Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Tagebuch der Reise nach Italien (1811)

A Tour through some parts of Italy in the year 1811Eine Reise durch einige Teile Italiens im Jahre 1811.

25. August 1811.

Da mich nichts an Paris fesselt, außer der Liebe zur Gräfin Palfy, bin ich auf den Einfall gekommen, um Urlaub nach Neapel und Rom zu bitten. Herr [Daru] hat meine Bitte sehr wohlwollend aufgenommen. Here are some facts which belong to Palfy's history.Hier einige Tatsachen, die zur Geschichte der Palfy gehören. Ich wiederholte mein Gesuch am 20. mit gleichem Erfolge. Es war in Compiègne.Der Hof siedelte Ende August nach Compiègne über.

Gestern habe ich mir einen Platz in der Schnellpost nach Mailand zum 29. August bestellt. In einer Viertelstunde war ich in Versailles und sah dem Springen der Wasserkünste zu. Eine gewaltige Menge erfüllte das Amphitheater gegenüber den Wasserkünsten. In dem Augenblick, wo sie ihre prachtvollste Wirkung erreichten, fuhren die Majestäten um das Wasserbecken herum. Es war ein großartiger Eindruck. Alles drängte sich, sie zu sehen, und rief: »Es lebe der Kaiser!« Dies war das erstemal, wo ich die Wasserkünste von Versailles springen sah.

29. August 1811.

Ich fahre um acht Uhr mit 2800 Franken ab. Angelina und Faure begleiten mich zur Post. Gestern um sieben Uhr fuhr ich nach Montmorency und half MarieGemeint ist die Gräfin Palfy (Daru). bis halb zwei Uhr Pakete machen. Eravamo soli. Ich umarmte sie und sagte: »Ich hoffe vernünftiger zurückzukehren.« Sie schien bewegt ... Abends ging ich zu Mutter Daru und blieb sehr lange, um sie etwas über die Seltenheit meiner früheren Besuche hinwegzusetzen.

30. August 1811.

Ich fürchtete, als Reisegefährten französische Militärs mit ihren Kreuzen zu haben, die zu ihren Truppen nach Italien zurückkehrten, dumm, unverschämt, prahlerisch und geräuschvoll, so daß ich auch hätte aufschneiden müssen. Zum Glück blieb ich vor dieser Brut bewahrt. Ich fand einen sehr angenehmen Mann, dessen Gesicht ich schon irgendwo gesehen zu haben glaubte. Er ist Epikuräer oder sucht vor allem das Glück, ganz wie ich. Er ist von vollendeter Natürlichkeit, Mitte der Dreißiger, behäbig und die Liebenswürdigkeit selbst. Ich hielt ihn für einen Mailänder Bürgersmann und dachte immer nur an den gewaltigen Unterschied zwischen einem Mailänder und einem französischen Bürger. Wie gern reden diese Leute von sich und von dem, was sie früher waren! Wie stark wäre bei einem Franzosen die dürre Eitelkeit stets zutage getreten! Wie lächerlich wäre das anfangs gewesen und wie traurig, wie abstoßend nachher!

Tonnère, 30. August 1811.

Ich habe die Dummheit begangen, mit meinem Mailänder Reisegefährten über die schönen Frauen zu sprechen, die vor zehn Jahren die Zierde des Landes bildeten, und dabei auch die Signora GherardiÜber die Gräfin Gherardi s. »Reise i. Italien« (Band V dieser Ausgabe), S. 464, Anmerk. 3. zu nennen. Ich beklagte den Tod einer so hübschen Frau, machte aber beinahe eine Anspielung auf ihr Verhältnis zu Herrn Petiet.S. Seite 213, Anm. 5. Als ich nach der Familie Lechi fragte, lächelte mein Gefährte mit sanfter Schwermut und sagte von dem General: »Er ist mein Bruder.« Dies Zusammentreffen ist um so glücklicher, als ich die schönen Augen dieser Familie stets geliebt habe.

Herr Lechi fühlt sehr wohl, daß die Natürlichkeit zu den Vorzügen seines Landes gehört. Er ist stets liebenswürdig, selbst gegen einen groben Handlungsreisenden, mit dem wir eben zur Nacht gespeist haben, aber durchaus ohne die französische Grazie, bei der man stets die Freude über eine gutgespielte Rolle, ja den Stolz darauf durchfühlt. Seine Anmut ist nur Anmut, schlicht und rein. Er kann ebensogut ein König wie ein wohlhabender Bürgersmann sein.

Ich bin zu gallig, um diese Anmut je zu erlangen. Ich habe ein Ziel, auf das ich grade losgehe. Ich besitze also nicht jenes holde Sichgehenlassen, durch das er gestern zeigte, daß ihm die Bequemlichkeit über alles geht. Auch die Empfindsamkeit ist ein auffälliger Unterschied zwischen einem solchen Mann und einem Franzosen. Er lobte die GaforiniEine Operettensängerin, die Beyle 1801 in Mailand gehört hatte und sehr bewunderte. S. »Vie de Haydn, de Mozart et Métastase«, S. 439. von Herzen, aber ohne rascher zu sprechen. Nur seine Augen leuchteten, und heute abend, als wir zusammen ein ländliches Bad nahmen, pries er das Landleben und entwickelte eine reizende Theorie vom Glück. Bis auf die Leidenschaft, die ich ihm zuschreibe, war diese Theorie wie von mir und für mich gemacht ...

Wie man sieht, ist das einzige Ziel meiner Reise, die Menschen kennen zu lernen.

Saint-Seine, 31. August 1811.

Von Montbard führt der Weg über eine öde, steinige Hochebene. Oft sieht man aus der Tür des Postwagens nur drei Bäume. Es geht stark bergauf und bergab, an der Seinequelle vorbei nach Saint-Seine, wo ich dies des Abends spät nach einem guten Nachtessen schreibe. Bedient wurden wir von hübschen Mädchen, denen ich große Aufmerksamkeit schenkte, denn ich habe einen angeborenen Hang für Herbergsmägde.

