Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Tagebuch aus Paris und Marseille (1802-1806)

Savigliano,Das Ortsdatum ist fingiert, da das Regiment in Savigliano stand. Beyle war damals in Paris. Vgl. Anhang, Nr. 2. 1. Thermidor X (20. Juli 1802).

6. Dragoner-Regiment.

Ich Unterzeichneter, Leutnant im 6. Dragoner-Regiment, erkläre, daß ich meinen Abschied im genannten Regiment einreiche.

H. Beyle.

10. Thermidor X (29. Juli 1802).

Ich bin verliebt in Adele.Rebuffet. Siehe S. 161, Anm. 3. Sie gibt mir tausend Zeichen der Bevorzugung. Sie schenkt mir Haare von sich.

Brumaire XI.

Ich habe nur einen Monat (englischen) Unterricht bei Dowtram genommen. Seit dem 16. Messidor habe ich einen irischen Franziskaner Jecki als Lehrer.

20. Brumaire XI (11. November 1802).

Seit dem 20. Vendemiaire lerne ich lediglich Englisch. Das soll bis zum 1. Frimaire dauern, wo ich Griechisch anfangen will. Ich erkläre Shakespeares »Hamlet«.

27. Nivose XI (17. Januar 1803).

Der große Fehler von Voltaires Helden ist der, daß sie mir zu sagen scheinen: »Aufgepaßt! Jetzt werde ich ein schönes Wort sagen, eine schöne Tat tun!« Das ist ein Verstoß gegen die schöne Natur. Der wahre Held vollbringt seine schöne Tat, ohne zu ahnen, daß sie schön ist (oder doch ohne sie für so erhaben zu halten, wie die Nachwelt es tun wird). Er findet sie recht und vollbringt sie oft mit Überwindung. Je mehr Opfer er der Gerechtigkeit bringt, desto schöner erscheint er uns. Also ist Brutus der größte Mensch.

21. Pluviose (10. Februar 1803).

Ich muß mir viel Zeit zum Arbeiten zu erübrigen suchen. Darum muß ich mich befleißigen, so wenig Zeit wie möglich mit Nichtigkeiten zu verlieren.

29. Ventose (20. März).

Was ist mein Ziel?

Den Ruhm des größten französischen Dichters zu erringen, nicht durch Ränke wie Voltaire, sondern durch wahres Verdienst. Zu dem Zweck: Griechisch, Lateinisch, Italienisch, Englisch können.

Meinen Geschmack nicht nach meinen Vorgängern bilden, sondern durch Analyse, indem ich herausfinde, wie die Dichtkunst den Menschen gefällt und soviel wie möglich gefällt. Das ist eine Aufgabe für ein langes Leben.

Die Menschen in der Geschichte und in der Welt studieren.

Ein Lustspiel und ein Trauerspiel schreiben, um mich in der Welt durchzusetzen, Vertrauen in mein Talent zu bekommen und die Verse zu meistern.

Dann Philosophie für den Rest meines Lebens.

Keine vornehme Dame lieben, denn dann würde ich den kürzeren ziehen; zudem wäre es Zeitverlust.

Nicht vergessen, daß das Einzige, worin man im Stil streben muß, die Klarheit ist.

7. Floreal (27. April).

Will ich in der Gesellschaft Erfolg haben, so muß ich alles analysieren, was dort geschieht. Dann werde ich finden, daß die Kunst zu erzählen und nie von sich zu sprechen, fast den liebenswürdigen Menschen ausmacht.

8. Floreal.

Es wäre möglich, daß der gesamte Zustand der Menschen und Dinge von heute so günstig wie nie für einen Mann wie Molière oder Corneille ist.

25. Floreal (15. Mai).

Ich muß von einer Sorglosigkeit ohnegleichen sein, weil ich nicht gleich die »Zwei Menschen« schreibe.Die Verskomödie »Letellier«, an der Beyle zehn Jahre arbeitete, ohne sie je zu vollenden. Ein Stück daraus ist in Stendhals »Journal« (1899) ans Licht gezogen worden. Mir fehlt es an allem. Ist dies Stück fertig, so habe ich alles im Überfluß. Gesellschaft, Geld, Ruhm, nichts wird mir fehlen.

4. Pairial (27. Mai).

Wäre ich reich, eine Reise durch Frankreich machen und mich in jeder Stadt ein halbes Jahr aufhalten. Grenoble als eine dieser Städte betrachten.

6. Thermidor (25. Juli).

In der Moral ist die Frauenliebe ein sehr kleines Übel. Alle großen Griechen waren Lebemänner. Diese Leidenschaft deutet bei einem Manne auf Energie, ohne die es kein Genie gibt. Das Urteil Bonapartes: Das ist ein Mann, der Dirnen hat.

Schwach ist eine Frau, der man einen Fehltritt vorwirft und die ihn sich selbst vorwirft.

15. Thermidor (3. August).

Die Neugier bedeutet in der Liebe viel. Ich, der durch das Zeichnen gelernt hat, die Nacktheit unter den Kleidern zu suchen und sie mir deutlich vorzustellen, bin also weniger für Liebe empfänglich als ein andrer.

Eine geistreiche Frau bemißt ihren Widerstand nach dem Grade des Müßiggangs ihres Liebhabers.

12. Fructidor (30. August).

In der Menschenkenntnis fehlt es mir vor allem an Feinheit. Ich weiß zwar, daß eine bestimmte Leidenschaft die und die Wirkung hat, aber ich weiß an einem Menschen, den ich in Gesellschaft treffe, nicht alle ihn beseelenden Leidenschaften zu entdecken. Zudem macht die verdammte Sucht zu glänzen, daß ich mich mehr damit befasse, einen tiefen Eindruck zu hinterlassen, als die andern zu erraten. Ich beschäftige mich zu sehr damit, auf mich selbst zu achten, um Zeit zur Beobachtung andrer zu finden.

Der Philosoph kann die Schilderung der Kraft seiner Leidenschaft durch diesen Gedankengang verstärken: »Ich weiß, um stets geliebt zu werden, müßtest du meiner Leidenschaft nie ganz sicher sein. Aber ich kann dich täuschen; ich fühle, daß ich nicht mehr lieben kann.«

Die Liebe ist ein Kampf zwischen Stolz und Hoffen.

Fühllos ist eine Frau, die den, welchen sie lieben muß, noch nicht gesehen hat.

[Grenoble,] 3. Ventose XII (23. Februar 1804).

Ich bin am 5. Thermidor XI (24. Juli 1803) in Grenoble angekommen und verlasse es jetzt.Die Abreise erfolgte erst am 29. Ventose (20. März). Siehe Correspondance I, 81ff. Ich habe meine Familie nicht so gefunden, wie ich sie mir in Paris ausmalte (Pauline ausgenommen). Sie liebt mich zwar, aber nicht mit jener himmlischen Liebe, die ich mir vorstellte.

[Grenoble,] 9. März 1804.

Ich glaube, ich werde gut tun, die Gerichtsverhandlungen in allen Ländern, in denen ich sein werde, zu verfolgen. Da kann man die Menschen studieren, und wenn ich je einen Beruf ergreifen müßte, werde ich Advokat.

Wenn ich vom Denken ermüdet bin, müßte ich sofort eine Zerstreuung finden.

[Paris,] 19. Germinal (9. April 1804).Beyle war kurz vorher nach Paris zurückgekehrt, und zwar mit einem Umweg über Genf. Das Tagebuch dieser Reise (mit seinem späteren Schwager Mallein, Alphonse Périer und Felix Penet) ist in der »Revue critique« vom 13. März 1913 veröffentlicht, aber belanglos.

Ich fühle mich vernünftiger als bei meinem letzten Aufenthalt, und somit werde ich glücklicher sein. Das verdanke ich der Erfahrung, die ich in Grenoble gemacht habe. Da habe ich den Menschen in der Natur und nicht mehr in den Büchern gesehen. Diese Zerstreuung für Herz und Verstand wird mir auch as a BardAls Dichter. zugute kommen.

24. Germinal

Von dem Worte Freund hatte ich mir recht falsche Begriffe gemacht. Ich wünschte mir einen einzigen Freund, aber er sollte für mich alles sein, wie ich für ihn. Dazu ist der Mensch nicht vollkommen genug. Ich muß mich darauf beschränken, die Eigenschaften, die ich bei einem vereinigt wünschte, unter allen meinen Freunden verstreut zu sehen.Hier folgt eine Liste seiner Freunde und Bekannten, unter denen er Mante und Cardon als true friends (treue Freunde) bezeichnet, ferner Crozet, de Barral, Martial Daru u.a. Zudem kann ich in Paris nicht zuviel Verkehr haben. Nichts ist leichter, als sich gut mit einem Menschen zu stehen, den man nur einmal im Monat sieht.

27. Floreal (17. Mai).

Es ist recht töricht, sein Glück in entgegengesetzte Genüsse zu setzen. Ich will arbeiten und in Gesellschaft gehen. Das ist völlig unvereinbar.

21. Prairial (10. Juni).

Um in der Gesellschaft wohl gelitten zu sein, darf man nicht allein leben. Um erhabene Werke zu schaffen, muß man nur für sein Genie leben, es ausbilden, pflegen, verbessern.

9. Messidor (28. Juni).

Es gibt Menschen, die mich in Verlegenheit setzen und mit denen ich nicht natürlich sein kann, so Faure und Boissat. Das liegt wohl daran, daß ich fühle, daß meine natürliche Art ihnen nicht zusagt, und doch Wünsche ich ihnen zu gefallen. Unselige Eitelkeit! Sie macht, daß ich, um gefallen zu wollen, weniger gefalle. Gehe ich in Gesellschaft, so muß ich an den ersten Tagen nichts sagen, bis ich die Kraft habe, natürlich zu sein. Versuchen, ich selbst zu sein; das ist das einzige Mittel, um zu gefallen.

Harmlosigkeit und Offenheit sagen mir täglich mehr zu. Ich bin in La Fontaine verliebt.

19. Messidor (8. Juli).

Heute, am Sonntag, stelle ich mehrere Betrachtungen über das Glück an:

1. In meiner Unterhaltung, ausgenommen mit Mante,Fortuné Mante war 1781 in Grenoble geboren. stets scherzen. Daran muß ich mich gewöhnen.

2. Bei einem Volke, dessen herrschende Leidenschaft die Eitelkeit ist, vermag ein geistreiches Wort alles. Mich also gewöhnen, nie aus Leidenschaft zu handeln, sondern stets kaltblütig sein.

