Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Sechsunddreißigstes Kapitel

Aufbruch ins Feld

Civitavecchia, 7. bis 8. März 1836.

Ich würde einen Roman schreiben, wollte ich hier die Eindrücke schildern, die mir Paris machte; sie haben seitdem stark gewechselt. Ich entsinne mich noch der tiefen Langeweile an den Sonntagen, wo ich auf gut Glück spazieren ging. Alle Menschen erschienen mir prosaisch und platt in ihren Gedanken über Liebe und Literatur. Ich hütete mich wohl, jemandem mein Mißfallen anzuvertrauen. So kam es, daß ich nicht merkte, daß eine Stunde von Paris ein herrlicher Wald lag. Wie entzückt wäre ich gewesen, hätte ich im Jahre 1809 den Wald von Fontainebleau gesehen, wo es doch wenigstens ein paar Miniaturfelsen gab. Die Wälder waren ja mit meinen Träumereien von zärtlicher, treuer Liebe (wie bei Ariost) aufs engste verknüpft. Die von Versailles und Saint-Cloud hätte ich allerdings wohl zu gartenhaft gefunden.

Damals war von der Ernennung von Adjunkten bei den Kriegskommissaren die Rede. Ernannt wurde unter andern Herr Barthomeuf, ein gewöhnlicher Mensch, aber ein tüchtiger Arbeiter, der seine Laufbahn als Sekretär des Grafen Daru begann und als solcher in dessen Zimmer arbeitete. Dort mußte er alle die seltsamen Ausfälle des furchtbaren Mannes erdulden und wurde von ihm mit Arbeit überlastet, wie alle, die mit ihm zu tun hatten. Ich war auf diese Beförderung eifersüchtig, denn ich mochte Barthomeuf nicht. Ich seufzte etwas beim Anblick seiner goldbestickten Uniform, seines Hutes und Degens.

Wie gesagt, war er ein tüchtiger Arbeiter, dessen Briefe Herr Daru fast stets unterschrieb, d. h. von zwanzig, die er ihm vorlegte, unterschrieb er zwölf unverbessert und sieben oder acht mit handschriftlichen Verbesserungen; nur einer bis zwei mußten neu aufgesetzt werden. Von meinen Briefen unterschrieb er höchstens die Hälfte, und dabei waren sie noch unwichtig. Aber Herr Barthomeuf hatte den Geist und das Gesicht eines Apothekergehilfen, und abgesehen von den lateinischen Autoren, die er wie die Besoldungsvorschrift beherrschte, war er unfähig, ein Wort über die Beziehungen zwischen Literatur und Menschennatur zu äußern. Ich dagegen verstand sehr wohl die Erklärung des Helvétius über RegulusNäheres siehe in »Über die Liebe« Bd. IV dieser Ausgabe), S. 276. und machte ganz allein allerhand Nutzanwendungen darauf; ich verstand von der Kunst des Lustspiels weit mehr als Herr CailhavaSiehe S. 168. usw., und so hielt ich mich für was Besseres als Herr Barthomeuf oder doch für ihm ebenbürtig. Herr Daru hätte mich zum Kommissar machen und mich dann tüchtig arbeiten lassen sollen. Aber bei den fünf bis sechs großen Gelegenheiten meines Lebens hat mich stets der Zufall geleitet. Tatsächlich schulde ich Fortuna ein kleines Denkmal ...

Alle diese für mich so neuen Dinge lenkten mich grausam von meinen literarischen Ideen und meinen leidenschaftlichen und romantischen Liebesträumereien ab. Mein Widerwille gegen Paris ließ freilich nach, aber ich war ganz närrisch; was mir an einem Tage als wahr erschien, hielt ich am nächsten Tage für falsch. Mein Kopf war völlig der Spielball meiner Seele. Aber wenigstens vertraute ich mich niemandem an. Seit mindestens dreißig Jahren habe ich diesen ersten lächerlichen Aufenthalt in Paris vergessen. Ich wußte, daß im ganzen nichts Gutes daran war, und so dachte ich nicht mehr daran. Erst seit acht Tagen fällt er mir wieder ein, und wenn ich ihn jetzt zu Papier bringe, so geschieht es mit Voreingenommenheit gegen den Brulard von 1800.

Ich habe nicht mehr die geringste Erinnerung an meine Abreise nach Dijon und zur Reservearmee; das Übermaß der Freude hat alles ausgelöscht. Graf Daru, der Armeeintendant geworden war, und Martial Daru, der zum Unterintendanten ernannt war, hatten Paris schon vor mir verlassen.Beyle verließ Paris am 9. Mai 1800 und kam am 18. in Genf an.

Auch an meine Ankunft in Dijon und in Genf habe ich keine Erinnerungen mehr. Das Bild dieser beiden Städte ist durch die vollständigeren Bilder verdrängt worden, die ich auf späteren Reisen erhielt. Ich hatte etwa dreißig Bücher in dem damals frisch erfundenen Stereotypverfahren mit mir ... Als Verehrer der »Neuen Heloise« ging ich in Genf sofort nach dem alten Hause, in dem J. J. Rousseau 1712 geboren wurde. Im Jahre 1833 fand ich es in ein prächtiges Geschäftshaus verwandelt, ein Muster des Nützlichen!

In Genf gab es keine Postwagen mehr. Ich fand die beginnende Unordnung, die beim Heere zu herrschen schien. Ich war an irgend jemand empfohlen, wahrscheinlich an einen französischen Kriegskommissar,Lambert. der für die Nachschübe zurückgelassen war. Graf Daru hatte ein krankes Pferd dort gelassen; ich wartete ab, bis es wieder gesund war. Hier beginnen meine Erinnerungen.


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