Während der langweiligen Fahrt sang unser Reisegefährte Scotti, ein geborener Genfer, der in der neapolitanischen Marine als Fähnrich gedient hat und vier Jahre in englischer Gefangenschaft war. Vor vierzehn Tagen ist er entflohen. Er ist völlig geistlos, sonst könnte er Wunderdinge erzählen, aber er singt gut und ganz nach italienischer Art. Sofort fühlte ich, wie die Rauheit del mio maschio pensareMeines männlichen Denkens. sich erweichte und Rührung mein Herz ergriff. Mein Gefühl schwelgte beim Gesang in allem, was meiner Seele je nach der herrschenden Leidenschaft Genuß bereiten kann. Die Verse des besten französischen Theaterstücks bieten mir keinen solchen Anlaß. Daher kommt vielleicht meine Vorliebe für die Musik, die Langeweile, die mir das französische Theater bereitet, und meine Ungerechtigkeit gegen mäßige Musik. Alles Mittelmäßige fesselt mein Herz nicht mehr; das Schwelgen in den Tönen hört auf und die Langeweile beginnt. Verlöre ich alle Einbildungskraft, so verlöre ich vielleicht gleichzeitig den Geschmack an der Musik. Gegenwärtig ist dieser weit stärker als meine Liebe zur Malerei – aus den obengenannten Gründen.

1. September, vier Uhr morgens.

Im letzten März, als ich auf eine Sendung nach Italien rechnete und mit Crozet reisen wollte, war ich so töricht, ein paar Reisebeschreibungen zu lesen. Sie setzten mir Italien herab; nur der alte MissonDer Pariser Parlamentsrat Misson schrieb eine »Nouveau Voyage d'Italie«, Haag 1691-98, 3 Bde. Vgl. »Reise in Italien« (Bd. V dieser Ausgabe), S. 486. kam mir natürlich vor. Jetzt nehme ich nur die Reise von Arthur Young»Reise nach Italien und Spanien in den Jahren 1787 und 1789«, französische Übersetzung 1796. und von DuclosS. Seite 326, Anm. 1. mit, weil beide selbständige Charaktere sind. Unter den vor sechs Monaten gelesenen Reisebeschreibungen war die des Herrn Creuzé de Lesser.Creuzé de Lesser (1771-1839) schrieb »Voyage en Italie et en Sicile fait en 1801 et 1802«, Paris 1806. Ich habe mir darüber folgendes notiert:

»Die Reise des Herrn Creuzé im Jahre 1803 ist in einem Sinne vorzüglich. Sie enthält alle gewöhnlichen, unvollkommenen Gedanken, deren man sich erwehren muß, und alle kleinen schäbigen Vorurteile dummer Franzosen. Die natürliche Dummheit des Buches wird zweifellos noch dadurch gesteigert, daß der Verfasser, Mitglied der gesetzgebenden Körperschaft, sich für verpflichtet hielt, in fast offiziellem Tone zu schreiben.«

Dôle, 1. September 1811.

Ich habe mir den Sonnenaufgang angesehen. Während der Himmel noch in bläuliches Dämmerlicht getaucht war, bemerkte ich ein paar wundervolle Effekte in den Wolken. Das hat mich auf diesen Gedanken gebracht:

»Alles wahrhaft Große muß ganz ungekünstelt sein. Es muß ganz schlicht wirken, dann erscheinen auch die gleichgültigsten Dinge, die von ihm ausgehen, erhaben, sobald man merkt, daß sie von ihm kommen, und sie werden um ihrer selbst willen bewundert.«

Heute kamen wir durch drei Städte, Dijon, Auxonne und Dôle. Kennt man nur zwei bis drei Städte, so erscheint nichts so abgeschmackt wie diese mehr oder minder ärmlichen Gebäude, die so oder so gruppiert sind, besonders für mich, der nur an dem Anteil nimmt, was die menschlichen Sitten schildert. Den Vorzug unter diesen drei Städten würde ich Dôle geben. Seine Lage ist malerisch.

Champagnole, 2. September.

Dôle lag in prächtigem Mondschein, als ich auf dem Cours Saint-Maurice flanierte. Ich nahm eine kalte und hochmütige Miene an, als ich an ein paar jungen Dragoneroffizieren vorbeiging, die in unverschämter Weise daherstolzierten. Das ist eine Armseligkeit, aber ich bin erst achtundzwanzig Jahre alt; ich hoffe, mit den Jahren geht das vorüber.

Der Vollmond leuchtete noch über dem stillen Horizont, als wir um drei Uhr nachts Dôle verließen. Er stand zwischen den beiden Kulissen der Anhöhen und Bäume und gewährte bei der tiefen nächtlichen Stille ein Schauspiel, das ein Gegenstück zu dem des Sonnenaufgangs war.

Mein Herz hat heute zum ersten Male gesprochen. Nichts ist für mich so abgeschmackt, langweilig und verdrießlich als der Anblick einer Stadt wie Dijon. Auch die flachen Ebenen der Umgebung von Paris haben die gleiche Wirkung auf mich. Heute, auf dem Wege von Dôle nach Poligny, sah ich endlich Berge und Bauern, die mich nicht mehr an Paris gemahnten. Das Reisen machte mir Freude.

Ich gab freilich nicht sehr auf das alles acht, denn ich war mit dem liebenswürdigen Lechi in una discussione italiana intorno alla grandezza di MilanoIn ein italienisches Gespräch über die Größe Mailands. vertieft. Dann sprach er von der Kunst, glücklich zu sein, von dem Frohsinn Venedigs, seiner Regierung und seinen Sitten. Er erzählte so anmutig und drollig, ohne seine Anmut zu verleugnen (und das ist etwas Köstliches per uno che s'intende in questa arte,Für einen, der sich auf diese Kunst versteht. daß ich oft wünschte, stenographieren zu können. Dieser Mann hat mir durch sein Geplauder wohl den lebhaftesten Genuß seit zehn Jahren beschert.

Die Geschichte von dem venezianischen Senator und Mitglied des Rats della bestemmiaFür Gotteslästerungen (ein venezianischer Gerichtshof). ist, auf venezianisch erzählt, das Reizendste, was sich denken läßt. Ich beobachtete diese reizende Komik zu sehr, um sie voll genießen zu können, wie nach einem heiteren Mahle; ich glaube, ich wäre sonst vor Lachen gestorben.

Bisher freute ich mich über die französische Revolution, die so schöne Einrichtungen geschaffen hat, obwohl sie noch durch die Wolken, die auf ihren Ausbruch folgten, leicht verhüllt sind. Erst seit einiger Zeit dämmert es mir auf, daß sie die allegria (den Frohsinn) vielleicht für ein Jahrhundert aus Europa verbannt hat. Was mir Herr Lechi erzählte, hat mich vollends in diesem Gedanken bestärkt.

Novus saeculorum nascitur ordo.Eine neue Weltordnung beginnt.