3. Diese Gewohnheit auch bei Kleinigkeiten annehmen, beim Gehen auf der Straße, beim Betreten eines Cafes, beim Abstatten eines Besuches. Deswegen braucht man keine kalte Miene zu haben, im Gegenteil! Um das zu erreichen, mir Halt gebieten, sobald eine Leidenschaft mich beherrscht. Stets daran denken, daß die Leidenschaften uns verzehren und daß die Neigungen uns belustigen.

Zu meinem Glück habe ich frühzeitig meine Richtung bekommen. Seit meiner zartesten Kindheit, soweit ich zurück denken kann, wollte ich Lustspieldichter werden. Alle Tätigkeit meines Leibes, meines Kopfes und meiner Seele war auf dies Ziel gerichtet. Ich bin nicht hin- und hergerissen worden, wie es Brissot von sich sagt.Ein französischer Revolutionär (1754–1793), der es zum Parteiführer im Konvent brachte, aber guillotiniert wurde. Das muß mir die größte Anlage zum Dramatiker gegeben haben, nicht wie Goldoni, der rasch ein Lustspiel von schönem Mittelmaß zusammenschreibt, sondern im Gegenteil in höchster Verfeinerung, in dem Bestreben, in allem das Beste zu leisten und dann die Leiter hinter mir hochzuziehen.

22. Messidor (11. Juli).

Wenn ich Tencins Eitelkeit schmeichle, mache ich ihn mir zum Freunde und kann einen der besten Charaktere studieren, die ich je getroffen habe. Er wird zutraulich zu mir sein.

23. Messidor, beim Durchlesen meiner Eindrücke.

Mein Mangel an Sicherheit kommt von meiner steten Geldverlegenheit. Wenn ich kein Geld habe, wie es oft vorkommt, bin ich schüchtern. Die üble Neigung, mich durch alles verschüchtern zu lassen, ist mir fast zur Gewohnheit geworden. Davon muß ich mich durchaus frei machen. Das beste Mittel wäre, so wohlhabend zu sein, daß ich ein Jahr lang täglich 100 Louisdors in Gold bei mir tragen könnte. Dies goldne Gewicht würde das Übel mit der Wurzel ausrotten.

14. Juli 1804.

Herrlicher Tag. Wir gehen zusammen nach den Tuilerien, wo wir bis ein Uhr bleiben. Wir sehen Bonaparte deutlich. Er reitet fünfzehn Schritt an uns vorüber, auf einem schönen Schimmel, in schöner neuer Uniform als Oberst seiner Garde mit schwarzem Hut und Fangschnüren. Er grüßt oft und lächelt. Ein Theaterlächeln, bei dem man die Zähne zeigt, aber die Augen lächeln nicht mit. Als er vorbeikam, rief man: »Es lebe der Kaiser!« aber sehr matt, und noch weniger: »Es lebe die Kaiserin!«Die offizielle Kaiserkrönung fand erst am 2. Dezember 1804 statt. Siehe S. 240.

Am 13. war er im Théâtre français in einer Gratisaufführung der »Iphigenie«; er erhielt keinen Beifall.

Es wird in Frankreich solange keine Monarchie geben, bis man ihre Uniform mit Stolz trägt.

4. Thermidor (23. Juli).

Nach GuibertsGraf Hippolyt Guibert (1743–90), bekannt durch seine Beziehungen zu Fräulein von Lespinasse, schrieb eine »Eloge du Roi de Prusse« (Berlin 1787), deutsch von Zöllner (Berlin 1788). Beyle war zeitlebens ein großer Bewunderer Friedrichs des Großen. Eins seiner Tagebücher trägt die Aufschrift: »Dem festen Willen oder dem Preußenkönig Friedrich.« Wort war Friedrich der Große fast ein künstliches Wesen. Er hatte viele Gewohnheiten bezwungen und viele neue angenommen. Das gleiche zu tun, könnte die Vollendung meiner Werke verdoppeln. Vielleicht brächte es mich auch auf einen großen Grundsatz, den ich sonst nur ahnte. Aber welche Eigenschaften soll ich annehmen? Das ist die Frage.

5. Thermidor.

Ich gehe abends in die Oper, die ich seit etwa anderthalb Jahren nicht mehr besucht hatte...

12. Thermidor (31. Juli).

In meinen Eindrücken gelesen. Meine Leistungen stinken mich an, nicht meine alten Beobachtungen, die Vorstufen waren, wohl aber meine Verse, meine Prosa als Kunstwerk. Der Grund ist wohl der, daß sie mir eine schlechte Meinung von mir selbst geben. Stets hoffe ich Besseres zu leisten. Ich bin wie einer, der nil actum reputans, si quid supresset agendum.Dem gar nichts geschehen scheint, wenn es besser gemacht werden könnte.

20. Thermidor (7. August).

Rückblick. – Ich habe Tencin, Martial und Mante gesehen. Ich bin oft ins Theater gegangen, habe selten an meine alten Luftschlösser von Liebesglück gedacht. Dieser Monat war dem Studium der großen Philosophie gewidmet, um die Grundlagen für die bestmöglichen Lustspiele und die besten Dichtungen überhaupt zu finden und den besten Weg einzuschlagen, der mich in der Gesellschaft zu allem Glück führt, das sie mir geben kann.

Ich habe allabendlich etwas Fieber; trotzdem war ich glücklich. Ich wünschte mir für den Rest meines Lebens das gleiche Glück wie in diesem Monat.

3. Fructidor XII (21. August 1804).

Martial und ich nehmen die erste Deklamationsstunde bei La Rive.J. Mauduit de la Rive, berühmter Schauspieler und Lehrer der Vortragskunst.

8. Fructidor.

Der heutige Tag war so, wie ich mir das Leben vorstellte, als ich ernstlich daran dachte, ein großer Dichter zu werden. Vormittags fruchtbare Arbeit, abends in der größten Gesellschaft.

10. Fructidor.

Heute vormittag sagte La Rive zu uns, er fände in Paris keine zwei Schüler mit besseren Anlagen als uns beide.

17. Fructidor (4. September).

Man muß die Frauen zum Lachen bringen, indem man ihrem Geist möglichst wenig Arbeit zumutet. Mir diese leichte Art möglichst aneignen und jenen inhaltsreichen Esprit aufgeben, der ermüdet und schwerfällig und pedantisch wirkt.

4. Complementaire XII (21. September 1804).

Nachstehend meine Lebenspläne.

Sobald ich Herr des Vermögens bin, das mir eines Tages zufälltDurch Beerbung seines Vaters. und mir wahrscheinlich 12 000 Einkommen bringt, eine Hypothek von 100 000 Franken zu 6 v. H. aufnehmen.

Ich tue mich mit Mante zusammen, wie wir heute vereinbart haben. Diese Summe wird mir im Durchschnitt 20 v. H. einbringen, von denen ich sechs an Zinsen zu zahlen habe. Bleiben 14000 Franken Jahreseinkommen. Dazu die obigen 12000 Franken, macht 26 000 Franken.

Ich habe also als Junggeselle 26 000 Franken Einkommen und werde in der Welt als der Epikuräer und reiche Bankier Beyle dastehen, der zu seinem Vergnügen Verse schreibt. Das ist die glücklichste Lage, in die ich gelangen kann. Ich heirate ein Mädchen mit 19 000 Franken, dann habe ich 45 000 und durch meinen Kredit mache ich mich zum Tribun. Das gibt nochmals 15 000 Franken.

Wahrscheinliche Gesamtsumme höchstens 60 000 Franken Einkommen.

3. Brumaire XIII (25. Oktober 1804).

Heute abend war ich gegen Penets drei Kameraden zu scharf und nicht humoristisch genug. Diese Art erschreckt; es ist stets mein Fehler bei der ersten Bekanntschaft.

12. Brumaire (3. November).

Ich zwinge mich zur Arbeit an der guten Sache,Sein Lustspiel »Letellier«. obwohl ich gar keine Lust dazu habe. Eben habe ich die beste Komödienszene beendet, die ich je schrieb, die dritte des ersten Aktes.

Schlaflose Nacht; ich denke viel an den Plan des »Höflings«, eines fünfaktigen Verslustspiels. Ich habe meine Gedanken wieder mal nicht aufgeschrieben und sie vergessen.

29. Brumaire (20. November).

Wenn ich Pascal lese, glaube ich, mich selbst zu lesen, und da ich den hohen Ruhm dieses großen Mannes kenne, empfinde ich großen Genuß. Ich glaube, von allen Schriftstellern steht er mir seelisch am nächsten.

Nie ein Trauerspiel auf die griechische Mythologie begründen, diese lächerliche Barbarei, die Verbrechen mit Verbrechen straft und in zweihundert Jahren völlig lächerlich sein wird.

Der gegenwärtige Komödienstil muß die komischen Züge herausarbeiten, darf sie aber nicht zu bloßem Scherz herabdrücken. Er muß also so natürlich und so wenig erklügelt wie möglich sein. Mir stets die Verhandlungen des Prozesses gegen MoreauJean Victor Moreau (1761–1813), der Sieger von Hohenlinden, von Napoleon als Nebenbuhler 1804 als Verschwörer angeklagt und nach Amerika verbannt. Beyle nimmt in seinem Tagebuch mehrfach scharf Partei für Moreau und gegen Napoleon. – Wie er hier einen Prozeß als Richtschnur für seinen Stil nimmt, hat er später den Ton seines »Lucian Leuwen« und seiner »Kartause von Parma« am Bürgerlichen Gesetzbuch abgestimmt, »um stets natürlich zu sein«. vergegenwärtigen. Der Stil ist weder elegant noch korrekt, aber stets völlig verständlich. Man sieht, daß der, welcher das Wort führt, das Bestreben hat, verstanden zu werden, und er ist von lebendiger Leidenschaft. Daran muß ich denken und mich zur Ordnung rufen, wenn ich abirre. Im übrigen schreiben, was ich denke und wie ich es sprechen würde; wagen, ich selbst zu sein.

30. Brumaire.

Meinen Geschmack von La Harpe und GagnonSein Großvater. befreien, indem ich oft die großen Dramatiker lese: Äschylos, Sophokles, Euripides, Shakespeare, Corneille, Alfieri, Racine, Aristophanes, Molière, Goldoni, Plautus.

Mein Urteil von Rousseau befreien, indem ich Destutt [de Tracy], Tacitus und Prévost (aus Genf)Pierre Prévost (1754–1839), Übersetzer englischer Werke und Verfasser wissenschaftlicher und philosophischer Traktate. lese.

3. Frimaire (24. November).

Sobald ich 50 Louisdors übrig habe und der Friede geschlossen ist, nach London reisen, um Shakespeare aufführen zu sehen. Von Grenoble könnte ich nach Turin fahren, um Alfieris Dramen auf der Bühne zu sehen.

