Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Sechstes Kapitel

24. Juni 1832, San Giovanni.

Hier meine damalige Lebensweise:

Ich stand um zehn Uhr auf, war um halb elf im Café de Rouen, wo ich den Baron von Mareste und meinen Vetter Colomb traf, einen rechtschaffenen, gerechten und vernünftigen Menschen, meinen Jugendfreund. Leider verstanden diese beiden Wesen nicht das Mindeste von der Theorie des Menschenherzens noch von der Darstellung dieses Herzens in der Literatur und Musik. Über diesen Gegenstand ins Blaue hineinzureden und Schlüsse aus jeder neuen, voll bewiesenen Anekdote zu ziehen, ist für mich bei weitem die fesselndste Unterhaltung. Später fand es sich, daß auch Mérimée, den ich so hoch schätze, keinen Geschmack an dieser Art von Unterhaltung fand.

Mein Jugendfreund, der treffliche Crozet, Chefingenieur des Departements Isère, ist in dieser Hinsicht hervorragend, aber seine FrauMadame Prarède Crozet, die der Bibliothek von Grenoble den größten Teil von Stendhals handschriftlichem Nachlaß, etwa 30 Bände, geschenkt hat. (Stryienski.) hat ihn mir aus Eifersucht auf unsre Freundschaft seit Jahren entfremdet. Wie schade! Welch ein höherer Mensch wäre Crozet geworden, hätte er in Paris gelebt. Die Ehe und vor allem die Provinz machen einen Mann erstaunlich rasch alt. Der Geist wird träge, und das Gehirn arbeitet, weil es selten Anregungen empfängt, immer schwerfälliger und zuletzt gar nicht mehr.

Nachdem wir im Café de Rouen unsern vorzüglichen Kaffee und zwei Semmeln genossen hatten, begleitete ich Mareste nach seinem Bureau. Wir gingen durch die Tuilerien und über die Seinekais, wo wir vor jedem Kupferstichladen stehen blieben. Wenn ich Mareste verließ, begann für mich der schrecklichste Augenblick am Tage. Bei der großen Hitze, die in jenem Jahre herrschte, suchte ich Schatten und etwas Kühle unter den großen Kastanienbäumen der Tuilerien. »Da ich nicht vergessen kann«, sagte ich mir, »wäre es da nicht besser, mich zu töten?« Alles war mir zur Last.

Im Jahre 1821 hatte ich noch die Reste der Leidenschaft für die italienische Malerei, über die ich in den Jahren 1816 und 1817 ein BuchS. Seite 392, Anm. 2. geschrieben hatte. Ich ging mit einer Einlaßkarte, die mir Mareste besorgt hatte, ins Louvremuseum. Der Anblick seiner Meisterwerke erinnerte mich nur um so lebhafter an die Brera und an Mathilde. Wenn ich den entsprechenden französischen Namen in einem Buche fand, erblaßte ich.

Ich habe wenig Erinnerungen an jene Tage, die einer wie der andere waren. Alles, was in Paris gefällt, widerte mich an. Obwohl selbst liberal, fand ich die Liberalen beschämend albern. Kurz, ich erkenne, daß ich von allem, was ich damals sah, nur eine traurige, verletzende Erinnerung bewahrt habe. Meinen besondern Abscheu erregte der dicke Ludwig XVIII. mit seinen Ochsenaugen, wenn er mit seinen sechs dicken Pferden daher gefahren kam.

Ich kaufte mir ein paar Stücke von Shakespeare in einer englischen Ausgabe und las sie in den Tuilerien. Oft ließ ich das Buch sinken, um an Mathilde zu denken. Mein einsames Zimmer war mir unerträglich.

Endlich schlug es fünf Uhr. Ich eilte zur Wirtstafel im Hotel de Bruxelles. Dort fand ich Mareste müde und mißlaunig wieder, den braven Lolot, den eleganten Poitevin und fünf bis sechs Originale von der Wirtstafel, ein Menschenschlag, der etwas vom Industrieritter und zugleich vom kleinen Verschwörer an sich hat.

Nach dem Essen war der Kaffee noch ein glücklicher Augenblick für mich, ganz im Gegensatz zu der Promenade auf dem Boulevard de Gand, der sehr in Mode und sehr staubig war. Der Aufenthalt an diesem Treffpunkt der kleinen Stutzer, der Gardeoffiziere, der Dirnen erster Klasse und ihren Nebenbuhlerinnen, der Bürgerfrauen, war für mich eine Qual.