Wenn unsere Greise jene Zeit zurückwünschten, hielt ich das stets für das Gefasel eines laudator tempus acti,Eines Lobredners der Vergangenheit. der über den Violinbogen klagt, statt über die Violine, die nicht mehr die gleichen Töne hervorzubringen vermag. Aus dem, was ich von Venedig und Mailand höre, scheint mir etwas Wahres daran zu sein. Mein liebenswürdiger Reisegefährte bestätigt die Ideen, die ich schon für chimärisch zu halten begann, über das Glück, das man in Italien finden kann.

Anch' io ne ho cornificati qualcheduni di quelle eccellentissme parrucche con tutta l'allegria:Auch ich habe manchem unter diesen hochmögenden Perücken die Hörner aufgesetzt, und zwar mit der größten Heiterkeit. so lautete, in venezianischer Mundart, eine seiner reizenden Wendungen. Der Himmel ist nicht weiter von der Erde entfernt, wie Montesquieu sagt, als die Liebenswürdigkeit meines Lechi von der des Grafen Daru. Die eine ist natürlich, mutwillig und ausgelassen wie ein junges Mädchen, die andre pedantisch, anspruchsvoll, plump und langweilig.

2. September 1811.

In Saint-Laurent gerieten wir in eine Gesellschaft von Handlungsreisenden. Ich beobachtete die Lächerlichkeit des Spießertums scharf. Alles, was sie tun, ist grotesk. Sie fuchteln herum, kratzen sich am Kopf, besehen sich eine Gabel usw., um ihre Schüchternheit zu verbergen. Sie rühmen sich, in Lyon acht Flaschen Wein getrunken und einen Ochsenmaulsalat gegessen zu haben. Dann kommen die Anekdoten, von übertriebenem Gelächter begleitet. Ich sagte zu Herrn Lechi, unser Postillion hätte noch den natürlichsten und anständigsten Ton von der ganzen Tischgesellschaft.

Genf, 3. September.

Wir sind um vier Uhr angekommen. Knauserei und Nachlässigkeit der Genfer Bankiers, die die Posthalter sind. Alles ist elend, knauserig und schroff, bis zum Facchino, der uns unser Gepäck nach dem Gasthofe brachte. Das ist wohl die Wirkung der republikanischen Regierungsform; in diesem Falle ist das Fehlen monarchischer Anmut recht auffällig. Ich vermute, ich werde das in England wiederfinden. Die Genfer sind vielleicht schüchterne, trübsinnige, in ihrer Eigenliebe sehr empfindliche und etwas neidische Menschen, die ihren Genuß im Stolze und in den zärtlichen Leidenschaften finden. Nichts macht den Menschen weniger heiter, anmutig und zuvorkommend.

Ihre Stadt, die ich mit Scotti durchstreife, macht den Eindruck eines sehr sauber gehaltenen Gefängnisses. Sie ist in einer Weise still und trübsinnig, wie ich es noch nie gesehen habe. Doch sah ich fünf bis sechs schöne Gesichter, große und kräftig gewachsene Mädchen mit frischen Farben, vollem Busen, reinem Blick, aber kaltem Ausdruck. Vor fünf JahrenS. Seite 232, Anm. 2. haben mich diese Schönheiten begeistert. Angelinas Erfahrenheit läßt sie mich jetzt weniger schätzen, ich fürchte, mich bei ihnen zu langweilen.

Die trübsinnigen jungen Leute, die in Paris so albern erscheinen, sollten sich hierher zurückziehen. In dieser puritanischen Stadt würden sie wie liebenswürdige Brauseköpfe wirken. Was mir auffiel, war der verständige höfliche Ton der Genfer Bedienten im Verkehr untereinander. Das steht weit über der Grobheit dieser Menschenklasse in Frankreich, ist aber weniger heiter.

Mailand, Sonntag, 8. September 1811.

Mein Herz schwillt über. Gestern abend und heute habe ich wonnevolle Empfindungen gehabt. Ich bin dem Weinen nahe.

Gestern um fünf Uhr kam ich an. Auf dem Zollamt und im Gasthof war alles in einer Stunde erledigt, das Essen ebenso. Um sieben Uhr stand ich endlich wieder auf dem Corso di Porta Orientale,Jetzt Corso Venezia. wo buchstäblich die Morgenröte meines Lebens aufgegangen ist.

Was war ich damals und was bin ich jetzt! Kein Gefühl des Ehrgeizes mischt sich in diese Betrachtung! Ich denke nur an Frau P[ietragrua] und mein übriges Leben zur Zeit Petiets.S. Seite 221, Anm. 2. Ich erkenne die Ursachen aller Wirkungen und habe zärtliches Mitleid mit mir selbst.

Da ich die Liebe der Frau P[ietragrua] nicht erringen konnte (ihr Liebhaber war Louis [Joinville]), baute ich mir tausend Luftschlösser und malte mir aus, wie ich eines Tages als Oberst oder in irgendeinem anderen höheren Rang als den eines Kanzleigehilfen Darus zurückkehren, sie dann umarmen und in Tränen ausbrechen würde.

Dieser Plan fiel mir gestern wieder ein, und so sah ich mich nach elf Jahren in der Lage, die ich damals so heiß ersehnt hatte. Welch ein Wort: Elf Jahre! Meine Erinnerungen sind nicht tot; sie leben durch eine heiße Liebe neu wieder auf. Ich kann keinen Schritt in Mailand tun, ohne irgend etwas wieder zu erkennen, und vor elf Jahren liebte ich dies Etwas, weil es zu der Stadt gehörte, in der sie wohnte. Darf ich sagen, was mich bei der Ankunft in Mailand am meisten bewegt hat? Daraus wird man ersehen, daß ich dies nur für mich schreibe. Es ist ein gewisser Mistgeruch, der seinen Straßen eigentümlich ist. Das bewies mir mehr als alles andre sinnfällig, daß ich wieder in Mailand war!

Gestern abend hatte ich eine allzu starke und allzu zärtliche Herzenswallung, die mich heute gereut, denn ich bin fast gewiß, daß sie von niemand geteilt wird. Ich gedachte, Frau P. heute zu besuchen, aber ich fürchtete, ich würde ihr um den Hals fallen und in Tränen ausbrechen und so wieder lächerlich in ihren Augen werden. Denn ich meinte, meine unglückliche Leidenschaft hätte mich ihr damals lächerlich erscheinen lassen. Da die Liebe nicht ohne Dünkel ist, ließ dieser Gedanke mich meine Herzenswallung gereuen. Ich hätte köstliche Tränen vergossen, hätte ich mit dem Zauberring der Angelica ihren Salon unsichtbar betreten können.