Sonntag, 11. Frimaire (2. Dezember 1804), Tag der Kaiserkrönung.

Mante und ich haben keinen Sou in der Tasche. Er holte mich um halb acht Uhr ab. Wir gingen ganz einfach nach der Rue Saint-Honoré. Wir sahen sehr gut den Papst und anderthalb Stunden darauf die kaiserlichen Wagen und den Kaiser selbst.

Ich dachte den ganzen Tag über dies offenbare Bündnis aller Marktschreier nach. Die Religion sanktioniert die Tyrannei, und das alles angeblich zum Wohl der Menschheit. Ich spülte mir den Mund, indem ich etwas in Alfieris Prosa las.

Mittwoch, 21. Frimaire (12. Dezember).

Martial führt mich zu Dugazon. Ich bin von diesem tiefen Schauspieler entzückt. Er steht dermaßen über La Rive, daß ein Vergleich gar nicht möglich ist. Die Bekanntschaft mit ihm ist eins der glücklichsten Ereignisse für mein Talent.

Il zioMein Oheim (Daru). hat BeauharnaisNapoleons Stiefsohn Eugen Beauharnais (1781–1824), seit 1805 Vizekönig von Italien. gesehen. Er erzählte mir, wie freundschaftlich er ihn empfangen hätte. Darob schwelge ich zwei Stunden in ehrgeizigen Träumen.

1. Januar 1805.

Ich lese mit größter Befriedigung die ersten 112 Seiten von Tracy»Eléments d'Idéologie«, Bd. 1, 1801. so geläufig wie einen Roman. Abends habe ich etwas Schmerzen, aber keine schlimmen. Ich lese dabei einen ganzen Band von Voltaires Briefwechsel. Ich bin in Geldverlegenheit, ich muß nach Grenoble. Aber gestern war ich in »Philinte«,Von Fabre d'Eglantine. habe mir Tracy gekauft und werde morgen drei Stunden mit Dugazon, Fräulein DuchesnoisBerühmte Tragödin (1777–1835). und Martial verbringen, also bleiben wir in Paris.

Meine Lage ist so gut wie möglich, trotz meinem barbarischen Vater, der es zuläßt, daß ich meine Gesundheit durch tägliches Fieber zerrütte, wo etwas Geld mich gesund machen kann. Und dieser Vater kann mich lieben!

17. Nivose (7. Januar 1805).

Ich gehe zu Dugazon, ohne zu deklamieren, dann im Straßenanzug zu Pierre Daru, um ihn um 200 Franken zu bitten (die mein Großvater mir geschenkt hat). Ich treffe in der Bibliothek Frau Daru, Martial, Frau Rebuffet und Adele. Man lädt mich mit ihnen zum Essen ein. Ich gehe aber um sieben Uhr fort, obwohl ich gern geblieben wäre. Ich hatte nur 26 Sous in der Tasche und hätte vielleicht eine Droschke bezahlen müssen, um die Damen nach Hause zu bringen. In eine solche Lage bringt väterlicher Geiz einen der hochherzigsten Charaktere. Trotzdem bin ich heute abend zufrieden. Die Aussicht auf die 200 Franken morgen trägt viel dazu bei; ich war heute schlecht angezogen...

Was ist ein großer Charakter? Diese Frage ist die erste Frucht der Lektüre von Tracys »Ideologie«. Nur Frauen mit großem Charakter können mich beglücken.

Die Mutter Daru überhäuft mich mit Güte. Ich speise bei ihr in einer mein Herz erfreuenden Weise zwischen Martial und Adele. Ich fühle es, als wir uns zu Tisch setzen. Kaum kann ich die Worte zurückhalten: »Sie setzen mich neben das Liebste, was ich habe.«

24. Nivose (14. Januar).

Die Freuden der Eitelkeit sind für meine empfindsame und etwas geizige Seele so selten, daß ich mich ganz meiner Liebe zu ViktorineViktorine Mounier, die Tochter des auf Seite 42 f. genannten Präfekten, Beyle hatte sich wohl während seines Aufenthaltes in Grenoble nach der Rückkehr aus Italien in sie verliebt und sie dann in Paris kurz wiedergesehen. »Infolge einer gewaltsamen Trennung«, schreibt er in der Vie de Henri Brulard« (I, 67), »faßten ich und Viktorine keine heftige Leidenschaft für einander, als wir 1803 oder 1804 bei einem Platzregen unter einer Toreinfahrt standen.« Diese »gewaltsame Trennung«, die Ernennung des Vaters zum Präfekten in Rennes, fand aber schon am 13. April 1802 statt. Beyle kam erst am 15. April 1802 nach Paris, und Viktorine verließ es am 15. Mai (Arbelet, Jeunesse, II, 212). An einer andern Stelle der »Vie de Henri Brulard« (II, 34) behauptet Beyle, ihretwegen hätte er seinen Abschied genommen und sei nach Paris »geflüchtet«. Aber das ist spätere romantische Ausschmückung, die auch in seinen beiden Nekrologen (am Schluß dieses Bandes) wiederkehrt; vielmehr ist Beyle mit vollem Einverständnis seiner Familie nach Paris gegangen. Die obige Aufzeichnung zeigt jedoch, daß er noch 1805 an ihr hing und ihr verliebte Briefe schrieb – ungeachtet seiner Liebe zu Adele Rebuffet. und dem Ruhm widmen muß. Aber das wird eines Tages gewiß noch kommen. Ein Jahr Luxus, Genuß und Eitelkeit und ich habe die Bedürfnisse befriedigt, die mein Jahrhundert mir einflößt. Ich kehre zu den wahren Seelenfreuden zurück, die mir nie schal werden können.

Aber in jener Zeit der Torheit werde ich meine Schüchternheit überwunden haben, was durchaus nötig ist, damit mein wahres Wesen herauskommt. Bis dahin wird man nur ein beherrschtes, künstliches Wesen sehen, fast das völlige Gegenteil dessen, was in mir steckt. Das merkte ich wohl bei den Briefen, die ich gestern und vorgestern an Viktorine schrieb. Sie waren abscheulich. Sie brachten mein Herz nicht zum Ausdruck, wie es wirklich ist, und ich konnte sie weder verbessern, noch durch Mienenspiel ergänzen. Auch das, was ich hier schreibe – ich fühle es – ist nichts als Phrase. Es ist noch nicht mein klares, ungetrübtes Denken. Dazu muß ich Weltgewandtheit bekommen, und dazu brauche ich Geld.

Meine edlen, republikanischen Gedanken: mein Haß gegen die Tyrannei, meine natürliche Neigung, falsche Biedermänner zu durchschauen, meine Unklugheit, zu sagen, was ich in ihrer Seele lese, und die Energie, die man in der meinen sieht, die angeborne, oft schlecht verhehlte Ungeduld gegenüber allem Mittelmäßigen.

28. Nivose (18. Januar).

Ich dachte eben zwei Stunden über das Benehmen meines Vaters nach, denn meine Gesundheit wird seit sieben Monaten durch starke Fieberanfälle untergraben. Ich habe mich nicht kurieren können, denn erstens hatte ich kein Geld, um den Arzt zu bezahlen, und zweitens wäre es zwecklos, ja selbst schädlich, den Körper durch Arzneien anzustrengen, um eine Krankheit zu vertreiben, die ich mir allein durch meine Armut hätte zuziehen können, selbst wenn ich sie nicht schon vorher gehabt hätte. In dieser schmutzigen Stadt habe ich stets die Füße im Wasser, keine Stiefel und friere auf alle mögliche Weise, weil ich kein Brennholz und keine Kleider habe. Dazu nehme man all die inneren Demütigungen und die stete Sorge in meinem Leben, wo ich oft nur zwanzig, zwölf, vier Sous oder gar nichts in der Tasche habe, und man hat den rechten Begriff davon, in welcher Lage dieser »tugendhafte« Mann mich läßt. Man berechne die Wirkung eines achtmonatlichen schleichenden Fiebers, das durch jedes denkbare Elend genährt wird, auf eine Konstitution, die bereits durch Verstopfung und Schwäche im Unterleib angegriffen ist, und man wird mir zugeben, daß mein Vater mein Leben verkürzt. Ohne meine Studien, oder besser, die Liebe zum Ruhm, die in meinem Busen ungewollt keimt, hätte ich fünf- bis achtmal Selbstmord begangen.

Er geruht seit über drei Monaten nicht, auf meine Briefe zu antworten, in denen ich ihm mein Elend schildre und um einen kleinen Vorschuß, um mir Kleider zu kaufen, auf meine jährliche Zulage von 3000 Franken bat, die er auf 2400 Franken herabgesetzt hat. Diesen Vorschuß hätte kein Fremder einem Fremden abgeschlagen, der krank und frierend hundertfünfzig Wegstunden von seiner Heimat ist. Ich bat ihn darum im Vendémiaire des Jahres XIII, als er noch die 2400 Franken von meiner jährlichen Zulage in Händen hatte.

Nach alledem ist mein Vater gegen mich ein elender Bösewicht ohne Tugend und Erbarmen. Senza virtù ne carità, wie Karoline im »Matrimonio segreto« sagt. Er hatte mir 3000 Franken versprochen, damit ich den Militärdienst verlassen könnte. Und so hält er sein Versprechen. Aus Gründen, die er nicht kennt, mag ich in diesem Entschluß mein Glück gefunden haben. Aber trotzdem ist ein Mensch, der einen wohlgezielten Schuß auf mich abgibt und mich nur deshalb nicht tötet, weil ich gepanzert bin, doch ein Mörder. Diese große Wahrheit gibt mir von Anfang an recht.

Wenn man mich nach alledem bezichtigt, ein unnatürlicher Sohn zu sein, so ist das eitles Geschwätz.

Nachschrift. – Ich schreibe dies lediglich zum Wohl meiner Kinder und um mich in dreißig Jahren vor Geiz zu hüten. Wirst du nicht im tiefsten Herzen erröten, wenn du dies im Jahre 1835 wieder liest? Bedarf es einer langen Beweisführung? Geh in dich.

14. Pluviose (3. Februar).

Seit dem Vierten verbrachte ich die reizendsten Tage bei Dugazon, vielleicht Tage des größten Glückes, die Menschen im ganzen genommen mir bereiten können. Kurz, diese Tage waren göttlich und die glücklichsten, die ich auf Erden verlebt habe. Die Liebe zum Ruhm trägt viel dazu bei.