Dort traf ich einen meiner Jugendfreunde, den Grafen de Barral, einen guten, trefflichen Kerl, der als Enkel eines berühmten Geizhalses mit dreißig Jahren Anwandlungen dieser traurigen Leidenschaft bekam. Es war wohl 1810, als er alles, was er besaß, im Spiel verloren hatte. Ich lieh ihm damals etwas Geld und nötigte ihn, nach Neapel zu reisen.Dort traf ihn Stendhal 1811. S. Seite 379, 382. Sein Vater, ein sehr galanter Mann, setzte ihm eine jährliche Zulage von 6000 Mark aus.

Als Barral nach ein paar Jahren aus Neapel zurückkam, fand er mich mit einer reizenden Schauspielerin lebend, die sich allabendlich um halb zwölf Uhr in mein Bett legte. Ich kam um ein Uhr nach Hause. Wir aßen ein kaltes Rebhuhn und tranken dazu eine Flasche Champagner. Dies Verhältnis hat zwei bis drei Jahre gedauert. Fräulein Bereyter hatte eine Freundin, die Tochter des berühmten Lederhosenhändlers Rose. Der berühmte Schauspieler Molé hatte alle drei Schwestern, reizende Mädchen, verführt. Eine davon ist heute Marquise von D... Annette ging von Hand zu Hand und lebte damals mit einem Börsianer. Ich hatte sie Barral derart gerühmt, daß er sich in sie verliebte. Ich überredete die reizende Annette, den elenden Spekulanten laufen zu lassen. Barral besaß am zweiten des Monats ausgerechnet 5 Franken. Am ersten war er mit 500 Franken vom Bankier gekommen, hatte seine versetzte Uhr eingelöst und die übrigen 400 Franken verspielt. Ich gab mir alle Mühe, lud die kriegführenden Parteien zum Essen bei Béry in den Tuilerien ein und überredete Annette schließlich, die Börse des Grafen zu führen und mit den 500 Franken, die ihm der Vater gab, vernünftig zu leben. Heute dauert dieser Haushalt schon zehn Jahre. Leider ist Barral reich geworden. Er hat mindestens 20 000 Franken Einkommen, aber mit dem Reichtum ist er schauderhaft geizig geworden. Im Jahre 1817 war ich vierzehn Tage lang in Annette stark verliebt, danach fand ich, daß sie enge, pariserische Begriffe hatte. Das ist bei mir das beste Heilmittel für die Liebe.

Abends traf ich diesen Jugendfreund mit der guten Annette bisweilen im Staube des Boulevards. Ich wußte nicht, was ich mit ihnen reden sollte. Ich kam um vor Langeweile und Trübsal. Die Frauenzimmer erheiterten mich nicht.

Schließlich, gegen halb elf Uhr, ging ich zu Frau Pasta, um zu spielen. Zu meinem Verdruß kam ich als erster an und wurde von der Rahel, Giudittas Mutter, in ein Küchengespräch verwickelt. Aber sie sprach wenigstens mailändisch. Bisweilen traf ich bei ihr irgendeinen frisch aus Mailand angekommenen Gimpel, dem sie zu essen gegeben hatte. Schüchtern erkundigte ich mich bei diesen Gimpeln nach allen hübschen Mailänderinnen. Ich wäre lieber gestorben, als Mathildes Namen zu nennen, aber bisweilen sprachen sie selbst von ihr. Solche Abende waren für mich ein Ereignis.

Schließlich begann das Pharaospiel. In tiefes Träumen verloren, verlor oder gewann ich 30 Franken in vier Stunden. Ich kümmerte mich so wenig um meinen guten Ruf, daß ich, wenn ich mehr verlor, als ich bei mir hatte, den Gewinner fragte: »Soll ich hinaufgehen?« – »Non, si figuri« (Nein, was denken Sie sich), war die Antwort. Und ich bezahlte erst am nächsten Tage. Diese oft wiederholte Dummheit brachte mich in den Ruf der Armut. Ich merkte es in der Folgezeit an den Klagen des guten Pasta, Giudittas Gatten, wenn er mich 30 bis 35 Franken verlieren sah. Selbst als mir über diese Dummheit die Augen aufgingen, änderte ich mein Betragen nicht.


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