Nach dem Corso, wohin wir erst bei Dunkelwerden kamen, als alles nach Hause strebte, gingen wir, Scotti und ich, in die Scala. Dies Theater ist von großem Einfluß auf meinen Charakter gewesen. Sollte ich je Spaß daran finden, die Entwicklung meines Charakters durch meine Jugenderlebnisse zu beschreiben, so wird das Scalatheater an erster Stelle stehen. Als ich es betrat, war ich vor Erregung nahe daran, umzufallen und in Tränen auszubrechen.

Ich suche mich jeder Übertreibung zu erwehren. Ich verabscheue das Falsche in allen Dingen als dem Glücke feind. Aber ich glaube, wenn ich in Mailand Gesandtschaftssekretär oder irgend etwas anderes wäre, was nicht zu viel Arbeit erfordert, so würde ich hier ein köstliches Jahr verbringen.

L'arte di godere, die Kunst des Lebensgenusses, scheint mir hier um zweihundert Jahre weiter zu sein als in Paris. Was diesen Umstand noch verdienstlicher macht, ist, daß die guten dicken Mailänder ihn nicht der Überlegung verdanken, sondern ihrem Klima und der verweichlichenden Wirkung der österreichischen Herrschaft. Es bedarf glücklicher Menschen, um selbst in Kleinigkeiten glücklich zu sein, wie man es nach meiner Meinung hierzulande sein kann. Außer dem Liebesglück und dem Kunstgenuß fände ich – das fühle ich – viel Glück in einer Gesellschaft von Leuten wie Herr Lechi.

Um es nicht zu vergessen, muß ich meine Lebensweise in Mailand in den Monaten nach der Schlacht bei Marengo aufschreiben. Ich hatte noch nichts von der Welt gesehen; dafür hatte ich alle möglichen Romane, unter anderm auch die »Neue Heloise« durchlebt. Damals hatte ich, glaube ich, die »Gefährlichen Liebschaften«S. Seite 45, Anm. 1. gelesen und suchte darin nach Gefühlserregungen. Die Plattheit und Pedanterie meiner Verwandten hatten mir das Wort Tugend seit lange verleidet; ich konnte mir damals und kann mir tatsächlich auch heute noch Glück bei Frauen nur abseits von der sogenannten Tugend denken.

Zu meiner hochgradigen Empfindsamkeit gesellte sich bei mir also in den Jahren 1800 bis 1802 der Wunsch, für einen Schwerenöter zu gelten, aber wie man sieht, war ich das genaue Gegenteil davon.

Kein Mensch hatte Mitleid mit mir und half mir mit einem barmherzigen Rat. Ich habe also die zwei bis drei Jahre, wo mein Temperament am lebhaftesten war, ohne Frauen verbracht. An reine (ungemischte) Empfindungen hat man keine Erinnerung. Was ich hier über mein Temperament sage, stammt also aus dem Wenigen, was ich von der Naturgeschichte weiß. Mit neunzehn bis zweiundzwanzig Jahren soll der Mann ja eine Glut besitzen, die uns bald danach verläßt. Ich habe mein siebzehntes, achtzehntes und neunzehntes Jahr in der Lombardei verlebt. Ich war von Empfindsamkeit verzehrt, schüchtern, stolz und verkannt. Das letztere sage ich ohne Dünkel, nur um auszudrücken, daß jedermann erstaunt war, als ich den Mut fand, mich so zu geben wie ich war. Man hielt mich für das Gegenteil dessen, was ich bin. Mit achtzehn Jahren, als ich Frau Pietragrua am meisten anbetete, war ich arm und hatte nur einen Rock, der bisweilen etwas schadhaft war.

Da ich in Mailand bei Herrn und Frau P[etiet] nichts darstellte und schon zu stolz war, um entgegenzukommen, verbrachte ich meine Tage in äußerst gerührter Stimmung und voller Schwermut. Ich sah J[oinville] und andre ihr Glück machen, sah, was sie taten, und fühlte, daß ich es besser machen konnte; sie waren glücklich und hatten ihre Geliebten. Ich rührte mich nicht. Ich wartete auf einen romantischen Zufall, wie den Bruch eines Wagenrades usw., auf das Schicksal, das mein Herz einer gefühlvollen Seele offenbarte. Hatte ich einen Freund gehabt, er hätte mich in die Arme einer Frau geführt. Ich wäre glücklich und reizend gewesen, freilich nicht in der äußeren Erscheinung und im Auftreten, aber durch mein Herz; ich hätte für eine gefühlvolle Frau reizend sein können; sie hätte in mir eine Römerseele allem gegenüber gefunden, was nicht Liebe war; sie hätte das Glück gehabt, ihren Geliebten zu erziehen. Seitdem hat mich die harte Erfahrung erzogen, und nicht übel. Sicherlich hätte ich eine solche Frau so geliebt, wie eine wirklich gefühlvolle Frau es nur wünschen kann. Ich hätte sogar an nichts weiter gedacht, als an eine Frau, die mich geliebt und die ich besessen hätte. Meine Empfindsamkeit wäre nicht zum Schmachten geworden. Ich glaube, ihre verschiedenen Regungen hätten eine liebende Seele, die in der meinen zu lesen vermocht hätte, lange Zeit täglich gefesselt.

Seitdem habe ich heiß geliebt, aber welch ein Unterschied zwischen meinen Gefühlen in der Rue SainteIn Marseille, wo 1805 Melanie Guilbert wohnte. und denen, die ich gehabt hätte, als ich in der Casa Bovara auf dem Corso di Porta Orientale wohnte! Hätte ich in Mailand geliebt, mein Charakter wäre gewiß ganz anders geworden. Ich wäre weit mehr Don Juan und nicht das Nesthäkchen der Empfindsamkeit, che può servirmi pell'arte.Was mir für die Kunst zustatten kommt. In Marseille war mein Kopf schon zu beschäftigt, als daß die Liebe die allmächtige Gebieterin hätte sein können; ich begann zu beobachten.

Die beiden Jahre voller Seufzer und Tränen, Liebeswallungen und Schwermut, die ich in Italien, in diesem Klima, in diesem Lebensalter und ohne Vorurteile, aber ohne Frauen verbracht, haben mir jenen unerschöpflichen Quell an Empfindsamkeit gegeben, dank dem ich heute mit achtundzwanzig Jahren alles, auch die geringsten Einzelheiten, mit dem Gefühl erlebe. Meine jetzige Empfindsamkeit erscheint mir wie eine Flüssigkeit, die auch in die kleinsten Adern eines Körpers, in den sie eingespritzt wird, zu dringen vermag. Sie reicht für alles hin und schwillt bei allem über.