Ich habe LouasonDie junge Schauspielerin Melanie Guilbert, die er bei seinen Deklamationsstunden kennengelernt hatte. nach ihrer Wohnung begleitet. Ich habe fast Lust, mich mit ihr anzufreunden; das wird mich von meiner Liebe zu Viktorine heilen. Ich werde mit meiner kleinen Louason alle Freuden der glücklichen Liebe und des Frohsinns auskosten, bis ich nach Grenoble abreise. Aber sie muß eine Seele haben. Viktorine verachtet mich oder hat meine Briefe nicht erhalten.

22. Pluviose (11. Februar).

Gestern im Café de la Régence gefrühstückt. Mir ein Beispiel an Shakespeare nehmen. Wie er dahinfließt wie ein alles überschwemmender, fortreißender Strom. Welch ein Schwung in seinem Dahinströmen. Wie breit ist seine Schilderung, ganz Natur. Immerfort wechsle ich bei diesem Großen zwischen zärtlichster Liebe und lebhaftester Bewunderung. Er ist für mein Herz der größte Dichter, der je gelebt hat. Bei allen andern mischt sich stets etwas wortgläubige Schätzung ein; bei ihm fühle ich stets tausendfach mehr, als ich sagen kann.

Ich bin im Begriff, eine zärtliche Neigung für sieLouason. zu fassen. Ich bete in ihr die Wollust selbst an, alle wirklichen Freuden der Liebe ohne die Schwermut und das Finstere dieser Leidenschaft. Und dann ist unsre äußere Lage so ähnlich! Ich will sie durchaus zu meiner Freundin machen.

Zu lange schon weiß ich, daß ich zu empfindsam bin, daß das Leben, das ich führe, mich mit tausend Dornen zerreißt. Diese Dornen wären durch ein Einkommen von 10 000 Franken zu beseitigen. Vermögen ist für mich nicht in dem Sinne nötig wie für andre, um so mehr wegen meiner übermäßigen Feinfühligkeit, infolge deren mich die Betonung eines Wortes, eine unauffällige Gebärde beseligen oder tief unglücklich machen kann. Das alles verberge ich unter meinem Husarenmantel.

Ein Bankunternehmen mit einem so zuverlässigen Freunde wie Mante und ein Einkommen von 6000 Franken wird mich von allen Leiden befreien und mir die Muße geben, alle Freuden dieser Empfindsamkeit zu genießen, von der niemand etwas erfahren soll. Ich bedarf einer Dichterseele, einer Seele wie Sappho, die ich schon nicht mehr zu finden hoffte, aber dann würden wir übermenschliche Wonnen genießen.

Also muß ich Louason am nächsten Mittwoch begleiten, zu ihr hinaufgehen und sie mit Zärtlichkeit überhäufen, um ihr zu beweisen, daß ich kein gewöhnlicher Lebemann bin.

Der schlimmste Betrug, zu dem die Kenntnis der Frauen führen kann, ist, aus Furcht, betrogen zu werden, nie zu lieben.

Am letzten Mittwoch und Freitag, den 17. und 19. Pluviose I spoke of my love.Sprach ich von meiner Liebe. Am 19. ein Augenblick ausgesprochener Rührung, der zum Ziel hätte führen müssen. Alle meine Liebesgespräche waren gespielt, nicht eins war natürlich. Der reine Fleury, den ich ihr vortrug; ich hätte fast das Stück bezeichnen können, aus dem ich jede Gebärde entnahm, und doch liebte ich sie. Traue noch einer dem Augenschein! Wenn ich erst 6000 Franken Einkommen habe, werde ich wagen, in der Liebe ich selbst zu sein.

24. Pluviose, 11 Uhr abends (13. Februar 1805).

Alles geht gut. Sie scheint einen großen Charakter zu haben. Aber als sie ihrer Magd gebot, mich hinauszulassen, sah ich ihre Augen leuchten, als wollte sie sagen: »Besessen hat er mich noch nicht!«

Freitag, 26. Pluviose.

Ich hatte ihr reizende Dinge zu sagen. Als sie bei Dugazon erschien, hatte ich alles vergessen...

Wir sprachen mit der Vertraulichkeit zweier großer Seelen, die einander verstehen. Von Zeit zu Zeit blickte sie mich mit leicht verklärten Augen an, ohne etwas zu sagen. Sie sagte mir mit natürlichem Anstand, sie wolle keinen Liebhaber haben, bevor sie kein Engagement hätte, aus Furcht vor einem Kinde. Sie deutete das ebenso zart an, wie dieser Ausdruck grob ist.

30. Pluviose XIII (19. Februar).

Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Das beweist mir, daß sie eine ebenso empfindsame Seele hat wie ich; denn sie erzählte mir Umstände, die nur eine feinfühlige Seele bemerken kann. Sie heißt Melanie Guilbert und stammt aus Caen... Sie war göttlich, als sie mir ihre Familienverhältnisse erzählte. Ich saß neben ihr, die Hände in den ihren, und blickte ihr ins Gesicht. Ich verlor keine ihrer Mienen. Sie merkte wohl, daß ihre zärtliche Seele Eindruck machte. Nur etwas habe ich ihr vorzuwerfen, aber welche Frau ist nicht etwas gefallsüchtig? Sie war wirklich gerührt, als sie von ihrem verstorbenen Vater erzählte, aber sie trocknete sich zweimal die Augen, obwohl keine Tränen darin waren. Ich raubte ihr zwanzig Küsse und sie sträubte sich nicht allzu sehr; ich glaube, sie liebt mich. Wir haben ausgemacht, daß ich sie Melanie nenne und sie mich Henri. Ich habe sie herzlich geküßt und bin um drei Uhr fortgegangen. Dieser holde Tag und dies Glück, das ich in der Provinz nie fände (Kunst und die zarte Liebe eines geistvollen Mädchens), haben mir nicht soviel Eindruck gemacht, wie sie es vor drei Tagen getan hätten. Ich beginne, mich an das Glück zu gewöhnen.

1. Ventose (20. Februar).

Ich fühle, daß in allem, was mich umgibt, nichts Wahres ist als meine Liebe.

Elf Uhr. – Ich komme von ihr; ich habe den Abend mit ihr verbracht und möchte bis zum Wiedersehen morgen Mittag ausgelöscht sein. Meine Seele ist zu erschöpft, um niederzuschreiben, was ich heute alles empfunden habe. Alles läßt mich glauben, daß sie mich liebt. Um die Gefühle niederzuschreiben, die Melanie in mir erweckt hat, müßte ich einen frischen Geist und fünfzig Seiten haben. Aber ich bin erschöpft und möchte schlafen. Deshalb kann ich auch nichts von den großen Einblicken in den menschlichen Geist sagen, die mir dieser Tag beschert hat. Mein Empfinden war heute abend so stark, daß ich heftige Magenschmerzen habe.

4. Ventose (23. Februar).

GripoliEiner der Teilnehmer an den Deklamationsstunden. ging mit mir zwei Stunden in den Tuilerien spazieren und erzählte mir von der schrecklichen Wirkung, die meine Art von Geist auf die Menschen hat. Das verknüpft mich noch mehr mit meiner Louason. Sie hat eine Künstlerseele, und ich werde diese Seele lieben, die ebenso zärtlich ist wie die meine. Die Dummköpfe aber werden meine Scherze für kaltblütige Behauptungen nehmen, und da sie meine Seele nirgends erfassen können, werden sie mich für einen gefährlichen und somit bösen Menschen halten. Wenn ich am Leben bleibe, wird mein Wandel beweisen, daß kein Mensch dem Mitleid zugänglicher ist als ich. Die geringste Kleinigkeit bewegt mich und treibt mir die Tränen in die Augen. Immerfort siegt der Eindruck über die Wahrnehmung. Daher vermag ich auch nicht den geringsten Plan zu befolgen. Kurz, es gibt keinen gutherzigeren Menschen als mich. Das alles verdoppelt meine Liebe zu der göttlichen Melanie.

Montag, 6. Ventose.

Maximum of wit of my life.Maximum an Esprit in meinem Leben.

Ich komme von Louason. Ich war zum erstenmal glänzend, aber mit Besonnenheit und nicht mit Leidenschaft. Sie war bezaubert von mir und gab mir leichtes Spiel, ihr eine Erklärung zu machen.

Herr von Chateauneuf»Ein schöner Mann von 36 Jahren, von schwerfälligem Geist und ohne jeden Charakter, eine sehr schlechte und sehr kalte Kopie von La Rive, ein dummer Geck«, nennt ihn Beyle an andrer Stelle. kam zu ihr; ich begrüßte ihn sehr höflich; er erzählte uns sein Leben; seine Unterhaltung ist langsam und trocken auch bei den schönsten Gegenständen. Ich riß alsbald das Gespräch an mich und kam vom Hundertsten aufs Tausendste, mit einer Gewandtheit, die mich selbst erstaunte. Nachdem ich meinen Mann durch alle denkbaren Gesprächsstoffe gehetzt hatte, brachte ich ihn auf Alfieri. Er hat ihn gut gekannt und einen Monat bei ihm gewohnt. Da erwachte meine Begeisterung für diesen Großen. Schließlich fragte er mich nachlässig, als ob er ein Nein erwartete:

»Können Sie Italienisch?«

»Si, lo capisco molto, sono stato tre anni in Italia«, entgegnete ich in der besten Aussprache. Sein Gesicht drückte lebhafte Überraschung und Freude aus. Ich war für ihn schön bis zur Erhabenheit und beginne überhaupt erhaben zu werden. Louason hörte aufmerksam zu.

Dann sagte er mir das prachtvolle Sonett Alfieris auf, dessen tiefe Wahrheiten in eine prunkhafte, gefühlvolle Sprache gekleidet sind. Ich ließ mein Gefühl hervorbrechen: es war der Ausdruck der lebhaftesten Bewunderung.

»Wenn Sie fortfahren«, sagte Louason zu ihm, »so wird er verrückt...«

Das war zweifellos der schönste Tag meines Lebens. Ich kann größere Erfolge haben, aber nie mehr Begabung entwickeln. Das ist das erstemal, daß ich mein Talent in diesem Maße an mir sehe – gewiß ein Anlaß zu einer Freude der Eitelkeit! Wohlan! Ich fühlte es gestern und fühle es noch heute: ich bin völlig unfähig dazu. Nur die Liebe macht mir die Erinnerung an diesen Tag so hold. Ich wünsche nichts als das Liebesglück bei Melanie. Alles andre hat wenig zu sagen.

Am Abend war ich völlig erschöpft und zu nichts fähig. Ich müßte eine Gesellschaft haben, in der ich mich ausruhen könnte, ein Konzert in einem Hause, in dem ich völlig frei wäre. Da ich das nicht habe, ging ich um acht Uhr zu Bett.

9. und 10. Ventose.

