anfüllen. Man nagelte seinen Sarg zu und trug ihn fort ... Sunt lacrimae rerum. Die gleiche Saite meines Herzens wird von gewissen Stellen der Begleitung in Mozarts »Don Juan« berührt.

Acht Tage nach seinem Tode geriet Seraphie in berechtigten Zorn, weil man ihr irgendeine Suppe in einem kleinen ausgebrochenen Steinguttopf brachte – ich sehe ihn noch, nach vierzig Jahren – in dem Lamberts Blut bei dem Aderlaß aufgefangen worden war. Ich brach plötzlich in Tränen aus und erstickte vor Schluchzen. Beim Tode meiner Mutter hatte ich nie weinen können. Erst nach Jahresfrist begann ich zu weinen; ich weinte des Nachts allein in meinem Bette. Als Seraphie meine Tränen über Lambert sah, machte sie mir eine Szene. Ich ging in die Küche und murmelte halblaut, wie um mich zu rächen: »Die Niederträchtige! Die Niederträchtige!« ...

Sein Bruder hatte ein kleines, sehr gewöhnliches Café in der Rue de Bonne bei der Kaserne. Ich fand damals, daß nichts so gewöhnlich war wie dieser Bruder, zu dem Lambert manchmal mit mir ging. Denn wie ich gestehen muß, trotz meiner durchaus republikanischen Anschauungen hatte ich von meinen Verwandten das aristokratische, zurückhaltende Wesen vollkommen geerbt. Dieser Fehler ist mir geblieben; er hat mich noch vor nicht zehn Tagen gehindert, ein galantes Abenteuer wahrzunehmen. Ich verabscheue den Pöbel, wenn ich mit ihm in Berührung komme, und habe doch zugleich den leidenschaftlichen Wunsch, daß er unter dem Namen »Volk« glücklich ist. Ich glaube auch, man kann ihm dies Glück nur verschaffen, wenn man ihm Fragen über ein wichtiges Thema stellt, d.h. wem man das Volk seinen eignen Abgeordneten wählen läßt.

Meine Freunde oder angeblichen Freunde bezweifelten daher die Echtheit meiner liberalen Gesinnung. Alles Schmutzige widert mich an, und in meinen Augen ist das Volk stets schmutzig. Eine Ausnahme bildet nur Rom; da ist der Schmutz mit Wildheit umkleidet.

Wer denkt heute noch an Lambert, außer meinem Freundesherzen? Ich gehe noch weiter: Wer denkt heute noch an Alexandrine,Die Gräfin Daru. die im Januar 1815, vor zwanzig Jahren starb? Wer denkt an MathildeMathilde Dembowska. die 1825 starb? Gehören sie nicht mir, der ich sie mehr liebe als alle Menschen auf Erden? Mir, der zehnmal in der Woche und oft zwei Stunden hintereinander leidenschaftlich an sie denkt!


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