Eines Tages besuchte mich Mazeau, als ich in meinem Zimmer in der Casa Bovara über dem Speisesaal Petiets krank lag. Er erzählte Frau P[etiet], ich sähe aus wie ein kranker Löwe. Meine stark gelockten schwarzen Haare, das kräftige Aussehen, das ich damals schon hatte, und mein Stolz lassen mich glauben, daß ich mir nicht die geringste Anmut vorzuwerfen hatte.

Damals also führte mich Joinville – er war damals Darus rechte Hand und ein herzensguter Mensch – zu einer großen, schönen und stolzen Frau, die seine Geliebte war; es war Angelina Pietragrua. Diese Frau habe ich eben nach fast neunjähriger Trennung wiedergesehen. Ich sah sie das letztemal um den 1. Vendemiaire des Jahres X, als ich von Brescia zu meinem Regiment nach Savigliano fuhr. Aber der Aufenthalt in Bergamo und Brescia hatte mich schon für lange von ihr getrennt. Ich weiß nicht mal, ob ich sie damals nicht haßte. Es ist also eigentlich zehn Jahre her, daß ich das Wesen, das ich am meisten auf der Welt geliebt hatte, nicht gesehen habe.

Ich besuchte sie heute um ein Uhr. Ich ging zu ihrem Vater, Herrn Borrone; ein Diener führte mich zu ihr. Zum Glück ließ sie mich eine Viertelstunde warten, so daß ich die Zeit hatte, mich etwas zu fassen. Ich sah eine große, stolze Frau. Sie hatte stets etwas Großartiges, das in der Bildung ihrer Augen, ihrer Nase und Stirn liegt. Ich fand sie geistvoller, majestätischer und weniger sinnlich reizvoll. Damals war sie nur majestätisch durch die Kraft ihrer Schönheit, heute ist sie es durch die Kraft ihrer Züge. Sie erkannte mich nicht wieder; das belustigte mich. Ich stellte mich ihr als Beyle, der Freund Joinvilles, vor. Quegli è il cinese, das ist der Chinese, sagte sie zu ihrem Vater, der dabei war. Meine große Leidenschaft hat mich durchaus nicht lächerlich gemacht; sie entsann sich meiner nur als eines sehr heiteren Menschen.

Ich scherzte über meine Liebe. »Warum haben Sie mir das damals nicht gesagt?« fragte sie mich zweimal. Ich scherzte auf dem Balkon ihres Vaters, wo ich ihr, glaube ich, gesagt hatte, ich hoffte bald eine Leiche in der Ebene von Mantua zu sein. Man kann sich denken, daß ich sie nicht an diese anmutige Art von Liebesgesprächen erinnert habe. Es herrschte leichte Verlegenheit zwischen uns, während ich ihren hohen Geist über derartige Verlegenheiten triumphieren sah. Nach zehn Jahren muß die Bekanntschaft neu angeknüpft werden.

Alsbald erschien der Verehrer, ein venezianischer Nobile, der am Hofe des Vizekönigs eine Ehrenstellung bekleidet. Ich war von großer Zuvorkommenheit gegen ihn. Sie lud mich ein, am Abend in ihre Loge zu kommen. Der gute Borrone hat mich aufgefordert, ihn zu besuchen, und mich gebeten, ihn zu umarmen. Das war der letzte Streich. Etwas weniger Majestät bei Frau P. und ich wäre ihr unter Tränen um den Hals gefallen.

Ich bin auf den Gedanken gekommen, Frau P. für kurze Zeit zu besitzen. Sie sagte mir, sie hätte mir manches zu erzählen und sie hätte seitdem manche Torheiten begangen. Das sagte sie laut und verständlich vor allen Anwesenden. Doch ich habe keine Zeit, hier tutta la parte di quella visita che spetta al P.C.Alles, was sich bei diesem Besuch auf das Publikum (?) bezieht. zu schildern. Was mich persönlich anging, war mir wichtiger, als die sehr fesselnden Dinge, die so recht den Unterschied des französischen und italienischen Charakters zeigen, wie ich meine, sehr zum Vorteil des letzteren. Tausendmal weniger Eitelkeit, mehr Vergnügungslust und mehr Genußfähigkeit.

Ich schreibe dies um Mitternacht. Das Theater, aus dem ich komme, hat von dreiviertel acht Uhr bis dreiviertel zwölf Uhr gedauert. Gegeben wurde der erste Akt der »Pretendenti delusi«,Oper von Mosca. ein schlechtes Ballett »Phädra« und der zweite Akt der »Pretendenti«, danach ein überladenes Ballet. Herr Lechi stellte mich der Signora Lamberti vor.»Sie war vom Kaiser Joseph II. ausgezeichnet worden und, obwohl schon in reiferen Jahren, ein Musterbild verführerischer Grazie. Sie nahm es in dieser Hinsicht mit Madame Bonaparte selbst auf.« (»Vie de Napoléon«, S. 140.) Vgl. auch »Reise in Italien«, S. 72.

Bemerkenswerte Sitten. Ein noch so gutes Schauspiel kann, eben weil es gut ist, nicht mehreren Nationen gemeinsam sein. Die Szenen des heutigen Abends waren für einen Franzosen so unanständig, daß sie ihm naturwidrig erscheinen würden.

9. September 1811.

Von zwei bis fünf war ich bei Frau P. Dann speiste ich im Wirtshaus bei der Scala und ging auf den Corso. Von da nahm ich eine kleine geschwinde Droschke und fuhr gemütlich zum Teatro del Lentaso an der Porta Romana. Ein elendes Ding, aber ich hörte die reizende Musik von Mayrs »Melomania«.Komische Oper von Simon Mayr (1799). Es ist eine von den Opern, die vor zehn Jahren meinen musikalischen Geschmack gebildet haben. Dann folgte ein komisches Ballett mit hübschen Weiberbeinen und schließlich die anmutige »« Capricciosa pentita« von Anfossi, glaube ich.»Die reuige Launische«, eine komische Oper von Fioravanti (1801). Es ist reine italienische Kunst, ungetrübt durch irgendwelche Sucht nach gutem Geschmack.