Gestern und heute sah ich die liebenswürdige Melanie. Meine Liebe ist erstaunlich gewachsen. Heute abend war sie mein Leben. Ich glaube, Herr Le BlancEin Verehrer Melanies. hält sie keineswegs aus, sondern er ist einfach ein Literat, der mit ihr ihre Rollen bespricht, aber Geheimhaltung verlangt hat. Trifft das zu, welche engelhafte Seele! Sie begriff nicht mal meinen Argwohn, und meine groben Worte können ihr Zartgefühl nicht im entferntesten ausdrücken. Sie liebt mich und will es mir nicht sagen. Ich muß ihr morgen mein Bedauern zeigen.

Sonntag, 12. Ventose (3. März).

Ich habe rechtes Unglück in meiner Liebe gehabt. Ich konnte abends nicht ins Theater gehen. Ich wollte sie um Verzeihung für meine Indiskretion bitten, denn es war eine, und zwar eine recht dumme. Damit wäre alles beigelegt gewesen, und sie wäre jetzt die Meine. Gestern mittag ging ich zu ihr. Man sagte mir, sie sei ausgegangen. Nachher ging ich zu Herrn de Baure; er empfing mich, als hätte er mich erst gestern gesehen, obwohl ich seit zwei Monaten nicht bei ihm war. Nie habe ich soviel Genuß an der Unterhaltung mit einem geistvollen Manne gehabt. Solch ein Genuß ist wegen des Gegenstandes der Unterhaltung in der Provinz unmöglich.

Heute mittag um ein Uhr ging ich klopfenden Herzens wieder zu ihr. »Madame ist ausgegangen.« Es liegt also auf der Hand, daß sie mir heute und wohl auch gestern die Tür verschlossen hat. Morgen darf ich mich nicht im geringsten beleidigt zeigen; sie hat mir eine wohlverdiente Lehre gegeben.

Montag, 13. Ventose.

Ich glaube fast, sie hat mich nie geliebt oder will mit mir brechen. Ein Kuß, den WagnerEin deutscher Teilnehmer an dem Deklamationskursus. ihr heute morgen raubte, hat mich fast außer mir gebracht, und doch war es vielleicht nur eine Folge der Schauspielersitten. Was mich in Verzweiflung versetzt, ist, daß sie mich höflich behandelt; keine Vertraulichkeit mehr.

Dienstag, 14. Ventose.

Ich hatte weder Mut noch Zeit, das folgende am selben Tage zu schreiben, so unglücklich war ich. Ich fühlte alle Qualen einer unerwiderten Liebe, die gräßliche Demütigung, die man in Augenblicken der Wut, der Schwermut und der Tränen empfindet. Wird man danach melancholisch, so ist der Zustand schon erträglicher.

Mittags ging ich zu Melanie, vor Erregung fast außer mir. Ich klingle, niemand antwortet. Ich ging zum Pont Royal und verbrachte dort eine halbe Stunde, wohl eine der peinlichsten meines Lebens; meine einzige Ablenkung war, meinen Zustand zu beobachten, und das war eine große Ablenkung.

Ich ging nochmals zu ihr; noch niemand da. Ich ging trotz heftigen inneren Widerstrebens zum dritten Male hin. Mir wurde geöffnet, ich trat ein und fand sie mit Chateauneuf. Sie empfing mich mit dem Lächeln, das sie für jedermann hat, und wich meinen Blicken beständig aus. Wenn sie mich ansah, waren ihre Blicke kalt und höflich. Ich merkte ihre Absicht, mit mir zu brechen. Was mich etwas beruhigte, war, daß sie sehr erregt schien. Bald hatten ihre Augen einen feuchten Schimmer und ihr Gesicht war gerötet, bald waren ihre Züge erloschen und totenbleich. Sie war sehr zerstreut. Ich drückte mich gegen ein Uhr, als Herr Le Blanc erschien.

Abends sah ich sie im Theater. Ich sah sie in Begleitung von DusausoirJ. F. Dusausoir (1737–1822), ein fruchtbarer Theaterschriftsteller. hinausgehen. Da sie es nicht vermeiden konnte, grüßte sie mich sehr kalt und höflich. Ich war verzweifelt. Ich zerstreute mich, indem ich Fräulein Duchesnois in ihrer Garderobe besuchte.

15. Ventose (6. März 1805).

Ich hatte bei Dugazon eine kleine Auseinandersetzung mit ihr. Sie antwortete auf meine Frage ganz natürlich: »Aber es war doch nichts« usw.

Nach der Stunde schlug sie mir vor, ins Luxemburg-Museum zu gehen. Ich sagte ihr, es sei jetzt nicht geöffnet, und so vereinbarten wir, den Botanischen Garten zu besuchen. Ich empfand dies Glück nicht so lebhaft, wie ich es an den ersten Unglückstagen getan hätte. Ich war körperlich und geistig erschöpft. Auch legte sie in dies reizende Wort nicht soviel Liebe wie sonst.

Wir fuhren also nach dem Botanischen Garten, frühstückten in der reizenden frischen Hütte und durchstreiften den Tierpark und das Treibhaus. Dann kehrten wir zu ihr zurück. Wir waren glücklich, aber ohne den ganzen Liebesüberschwang, den ich manchmal empfinde. Als ich ihr sagte, ich sei um so glücklicher, als ich seit vier Tagen gefürchtet hätte, sie wollte mit mir brechen, verstand sie meine Gründe nicht. Sie sagte, Chateauneuf hätte sie furchtbar gelangweilt, und deshalb hatte sie diese Miene gehabt. Und am Abend im Theater hätte sie mich dreimal gegrüßt, aber ich hätte getan, als sähe ich sie nicht. »Er wird wohl seinen... haben, sagte ich mir.« Ich weiß nicht, welchen Ausdruck sie gebrauchte; sie machte wohl nur eine Gebärde.

»Aber dieser kalte, höfliche Gruß?«

»Und wie soll ich Sie vor aller Welt anders grüßen?«

Beim Abschied ließ sie sich ohne Sträuben küssen.

19. Ventose, 2 Uhr nachts.

Heute habe ich zwanzig Stunden gelebt. Dieser Tag war einer der fesselndsten meines Lebens. Macht man bei ihrem Geiste einem ungeliebten Manne soviel Anvertrauungen? Wir haben zwölf Stunden miteinander verbracht. Ich gehe schlafen und segne den Himmel, eine so starkfühlende Seele zu haben. Ich habe an diesem Tage vielleicht mehr gelebt, als Gripoli in einer Woche.

20. Ventose XIII (11. März).

Ich muß mein Liebessystem Louason gegenüber völlig ändern. Meine Erfolge dienen mir zur Lehre. Ich muß in Melanies Augen liebenswürdig erscheinen, wie heute in der großen Allee der Tuilerien, und ihr nicht immerfort sagen, daß ich sie liebe. Da ich sie oft unter vier Augen sehe, könnte ich sie damit leicht langweilen.

Ich fürchte, zu häßlich zu sein, um von ihr geliebt zu werden. Ich fürchte, daß diese Furcht mich linkisch macht; ich muß sie bezwingen.

Ich will ihr also nur bei Gelegenheit von meiner Liebe reden, sie aber stets so zeigen, daß sie sie nicht für erloschen hält.

Eins ist klar: ich habe ein großes Mittel, ihr zu gefallen. Ich lese in ihrer Seele wie in einem Buche, und ich lerne täglich besser darin lesen. Ich kenne die Leidenschaften; statt ihr zu sagen, was ich vor einer Stunde oder Viertelstunde dachte – das ist oft spropositoFalsch angebracht, zur Unzeit. – muß ich ihr sagen, was ich im Augenblick empfinde.

Die Langeweile, die ich manchmal bei ihr empfinde, kommt von meiner Schüchternheit, infolge deren ich mir das, was ich sagen will, wie ein Buch zurechtlege. Langeweile aber ist ansteckend. Mein Entschluß steht also fest: ihr in jedem Augenblick das zu sagen, was ich denke und fühle, um dabei den Blick auf ihre Seele zu richten.

23. Ventose.

Ich fühle es, sie erfüllt meine ganze Seele. Ich habe für nichts anderes mehr Empfindungsvermögen. Ich handle mechanisch; mein Denken ist stets auf sie eingestellt; ich habe sie stets vor Augen. Und da ich zu gewitzigt bin, mich irgendwem anzuvertrauen, ist dies Tagebuch meine einzige Erleichterung.

Alles übrige läßt mich kalt. Ich brächte die größten Opfer, ohne sie zu empfinden. Man macht sich im allgemeinen keine richtige Vorstellung von den Opfern, die man im Zustand großer Leidenschaft bringt. Steht es mit den andern wie mit der Liebe, so fühlt der, welcher das Opfer bringt, es nicht.

Heute habe ich mir zum erstenmal im Leben Vermögen gewünscht. Bisher war das nur ein unbestimmter Wunsch gewesen, aber heute war er so lebhaft, daß ich mehrere Jahre Bureauarbeit auf mich genommen hätte. Wäre ich bemittelt, so wäre sie heute die Meine geworden, und mein Tag wäre vielleicht hold gewesen, statt ganz trübsinnig zu sein.

Der Grund, weshalb ich bei ihr nicht weiterkomme, ist vielleicht der: Ich liebe sie so sehr, daß ich ihren Worten mit Genuß lausche und mich ganz diesem Gefühl hingebe. Selbst wenn mir die Denkkraft verbliebe, hätte ich wahrscheinlich nicht die Kraft, sie zu unterbrechen, um selbst etwas zu sagen. So erringen die wahren Liebenden vielleicht oft die Gunst ihrer Geliebten nicht. Jedenfalls schwelgte ich zu sehr im Genuß meiner Empfindungen und wagte sie nicht zu küssen; das war wohl verkehrt.

Ich kenne das Spiel der Leidenschaften so gut, daß ich mich mit beiden Händen festhalten muß, um nicht mißtrauisch zu werden, und nie meiner Sache sicher bin, weil ich alle Möglichkeiten sehe. Alles in allem bin ich ein Schaf; sie hat mich am Sonntag nicht abgewiesen, und gestern und heute habe ich die Gelegenheit verpaßt.

Sonntag, 26. Ventose (17. März).

Um Mittag kleidete ich mich an. Ich hatte das Gefühl der Langeweile, weil Sonntag ist. Dieser Tag ist mir gräßlich zuwider.

Ich ging stolz zu Dugazon: große, schwarze Locken, gute Haltung, Halsbinde, Jabot, zwei prächtige Westen, tadelloser Anzug, Beinkleider aus Kaschmir, Wadenstrümpfe und Schuhe. Es war einer der Tage, wo ich am besten aussah. Mein Auftreten war vornehm und sicher wie das eines Weltmannes. Dugazon hatte mich bis ein Uhr erwartet und war nach Versailles gefahren. Ich ging zu Melanie. Ich war etwas kalt (wahrscheinlich wegen meines Geldmangels). Ich muß ihr etwas gekränkt erschienen sein. Wahrhaftig, ich bin ein Kind! Ich bin zu empfindsam, und bisher hatte ich zuviel Vertrauen in meiner Empfindsamkeit, um liebenswürdig zu sein. Ich bin ein in jedem Sinne unfertiges Kind.

Um halb fünf kehre ich tief niedergeschlagen zurück, nicht in düsterer Verzweiflung, aber dem Weinen nahe. Welche Freude hätte ich heute abend im Theater gehabt, aber ich habe kein Geld; selbst die Sorgen am Monatsende trugen zu meiner Trübsal bei...

Heute habe ich alle Nachteile der Natürlichkeit erfahren. Ich war unter vier Augen mit ihr und habe ihr nicht von meiner Liebe gesprochen, sie nur zweimal geküßt. Die Zeit verstrich; ich war glücklich. Ich wäre es vollständig gewesen, hätte ich vier Louisdors in der Tasche gehabt. Dann hätte ich die Keckheit gehabt, ohne die es keine Schönheit gibt. Sie las in den Memoiren der ClaironHippolyte Clairon, französische Tragödin (1723–1803), Ihre Memoiren waren 1799 erschienen. und schien ganz mit ihrer Kunst beschäftigt. Und doch wäre das wohl der erste Moment gewesen, um von meiner Liebe zu sprechen. Doch dazu bedurfte es einer geschickten Wendung und eines gespielten Geistes, ich aber war ganz Seele. Ich zitterte leicht und seufzte. (Das war teils gespielt, ein Herausarbeiten der Natur.)

Bei der Heimkehr war ich von dem Gedanken meiner Schüchternheit so bedrückt, daß ich dies nicht zu schreiben wagte. Erst als ich mir sagte, daß meine Liebe ihr lästig gefallen wäre, da sie ganz mit ihrer Kunst beschäftigt war, und daß es vielleicht das beste war, ihr als schüchterner Liebhaber zu erscheinen und daß ich vielleicht nicht so töricht war, als ich anfangs glaubte, lebte ich wieder etwas auf und fand die Kraft, dies zu schreiben.

Fortsetzung vom Sonntag, den 26. Ventose.

Als ich zu ihr ging, kleidete sie sich an. Ich bin bei solchen Gelegenheiten zu keusch. Ich bin stets ein Saint-Preux.In Rousseaus »Neuer Heloise«. Wir gingen in die Tuilerien. Ich konnte ein glänzendes Witzfeuerwerk sprühen lassen, aber das kann ich nur, wenn es natürlich ist; ich kann es nicht schreiben. Nachher gingen wir in die Champs Elysees. Unsere Unterhaltung war etwas kalt; das ist der Fehler natürlicher Menschen, aber damit erkauft man erlesene Augenblicke. Bei der Rückkehr sprachen unsere Seelen miteinander.

Wenn sie hier kein Engagement findet, geht sie nach Marseille. Das ist ein für mich einziger Glücksfall. Ich sagte ihr, wenn sie nach Marseille ginge, so würde ich ihr folgen und ihr Paris zum Opfer bringen. Ich darf mich über den Zufall in Kleinigkeiten nicht mehr beklagen, da er mich in einer so wichtigen Sache derart begünstigt. »Trotzdem«, fügte ich zu ihr, »opfere ich mein Interesse dem deinen, und ich wünschte, du bliebest hier.« Das trifft zu. Unsere Seelen sprachen miteinander, und ich war glücklich.

So ist ein natürlicher Mensch und kein Romanheld. Ich fühle wohl, ich kann nie aufhören, Adele zu lieben und an ihre Mutter zu denken, und doch wäre ich der glücklichste Sterbliche, wenn Melanie mit mir in Marseille ist.

Wir sprachen von meiner Liebe. Sie sagte, ich spräche nicht wie ein wirklich Verliebter. Ich parierte den Schlag, indem ich ihr Herz rührte, aber trotzdem sprach ich zu heiter von der Liebe. Ein schöner Fehler, aber doch ein Fehler, den ich mir angewöhnt habe, aus Furcht, zu sentimental und traurig zu erscheinen.

Ich sprach von meiner Schüchternheit; sie sagte, ich machte einen dreisten Eindruck. Sie glaubt es, und ich auch. Sie findet mich frech und machte einen Ausfall gegen Martial und den respektlosen Ton der jungen Lebemänner.

Alles in allem sehe ich wohl, daß ich mit Melanie zum Schluß kommen muß, aber ich liebe sie zu sehr, um es absichtlich zu tun. Sie muß mir bei Gelegenheit nachhelfen, und die Gelegenheit werde ich herbeiführen, sobald ich bei Gelde bin.

30. Ventose (21. März).

In sechs Jahren bliebe ich nicht sechs Wochen lang auf diesem Fuße mit einer Frau, die mir gefiele. Wahrscheinlich wäre sie nach einem Monat die Meine. Wäre ich dann aber ebenso glücklich? Das Glück macht alles. »Das Herz macht alles«, sagt Fräulein Duchesnois. Werde ich das Herz haben, wenn die Stunde schlägt?

Als wir in zärtlichstem Beieinander waren, ging die Klingel. Das ist er, der Teufel soll ihn holen! Ich küßte sie drei-, viermal hintereinander. Sie fühlte meine Küsse. Herr Le Blanc trat ein, und sie verstand es, eine reizende Unterhaltung zu führen. Man kann nicht geistreicher sein. Sie sagte über Gott und die Seele alles, was Mante und ich davon denken, und doch hat sie nie Helvétius, Tracy oder Bayle gelesen! Das ist der beste Beweis eines seltenen gesunden Menschenverstandes: sie selbst hat all das gefunden, was sie sagte. Man mache mir eine Frau ausfindig, die es ebenso macht!

Dies das leblose Skelett der reizendsten Stunde, genau wie ein Plan der Borromeischen Inseln und der Gestade des Lago Maggiore, Der Plan gibt alles an, was man nicht gesehen hat. Ma la pioggia amena, la selva lusinghiera, dove sono?Aber der erquickende Regen, der köstliche Wald, wo sind sie?

Melanie ist wirklich zur NinonNinon de Lenclos, berühmte französische Kurtisane (1616–1706), die ihre Memoiren hinterließ. geschaffen, nur mit dem Unterschied, daß sie im Leben bloß vier bis fünf Liebhaber haben wird. Das trifft um so mehr zu, als sie keinen gespielten (attacato) Charakter hat. Sie hat Ninons Charakter nicht in Büchern gelesen, sucht ihn nicht aus Prinzip zu haben, weil er der glücklichste oder liebenswürdigste ist; sie hat ihn ganz von Natur. Ein solcher Vorzug ist für Martial ganz unsichtbar. Mehr noch, er sieht vielleicht nur dessen Schwächen, selbst abgesehen von dem Rachegefühl, das der Eindruck ihrer Überlegenheit wahrscheinlich in ihm aufkeimen ließe. Danach glaube man noch an den Ruf! Was sind alle Reisebeschreibungen wert!

2. Germinal (23. März).

Wir haben bis halb zwei Uhr geschäkert. Sie hat ernstliche Absichten auf mich. Aber ich fühle mich für ewig unfähig, sie im Sturm zu erringen.

8. Germinal.

Der liebe Dugazon ist ein wenig Zuhälter von Beruf. Sie sagte zu mir: »In der ersten Zeit, als ich zu ihm ging, hat er mir schändliche Anerbietungen gemacht. ›Siehst du den Mann im Théâtre français‹, sagte er zu mir. ›Nun wohl, er ist in dich verliebt. Es ist Bacciochi.Fürst Bacciochi, der Gatte von Napoleons Schwester Elisa, seit 1805 von ihr getrennt. Wenn du willst, bringe ich dich in sein Landhaus; er gibt dir 25 Louisdor monatlich.‹« Sie wußte nicht, was sie sagen sollte, und schlug es ein andermal aus. Er sagte zu ihr: »Verkaufe dich nicht für einen Hut. Du mußt wenigstens davon profitieren.«

Das Wort »Hut« machte mir Eindruck. Sie hat mich heute vorzüglich behandelt. Sie befolgt Dugazons Rat nicht. Mir hätte sie sich für einen Hut hingegeben.

16. Germinal (6. April).

Die Lust, schnell zu sprechen und den flotten Vortrag Fleurys zu haben, während ich etwas Geistreiches sage, was ich fälschlich für geistreich halte, läßt mich nicht zum Nachdenken und zum Geistreichsein kommen.

Wir sprachen von mir, und daß ich vielleicht mit achtundzwanzig Jahren geistreich sein würde. Sie sagte etwa:

»Du hast nicht den glänzenden, unterhaltenden Geist, du hast Leidenschaft. Du würdest sie verlieren, ohne vielleicht jenen Geist zu erwerben.«

Ich Tropf, der ich bin! Wie hat meine schlechte Angewohnheit mir geschadet! Ich wäre zu ihren Füßen erhaben gewesen, wie Rousseau zu denen der Frau von Houdetot, hätte ich mir die Zeit zum Nachdenken genommen! Statt dessen habe ich mit vier bis fünf Fratzen von Fleury geantwortet!

Allgemeine Regel: Mir stets Zeit zum Nachdenken nehmen, wenn man mit mir spricht, statt den Marquis aus der Komödie zu spielen. Mich vor allem Falschen hüten, das die Anmut zerstört. Ich schreibe besser, als ich spreche; da tritt meine Seele hervor.

Zur Schönheit gehört das baldanzoso,Die Kühnheit. das man bei Apollo bewundert. Es schmeichelt einer Frau bei ihrem Liebhaber, indem es sie selbst sagen läßt: »Ich werde seinen Stolz unterwerfen.« Mein Benehmen hat in Melanies Augen nichts dergleichen. Wenn ich ihre Liebe erringe, so nur durch äußerstes Vertrauen. Mich von ihr leiten lassen; ich könnte wahrhaftig nichts Besseres tun. Ihr morgen meine Verse bringen.Das Verslustspiel »Letellier«.

Ich schreibe die holden Erinnerungen nicht mehr nieder; ich habe gemerkt, daß sie dadurch verdorben werden.