Das alles – von halb neun bis elf Uhr – für 20 Mailänder Soldi. Morgen nach drei Uhr gehe ich wieder zu Frau P. Vielleicht wird sie die meine. Da ich keine Zeit zu verlieren habe, will ich morgen zusehen, ob sie mir ein paar Schäferstunden ohne weitere Folgen schenkt. Sie sieht mich oft an. Für sie ist's eine neue Bekanntschaft.

Die Mailänder Straßen sind ebenso bequem, wie die unsern abstoßend.

Mailand, 10. September 1811.

Ich fühle es durch alle Poren, dies Land ist die Heimat der Künste. Sie nehmen, glaube ich, im Herzen dieses Volkes den gleichen Platz ein wie bei uns die Eitelkeit. Gestern habe ich mir die Fresken von Appiani angesehen.In der »Reise in Italien« rühmt Stendhal Appianis Fresken (Apotheose Napoleons) im Palazzo Reggio sowie die in der Villa Belgiojoso und in S. Maria presso S. Celso. Andrea Appiani (1754–1817) war Hofmaler Napoleons. Ich war in San Fedele, einem prächtigen Bau. Die ganze Kirche war buchstäblich mit rotem Damast ausgeschlagen, die Luft kühl und rein. Neben San Fedele liegt ein großes Gebäude von edler Architektur.Der Palazzo Marini (jetzt Municipio). Aber ich habe für diese Kunst nicht allzuviel übrig; sie spricht nicht deutlich genug zu meinem Herzen.

Den Parisern, die es in der öffentlichen Ordnung und Sauberkeit soweit gebracht zu haben wähnen, muß man zurufen: »Ihr seid Barbaren. Eure Straßen stinken; ihr könnt keinen Schritt tun, ohne euch schmutzig zu machen. Das gibt den Leuten, die zu Fuß gehen müssen, etwas Abstoßendes. Das kommt daher, daß eure Straßen ein großer Rinnstein sind. Man muß die Rinnsteine unter das Pflaster legen. Seht euch die Straßen von Mailand an: völlige Sauberkeit, ruhiges Fahren, bequemes Gehen für die Fußgänger, und dabei kennt man in Mailand nur Kopfsteine und nicht die Steinplatten von Fontainebleau.«

Gegen drei Uhr ging ich nach der Contrada dei Meravigli.Dort wohnte Angelina in Nr. 2374 (jetzt Nr. 5). (Arbelet.) Man ließ mich einen Augenblick warten; sie kam grade nach Hause. Sie empfing mich nicht mit heiterer, ausgelassener Zuvorkommenheit, sondern mit Besonnenheit in Ton und Miene, doch voller Freundschaftsversicherungen. Sie beobachtete mich scharf, fast wie einen neuen Bekannten ...

Mailand, 11. September 1811.

Gestern um fünf Uhr war ich so zufrieden, daß ich fürchtete, irgendein Sturm möchte aus Paris kommen ... Meine Freude war freilich stark mit Eitelkeit gemischt, aber mit einem Einschlag von Gefühl; ohnedies sind alle Freuden der Eitelkeit für mich nach ein paar Minuten dahin.

Um ein Uhr fuhr ich zu Frau P. Ich nahm mir einen Wagen, sowohl aus Bequemlichkeit, wie vor allem aus Eitelkeit, wegen Frau P. In gesellschaftlicher Hinsicht bin ich für sie eine neue Bekanntschaft: das darf ich nicht vergessen. Der Einfluß von Kleinigkeiten ist in diesem Falle sehr groß. Herr WidemannDer Sohn eines venezianischen Nobile, italienischer Oberst in Napoleonischen Diensten. Er starb während des Feldzuges in Rußland. (Chuquet 131.) brachte alsbald die Erlaubnis zum Besuch der Brera. Sie wollte mitkommen und verließ uns, um sich anzuziehen.

Widemann ist ein heiterer Mensch, der die Musik liebt, über nichts nachdenkt und die Behaglichkeit liebt. Diese Menschen gehen, solange sie jung sind, der Liebe nach, genießen mit Feuer, sind ganz Empfindung, und wenn die Empfindung aufhört, bleiben ihnen nur die paar Gedanken, die sie zwischen ihren Genüssen durch Zufall gefunden haben. Herr Widemann ist mit der Familie RezzonicoEine venezianische Bankierfamilie, aus der Papst Clemens XIII. (1758 bis 1769) hervorgegangen war. verwandt, deren Namen er annimmt, weil ein Rezzonico ihm 50 000 Franken Einkommen hinterläßt. Er besitzt soviel weltmännische Höflichkeit, als die italienische Natürlichkeit zuläßt. Diese Höflichkeit hätte mich vor zehn Jahren verwirrt; heute war sie mir ganz recht. Ich war gegen ihn durchaus vornehm, höflich und zuvorkommend. In dieser Hinsicht kann ich mit mir zufrieden sein und lasse meine Freunde reden, die meine Art und Weise nicht verstehen.

Wir fuhren also zur Brera. Frau P. lud mich ein, ihr den Arm zu geben. Ich weigerte mich und wies auf Widemann. Er trat zurück, und so nahm ich als Fremder die Ehre an, den Arm alla nostra deaUnserer Göttin. zu reichen. In der Brera war ich der Mann der großen Welt, glänzend und geistreich. Frau P. hatte mir am Tage vorher gezeigt, daß sie dafür empfänglich war, und zwar in so kluger Weise, daß ich erkannte, daß sie sich auf Feinheiten sehr wohl versteht.

Die Kunst riß mich hin. Ich mußte mich zur Vernunft zwingen, um Frau P. zu gefallen, statt ein Bild Montis zu bewundern. Sie stellte mir geschickte Fragen, um meine Stellung zu ergründen, die sie nur aus meiner Visitenkarte kannte. Da meine Eigenliebe mich in diesem Punkt empfindlich machte, merkte ich ihre Absicht deutlich und zog mich mit Natürlichkeit, ja mit Grazie heraus, indem ich ihr einen großen Begriff davon gab. Ich merkte, daß Rang und Würden für einen Charakter wie ich nur auf Reisen gut sind. Dieser Besuch der Brera gab Frau P. und Widemann eine bestimmte Meinung über mich.

Wir gingen dann nach der Casa Raffaeli, wo ein Mosaikbild von Leonardos Abendmahl hergestellt wird.Auf Befehl Napoleons fertigte der römische Mosaikkünstler Raffaeli diese Kopie an. Dort blickte ich sie zweimal äußerst zärtlich an. Jedesmal, wenn unsre Hände sich begegneten, drückten wir sie einander. Ich machte ihr ein paar kurze, zärtliche Komplimente. In dieser Zeit genoß ich das vollkommene Glück, von dem ich oben sprach. Es begann in dem Augenblick, wo ich Frau P. den Arm bot. Nachher fuhr ich allein auf den Korso; mein Glück flaute ab, wie das Glück mancher Ehrgeizigen, die in einer Klasse der Rangordnung die Ersten waren und die Letzten in der nächsthöheren werden.