18. Germinal XIII (8. April 1805).

Ich ging um drei Uhr zu ihr. Ich traf sie noch mit Haarwickeln, wie sie ihre Wäsche zusammenlegte, die ihr Mädchen bügelte. Sie empfing mich mit glücklichem Lächeln. Hätte sie jeden andern so begrüßt, der sie in diesem Moment überraschte, oder war es etwas Besonderes für mich? Ich habe nicht Erfahrung genug, um das zu ergründen.

Wir gingen in ihrem Stübchen auf und nieder, Arm in Arm und Hand in Hand. Wir sprachen von ihrem ersten Auftreten und von ihren Plänen, falls sie kein Engagement fände. Sie sagte mir, sie hätte ihr Vermögen halb aufgebraucht und wollte mit ihrer Tochter aufs Land ziehen. Wir waren beide sehr gerührt. Sie hatte Tränen im Auge. Endlich erbot ich mich, mit ihr in einem Winkel Frankreichs zu leben, wo sie wollte. Als sie recht begriffen hatte, daß ich um ihretwillen alles aufgeben und ihrer Tochter Unterricht geben wollte, wandte sie eine Weile den Kopf zum Fenster, damit ich sie nicht weinen sähe. Dann bat sie mich um mein Taschentuch. Ich wagte ihre holden Tränen nicht selbst zu trocknen.

Es waren offenbar Tränen des Glücks; sie fand mich so gut, daß sie weinte. Bei etwas mehr Sicherheit oder etwas weniger Liebe wäre ich vielleicht erhaben gewesen, und sie wäre an diesem Tage die Meine geworden. Ich glaube, ich habe ihr tiefen Eindruck gemacht.

20. Germinal (10. April).

Melanie muß verständig geworden sein und sich Sorgen um die Zukunft machen, denn sie liebt ihre Tochter, und diese wäre mittellos, wenn sie die Mutter verlöre. Das war vielleicht ein Grund für ihre Schwermut; er muß sie für Güte empfänglich gemacht haben. Wenn ich sage: »gemacht haben«, so ist das kein Tadel für dies himmlische Mädchen, das vielleicht eine große Seele hat. Sie wird meinen Charakter bilden und mich geselliger machen. Ich werde lernen, meinen Beitrag zu den Freuden der Geselligkeit zu liefern und mich dadurch in Gesellschaft angenehm machen.

Mir scheint, ich werde Melanie stets zur Freundin, wo nicht zur Geliebten haben, und tatsächlich liebe ich sie von ganzem Herzen. Wenn sie beim Théâtre français keine Anstellung findet, wird sie den günstigen Augenblick in Marseille abwarten, wo sie anscheinend Freunde hat. Adele wird zur gleichen Zeit mit ihrer Mutter da sein. Ist das nicht seltnes Glück? Ich werde auch hingehen und mit Mante an der Bank arbeiten.

Inzwischen muß ich für ein paar Monate nach Grenoble reisen; selbst diese Pflicht ist ein Vergnügen, denn ich werde meine liebe Pauline dort wiedersehen. Ich glaube, es gibt wenige Brüder wie ich, die das Glück haben, l'amico riamatoDer geliebte Freund. eines genialen Mädchens und der schönsten Seele zu sein.

Was kann ich in meiner Lage mehr verlangen? Unglück oder das, was ich bisher so nannte, kann mir nur aus Geldsorgen kommen. Wohlan, ich habe einen geizigen Vater: bin ich der einzige? Ich beginne, meinen Charakter zu verbessern: ein reizendes Weib, das ich anbete, verbessert mich. Vorwärts! Saute, Marquis!

9. Floréal (29. April).

Barral ist gestern zu seinem Regiment nach Utrecht abgereist. Crozet ist um zehn Uhr abgereist. Ich bin zu Melanie gegangen. Nie ist sie mir so hübsch erschienen. Sie trug ein weißes Kleid und einen Strohhut, mit Rosen garniert. Sie sah aus wie ein schöner Frühlingstag. Herr Le Blanc war bei ihr. Als ich fortging, sagte sie zu mir:

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Kommen Sie um fünf Uhr wieder.«

Ich hätte sie tausendmal besitzen können, wenn ich es gewollt hätte, aber meiner Treu, es ist unmöglich! Ich fuhr mit ihr spazieren. Sie erzählte mir die Geschichte ihres Fehltritts; sie ist verführt worden.

Sie sagte mir, daß sie in acht Tagen nach Marseille abreist. Sie ist dort für 6500 Franken jährlich engagiert. Ich erbot mich, sie bis LyonVon Lyon fuhr Beyle nach Grenoble. zu begleiten. Sie war überrascht. Während dieser Reise muß sie durchaus die Meine werden! Hätte ich nur Wagemut! Je mehr ich sie liebe, desto schüchterner bin ich ...

Ich habe noch 320 Franken.

10. Floréal (30. April 1805).

Mit Martial gefrühstückt. Um zwei bei Melanie. Dann bei Adele, eine Stunde unter vier Augen. Abends im Theater. Ich stecke bis zum Halse im Gefühlvollen, somit in der Melancholie und in zärtlichem Bedauern, Paris zu verlassen. Das ist ein Vorurteil! Was lasse ich zurück? Was kann ich hier ohne Geld und ohne meine Freunde tun?

Ich muß gestehen, daß ich aus einem seltsamen Zustand des Wahnsinns erwache. Augenblicke der Verzweiflung im Stil Rousseaus waren mir zur Gewohnheit geworden. Ich hielt das für Genie, pflegte es selbstgefällig und blickte mitleidig auf alle, die es nicht hatten. Ich muß es für den Schreibtisch aufsparen, sonst werde ich für immer unglücklich.

Mir einen Plan meiner Lebensweise vorzeichnen und ihn niemandem sagen, außer Pauline.Im Urtext englisch. Ihn Punkt für Punkt in Marseille befolgen und mir das ideale Ziel, dem ich zustrebe, deutlich vor Augen stellen. Wenn M. unterwegs nicht die Meine wird, werde ich stets unglücklich mit ihr sein. Andernfalls werde ich der glücklichste Mensch in Marseille sein.Die beiden letzten Sätze im Urtext englisch.

Du Tropf, bisher hast du die Kraft der Leidenschaften nicht gehabt! Du hieltest dich für sehr stark, weil du leidenschaftlich warst. Du bist ganz charakterlos, erhaben in deinen Luftschlössern, aber untauglich in der Welt.

Nimm dich in Marseille tüchtig in die Mache. Habe nur ein Ziel: Lachen zu erregen, und sobald du einmal natürlich bist, wirst du sehen, wie weit du kommst.

Kurz, meinen Charakter bilden. Charakter heißt, das zu tun, was ich mir vorgenommen habe, mit oder ohne Hilfe von Leidenschaft, mit Schwung und Heiterkeit. Mich stets unter die Augen von Martial und Herrn de Baure versetzen; ihnen zu gefallen suchen.

Statt, wenn ich schüchtern bin, meine Leidenschaft aufzupeitschen, indem ich Romane lese oder aus meinem Herzen schöpfe, nur nüchterne Bücher lesen wie Duclos. Nach dem Siege habe ich Zeit genug, mich meinem allzu zärtlichen Charakter hinzugeben. Bis dahin ein gewöhnliches Weib in ihr sehen, ihr Herz zergliedern und mit der Leidenschaft spielen; sonst wirst du, stets schüchtern und dumm, erst nach dem Siege liebenswert und du selbst sein. Ich bin überzeugt, sie wird darob staunen.

Der Zustand der Reflexion, mein gewöhnlicher Zustand, ist das Gegenteil dessen der Erfahrung, ohne den ich nie ein echter Dichter sein werde. In meinem künftigen Benehmen alle Gelegenheiten zum Handeln suchen, und wäre es auch nur, um Torheiten zu begehen. Das Beispiel meines Benehmens gegen Chateauneuf zeigt mir den Weg, den Menschen zu gefallen. Dies Mittel bei jedermann anwenden, mit Ausnahme von Pauline. Sie allein hat eine Seele, hoch genug, die meine zu verstehen.

Genau mit meinen Leidenschaften rechnen.

Die erste, stärkste, einzige ist this of the fame.Die Ruhmbegierde. Mit niemand davon sprechen. Sie im stillen befriedigen. Im übrigen unter Menschen ganz gleichgültig sein; ich muß reizend sein. Heiterkeit, Glanz und besonders Keckheit, und du wirst tausendmal mehr Erfolg haben, als wenn du durch Taten den erhabensten Charakter beweist.

Meine Auffassung vom Schönheitsideal für meine Werke vorbehalten, aber in der Welt ist Martial fast das Schönheitsideal.

Die Trübsal dessen, der die Welt kennt, beweist, daß er Leidenschaften hat, von denen ihn die Unmöglichkeit, sie zu befriedigen, noch nicht geheilt hat.

Die Trübsal des Weltunkundigen beweist nur Feigheit, die am Erfolge verzweifelt.

Deine wahre Leidenschaft ist, zu erkennen und zu erfahren. Du hast sie noch nie befriedigt.

Marseille, 6. Thermidor XIII (25. Juli 1805).Dies Bruchstück aus Gabriel Faure, › Au Pays de Stendhal‹, S. 101 ff.

Endlich bin ich am 3. Thermidor nach Marseille abgereist. Ich verließ Grenoble mittags mit der Briefpost und kam am 4. um sechs Uhr früh in Valence an. Die Sonne schien hell auf das steile, gegenüberliegende Rhoneufer. Hätte ich geglaubt, was man mir sagte, ich hätte acht Tage bis Marseille gebraucht, but love had given wings to me.Aber die Liebe gab mir Flügel. Allerdings flog ich nicht nach Avignon, sondern ich fuhr auf einem Schiffe... Brennende, völlig schattenlose Glut zur Mittagszeit. An den Ufern kleine elende, kahle, sonnenverbrannte Felsen, überragt von ein paar alten Befestigungen in dem leichten, eleganten, schlanken, aber wenig soliden arabischen Stil, Schiffersitten, ein Trachten nach dem augenblicklichen Glück, den Soldatensitten ähnlich.

Ein paar Stunden vor Saint-Andéol werden die Ufer weniger dürr. Ein erfrischender Mittagswind tut sich auf. Wir müssen in Saint-Andéol Rast machen. Hübsche Wirtin; südliche Sitten, so ganz anders als die auf der Straße von Paris nach dem Dauphiné. Wir bleiben bis drei Uhr morgens dort. Wir fahren unter der Heiligen-Geist-Brücke hindurch, ohne jede Gefahr und mit gewöhnlicher Schnelligkeit. Das gleiche hatte ich schon beim Sankt Bernhard und beim Mont Cenis erfahren. Die Brücke ist elegant, leicht, in sauberer Ziegelwölbung, gleichfalls sarazenisch oder arabisch.