Meine Erinnerungen waren hold und lebhaft; sie verwandelten sich in Wirklichkeit. Ich sah mich jetzt als Liebhaber Angelinas. Damit verblaßten tausend kleine Umstände, die mich an Mailand fesselten. Der Glockenklang, die Künste, die Musik, alles, was ein unbeschäftigtes Herz entzückt, wird schal und nichtig, sobald eine Leidenschaft es erfüllt. Um sechs Uhr war ich in Frau P. verliebt; ich wurde schüchtern und sofort erfüllte schwarzer Kummer mein Herz.

Das kam großenteils daher, daß tausend Quellen glücklicher Erinnerungen, die zusammen einen Strom bildeten, mit einem Schlage versiegt waren. Mein Wagen langweilte mich, weil ich meine jetzige Lage nicht mehr mit der eines Kanzleibeamten bei Herrn Daru verglich. Die Scala bescherte mir nicht mehr den Genuß, den mir die Erinnerung an die alten zärtlichen und schwermütigen Gefühle bereitet hatten. Ich hatte Zärtlichkeit und Schwermut aus erster Hand: ich brauchte ja nur nach der zweiten Loge rechts im zweiten Rang hinaufzuschauen. Ich glaube, bei diesem Zustand spricht die Eitelkeit stark mit, denn ich verspreche mir in ihren Armen keinen großen Genuß. Tatsächlich hat mich Angelina [Bereyter] in sinnlicher Hinsicht blasiert gemacht.

Es wird für MocenigoBeyle benutzt diesen venezianischen Adelsnamen häufig als Bezeichnung für sich selbst im Sinne eines genießenden Beobachters der Welt. eine nützliche Lehre sein, mir zu vergegenwärtigen, wie der Reiz Mailands plötzlich verschwand, als die Erinnerungen so lebhaft wurden, daß sie sich in Wirklichkeit umsetzten. Als ich zu den Logen des zweiten Ranges hinaufstieg, ließ mich ihre Anlage ganz kalt, da ich nur darauf bedacht war, Angelinas Loge mit Grazie zu betreten, und auf den Empfang, den ich finden würde. Das ist, wenn ich mich nicht irre, eine wertvolle Beobachtung.

Gestern abend um sieben Uhr, als ich im Parkett saß, habe ich sie nicht gemacht. Ich war in finsterer Laune und voller Groll auf meine Nachbarn. Ich hörte nur halb auf den ersten Akt der »Pretendenti delusi« hin und blickte von Zeit zu Zeit zu Frau P. hinauf, erkannte aber nur ihren Hut und ihre Arme, nicht ihr Gesicht. Ich bewahrte so viel Geistesgegenwart, um an meine Würde zu denken, und ging nicht gleich in ihre Loge hinauf. Ich hatte so viel Geduld, das Ballett und die Hälfte des zweiten Aktes abzuwarten. Ich war schweigsam und etwas ernst.

Sie sagte gleich zu mir: »Ich weiß nicht, was Widemann hat. Er scheint ganz verstört.« Das traf zu. Sie war einen Augenblick mit mir allein; ich war verlegen, aber ich half mir heraus, indem ich sie nach den anderen Besuchern der Loge fragte. Widemann kam wieder, verstört und ganz von seinem Gefühl erfüllt (eine Folge der Natürlichkeit, was man in Frankreich nie fände). Ich dachte mir, daß er eifersüchtig auf mich sei. Zum mindesten war ich ihm lästig; er hatte Frau P. etwas anzuvertrauen, vielleicht eine Hofintrige. Ich blieb acht bis zehn Minuten bei ihr. Als ich fort war, bemerkte ich, daß Frau P. und Widemann sich eifrig unterhielten.

Ich ging ins Parterre und verbrachte zehn Minuten bei Signora Lamberti. Sie war stets von äußerster Liebenswürdigkeit. Sie stellte mich dem größten Arzt ItaliensGemeint ist wohl Graf Moscati, ein berühmter Arzt, Chemiker und Physiker, von dem Stendhal auch in »Rome, Naples et Florence« (S. 69) spricht. (Arbelet.) und seiner Frau vor. Meine bissige Laune wurde dadurch nicht verscheucht. Ich kehrte wütend heim; wäre ich ein Löwe gewesen, ich hätte am liebsten blutiges Fleisch zerrissen, denn das hätte mich beschäftigt und abgelenkt, und ich hätte in diesem Auslassen meiner Kraft Trost gefunden. Da ich nichts zu zerreißen hatte, stürzte ich mich auf den Hofkalender, ein fesselndes Buch, und verschlang ihn mit gespannter Aufmerksamkeit bis nach ein Uhr nachts. Dabei kam ich auf den Gedanken, Herr Widemann würde mich stellen, weil ich seiner Geliebten gefallen hatte. Meine Wut nahm noch zu, aber ich sah meinen Irrtum ein.

Kurz, ich war ein wütender Narr, etwa im düsteren Stil Alfieris. In solchen Augenblicken könnte ich, wenn ich verheiratet wäre, alle Welt unglücklich machen. Ich bin sicher, der liebenswürdige Giacomo Lechi hat solche Augenblicke nicht; dafür aber knüpft sein Geist nicht die zahlreichen Kombinationen, die meine Wut von dem meinen forderte, und der Mocenigo verschwindet.

In solchen Augenblicken bedürfte ich eines Freundes, aber er müßte so sanft wie Lechi oder so scharfsinnig wie Crozet sein, und vor allem müßte ich einen Talisman bei mir haben, um mich liebenswert zu machen, denn dann bin ich alles andre als liebenswürdig. Das Spaßigste bei meiner Wut ist, daß ich, wie ich beim Schreiben erkenne, über Frau P. in keiner Weise zu klagen habe. Im Theater sah sie mich mehrmals aufmerksam an; sie hat mich mit Beweisen ihrer Aufmerksamkeit und Zuvorkommenheit überhäuft, und als ich eine Tabaksdose nahm und ihr dabei leicht die Hand drückte, suchte und fand sie sofort die Gelegenheit, diesen Händedruck in der deutlichsten Weise zu erwidern. Seltsame Wirkung von großem Stolz und großer Empfindlichkeit! Ich habe sie lang und breit beschrieben, damit der Beyle von 1821 sie verstehen kann.