Um Mittag hielt das Boot am Ufer bei Avignon. Weiße, bestaubte, blendende Häuser wie in Italien; etwas in der Großartigkeit Italiens. Im Norden (Châlons, Lyon, Grenoble) ist der Schmutz an den Häusern feucht und schwarzgrün. Fontainebleau und Paris sind etwas heller und sauberer wegen ihrer Steinbauten. Avignon, Aix, Marseille dagegen sind weiß, trocken und voller Staub. Schöne, in Trümmer sinkende Brücke von großartigem Stil. Man fährt unter einem Brückenbogen von schöner antiker Farbe (olivgrau) hindurch.

Unser Schiffer hat ein Raffaelisches Gesicht. Es muß früher sein gewesen sein; jetzt trägt es die traurigen Spuren harter Arbeit. Einer seiner Söhne (wohl der ältere), ein junger Mann von zwanzig Jahren, gemahnt an Raffaels Selbstporträt (im Musée Napoléon).Jetzt in den Uffizien in Florenz. Nur ist er brauner, energischer und um fünf Jahre älter (Raffael ist auf dem Bilde erst fünfzehn). Seine Augen sind ganz wie auf Raffaels Bildern; der Schatten über dem obern Augenlid ist weit ausgesprochener als aus den griechischen Köpfen (Antinous, Apoll); feine, dünne Brauen.

Diese Leute taten mir leid; ich sah ihre angestrengte Arbeit, die Folge einer schlechten Regierung, die zur Qual geworden ist. Zugleich sagte ich mir, man dürfe die Arbeit nicht hassen, weil sie in schlechtem Rufe steht; meine Arbeit in der Bank wäre weit weniger beschwerlich.

Wir kommen nach Beaucaire; ich lasse mich mit einem Lastträger, den ich mitnehme, nach Tarascon übersetzen. Aber ich bin gegenwärtig zu sehr Empfindung, um so wenig rührende Einzelheiten zu beschreiben. Ich fühle mich würdig, den Apoll zu betrachten und an einem neuen zu arbeiten, wenn ich das Bildhauerwerkzeug in Händen hätte. Ich verbrachte meine Zeit seit zwei Uhr einsam. Solche Einsamkeit bildet und vertieft die Seele. Ich hatte Zeit, meine Empfindungen zu genießen.

Ich schreibe nicht weiter, denn ich habe bemerkt, daß ich meine Erinnerungen, diesen holden Teil des Lebens, verderbe. Ich brauchte fünfzig Stunden Arbeit mit glühender Empfindsamkeit, die wie ein Fluß hinströmt und alles erfüllt, um alles zu beschreiben, was ich von drei bis neun Uhr (jetzt) empfunden habe. Das aber ist unmöglich. Ich würde also schlecht beschreiben und mich in vierzehn Tagen des Beschriebenen nicht mehr erinnern. Ich will also nur lächerliche, satirische Anekdoten aufschreiben; ich wäre schön dumm, zarte Erinnerungen zu verderben. Ich rede also nicht von dem, was mich beherrscht, was alle meine Augenblicke erfüllt; ich empfinde fast nichts außer ihm.

Am 6. Thermidor um sieben Uhr abends kam ich in Marseille an...

Marseille, 15. Mai 1806.

Mir fehlt es an Einbildungskraft in allem, was Höflichkeit ist. Erst seit anderthalb Jahren beginne ich daran zu denken. Meist ignoriere ich das, was Brauch ist, und weiß nichts Liebenswürdiges zu erfinden. Aber ich ahme sehr gut nach, und die Beispiele sind nicht verloren. In gesellschaftlicher Hinsicht bin ich höchstens siebzehn Jahre alt. Ein Jahr des Zusammenlebens mit Martial, wenn ich das Glück hätte, ihm zugeteilt zu werden, würde mich bilden.

Um glücklich zu sein, brauche ich eine Arbeit, die den Geist in Anspruch nimmt und mich vorwärts bringt. Auditor [im Staatsrat] zu sein, wo ich Berichte zu machen hätte und mich auszeichnen könnte, wäre wunderbar für mich geeignet.

Gap, 30. Mai 1806.Melanie war, da ihr Engagement abgelaufen war, bereits im März 1806 nach Paris zurückgekehrt. Ende Mai verließ auch Beyle Marseille und fuhr über Apt und Gap nach Grenoble. Sein Tagebuch aus Gap, aus dem das Folgende entnommen wurde, ist in der »Revue critique« vom 10. März 1913 veröffentlicht.

Gap ist nur ein Nest, obwohl es Sitz eines Präfekten ist. Wie öde muß es sein, fünf bis sechs Jahre in solch einem Loch zu verbringen! Da muß ein Präfekt ja selig sein, wenn er in Grenoble ist! Der Ort liegt in einem Talkessel, der von ziemlich hohen, mäßig bewaldeten Bergen umgeben ist; dahinter ragen schneebedeckte Berge auf. Im Innern welche Faulheit, welche Langeweile!

Mein Wirt hat mehrere Töchter; die drei ältesten hielten sich immerfort in einem Zimmer neben dem meinen auf; die Tür stand stets halb offen. Ich bin zu wohl erzogen, um das zu sagen und zu tun, was notwendig war, um von dieser offnen Tür zu profitieren. Aber das kommt noch.

Ich las einen Gesang von Tasso, der mich rührte. Gestern abend, als ich einen Gang um die verfallenen Stadtmauern machte, ergriff mich die Schwermut. Heute morgen sann ich über ein episches Gedicht nach, aber ich fühle, wie weit mein Geist unter einer solchen Aufgabe steht.

Wie kommt es, daß es noch keinem Beobachter aufgefallen ist, daß die Menschen, wenn sie in großer Masse zusammenkommen, notwendig danach trachten, einander mehr zu gefallen als in kleinem Kreise? Ich kann meine Empfindung nicht recht beschreiben, aber ich fühle einen ausgesprochenen Unterschied zwischen Marseille und Gap wie zwischen Marseille und Paris. Hier herrscht eine Langeweile und Verbitterung, die in Marseille ganz unbekannt ist, und in Paris, glaube ich, eine Eitelkeit, die uns aus Selbstgefälligkeit gern belustigen möchte. Eine nette Tugend! Die echte Tugend bestände darin, das Glück des Nächsten aus Mitgefühl zu teilen, aber schließlich ist die Wirkung die gleiche. In Paris ist man stets dem Anblick dünkelhafter Menschen ausgesetzt,... aber in der Provinz empfindet der Weltmann Langeweile: alles schmeckt schal, wenn man an gesalzene und gepfefferte Speisen gewöhnt ist.

Man übertreibt stets die Mängel seines jeweiligen Aufenthaltsortes. Darum sagt Helvétius vielleicht nichts von der Provinz. Rousseau liebte sie fälschlich, weil sie der Wildheit am nächsten steht. Nur Duclos hat ein richtiges Wort darüber gesagt. Das Einfache schreckt den Provinzialen und erscheint ihm als nackt, zumal wenn es sich mit dem Großen paart. Deshalb gibt es in der Provinz keine Mode.

Grenoble, 27. Juni 1806.

Mein Vater ist mir näher gekommen, das freut mich. Bei mehr Offenheit von seiner Seite kämen wir gut miteinander aus und würden uns glücklich machen.

Nichts macht mir viel Vergnügen. Die Entzückungen sind bei mir tot, außer halbstündigen Entzückungen bei Frauen.

Ich bin am 10. Juli in Paris angekommen.

22. August 1806.

Von fünf bis acht mit Melanie in den Champs Elysées. Sie ist gekränkt und spricht keine vier Worte.

26. August.

Gestern fuhr ich mit Adele [Rebuffet] und ihrer Mutter nach dem Botanischen Garten. Ich verließ sie um acht Uhr. Acht Stunden zusammen! Nach und nach taue ich ihr gegenüber etwas auf, aber das Vergnügen ist nie recht lebhaft, denn sie ist zu ideenarm.

»Sie müssen sich aus diesen Verhältnissen herausreißen«, sagte sie zu mir. »Ich spreche auch etwas im eignen Interesse. Wenn Sie es nicht tun, gewöhnen Sie sich einen schlechten Ton an, und wir können Sie nicht mehr sehen. Man kann zu der Georges, der Duchesnois, den Sternen der Bühnenkunst gehen, aber die andern muß man aufgeben. Martial hatte einen abscheulichen Ton, weil er mit ihnen verkehrte.«

Ich erhielt 300 Franken von meinem Vater, das erste Geld, das er mir schickt.

10. September.

Heute fühle ich mich unglücklich, weil ich keine Stellung habe. Ich habe keine Stimmung für mein Lustspiel; das macht mich noch unglücklicher.

18. September.

Paris ist ein Feldlager. Napoleon sagt zu Mollien: »Ich reise bald ab. Ich will im Frankfurter Bundestag den Vorsitz führen. Ob es zum Krieg kommt, weiß ich nicht, aber ich will ihnen Angst machen.«

Wenn alles abreist, was wird aus mir? Werde ich diesen Winter ein Pariser Spießbürger bleiben? Werde ich Rang und Würden im Norden erlangen? Lieber zöge ich mit, besonders mit Martial. Nichts ist für Daru leichter, als mich unterzubringen. Aber wird Daru an mich denken?

Dienstag, 23. September.

Ich war den ganzen Vormittag von Ehrgeiz verzehrt, so daß ich kaum lesen kann. Um zwei Uhr gehe ich zu Martial und finde ihn voller Wut gegen seine Untergebenen, die tatsächlich nur kalte, eitle Maschinen sind. Ich diktiere ihnen bis vier Uhr einen Bericht und gehe, von der Arbeit betäubt, zur Mutter Daru. Ich merke, was ich schon wußte, daß ich ein tüchtiger Arbeiter sein kann.

27. September.

Heute früh war ich zwei Stunden bei Martial. Ich brachte das Gespräch auf mich. Er sagte mir, wenn ich wolle, könne ich mit ihm reisen. Er wolle noch diesen Vormittag mit Daru sprechen, so daß sich mein Schicksal jetzt entscheidet. Ich möchte Kriegskommissar und bei Martial angestellt werden. Wenn ich abreise, nehme ich über 3000 Franken mit. Ich habe mir eine Karte von Deutschland gekauft.

6. Oktober 1806.

Heute mittag hat Martial in seinem Arbeitszimmer mit mir ausgemacht, daß ich ihn begleiten soll. Er nimmt niemand aus seinem Bureau mit; wir reisen Sonnabend oder Sonntag ab, ich ohne Titel; das ist die Kehrseite der Medaille.


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