Aber was ist Frau P. eigentlich? Das ist die Hauptsache. Hier muß ich bescheiden zugeben, daß ich nicht Tatsachen genug besitze. Ich muß daran erinnern, daß dies alles die zweimonatliche Italienreise eines, wie oben bewiesen, etwas närrischen Menschen ist. Ich brauchte die Erfahrung eines Jahres, um meine Urteile zu klären. Aber schließlich zeichne ich den Ton auf, den jedes Ding beim Berühren meiner Seele von sich gibt.

Diese große, schöne Frau hat den Ernst des Denkens. Ich finde nichts Romantisches mehr in ihren Blicken. Sie findet, daß die Eintönigkeit das Vergnügen in Mailand zerstört; die Liebschaften sind wie Ehen. Man genießt sie in den ersten vier Monaten und gähnt dann ein, zwei Jahre miteinander, aus Respekt vor der öffentlichen Meinung. Sie findet, daß die Mailänder keinen Esprit haben, wie sie es nennt, aber sie schreibt ihnen Talent zu, das heißt Schlauheit und Klugheit, um ein Ziel zu erreichen. Das hat sie vorgestern sehr scharfsinnig erklärt. Sie findet, daß die Italiener, wenn sie zufällig eine feine Bemerkung machen, dies in schwerfälliger Weise tun, die ihr das Salz nimmt. Könnte ich nicht glauben, daß eine kleine, recht unverhoffte und recht lebhafte Liebschaft mit mir ihr gefiele? Das würde die Eintönigkeit unterbrechen.

Gestern in der Brera fragte ich sie in geheimnisvollem Ton, ob sie ihren Servente liebe. Ich ließ keinen Zweifel darüber, daß ich Widemann für diesen Servente halte. Heute habe ich sie nicht besucht, um mich für meinen langen gestrigen Besuch zu strafen. Es ist mir schwer gefallen. Aber ich muß mir vergegenwärtigen, was Angelina mir von der Wirkung sagte, die die Erklärungen ihrer Verehrer auf sie machen. »Wenn ich gefallen will, muß man nicht so sicher sein, mir gefallen zu haben.«

Hier unterdrücke ich eine Seite voll von lächerlichem, zärtlichem Schwulst und nehme ein Bad. Heute nacht hat mich eine köstliche Serenade halb aufgeweckt und halb beruhigt.

Mailand, 11. September 1811.

Heute besichtigte ich ohne Genuß die Ambrosiana, das Abendmahl Leonardos, San Celso usw. Ich habe die Seccatura der Ciceroni verspürt. Ein Cicerone könnte mir selbst das »Matrimonio segreto« verekeln. Die Ciceroni müßten stumm sein und einem nur zu den Sehenswürdigkeiten hinführen ... Der Korso hat mich gelangweilt. Nachher war ich im Theater. Reizende Musik, lustiges Spiel, aber Gefahr, Flöhe zu kriegen – die einzige Gefahr, die ich auf meiner Reise bisher fand. Der Reisende, der alles aufschreibt, was er über das Land gelesen hat, das er bereist, kann hundert Folianten anfüllen. Wer nur aufzeichnet, was er empfunden hat, ist sehr beschränkt. Er kann nur Geist haben; der andre besitzt Wissen.

Mailand, 12. September 1811.

Ich beabsichtige, Frau P. eine kleine Erklärung zu machen, um zu wissen, ob ich in Mailand bleiben oder abreisen soll. Nichts hält mich hier mehr außer ihr ...

Heute morgen war ich von dieser kalten Vernunft weit entfernt. Ich zählte die Minuten. Ich wollte um ein Uhr zu Frau P. gehen. Endlich war es Mittag. Ich zog mich an; ich war zärtlich und zu einer schönen Erklärung aufs beste aufgelegt. Ich war ganz in Wallung, aber gerade, wenn ich in diesem schönen Zustande bin, kommt mir der Zufall dazwischen. Ich frage beim Portier, ob sie zu Hause sei. Man sagt: »Ja.« Voller Ungeduld gehe ich hinauf. Eine hübsche, junge Kammerzofe, lebhaft und munter, sagt mit schalkhafter Miene: »Serva sua; è sortita«.Ihre Dienerin; sie ist ausgegangen.

Ich gehe zur Brera, und beim Anblick der Gemälde suche ich mich zur Vernunft zu bringen, meine Seele zu härten und die Sache heiter aufzufassen. Nach solchen Anstrengungen ist man für die Grazien verloren.

Um zwei Uhr wird man aus der Brera hinausgeworfen. Ich gehe zu Herrn Raffaeli und sehe zu, wie er an der Kopie des Abendmahls und an einem Christus von Guido Reni arbeitet. Ich wollte meine Zeit bis drei Uhr totschlagen. Herr Raffaeli, einer kleiner und anscheinend galliger junger Mann, zeigt mir sein Atelier. Endlich sehe ich, daß es halb vier Uhr ist, und mache mich davon.

Ich gehe zu ihr, aber nichts von holder Wallung, nichts mehr von Zärtlichkeit. Vor zwei Stunden hätte sie mich sehen müssen! Sie war allein. Hätte sie einen scherzhaften Ton angeschlagen, so wäre meine Erklärung auf meinen Lippen erstorben, und heute abend hätte ich eine Laune wie eine Bulldogge gehabt. Ich sagte ihr in kaltem, vernünftigem Tone, ich liebte sie, doch weil ich nicht allein der liebende Teil sein wollte, hätte ich sie gestern nicht besucht usw.

Sie antwortete mir etwa, ich scherzte wohl, und als ich ihr ehrlich das Gegenteil versicherte, sagte sie: »Ich wollte, es wäre wahr.«

Unser ganzes Gespräch war in Ton und Miene verteufelt vernünftig. Da aber Franzosen in der Unterhaltung viel lebhafter sind als Italiener, ist ihr dieser kalte Ton vielleicht entgangen.

Sie entgegnete sofort, sie sei gestern auch sehr mißgestimmt gewesen, als ich um vier Uhr nicht gekommen sei, und um mich zu bestrafen, sei sie heute ausgegangen. Darauf sagte ich ihr recht schöne Dinge, aber nach meiner Meinung in zu kaltem Tone. Sie duzte mich, weinte und verdoppelte ihre Zärtlichkeit, als ich ihr Züge meiner alten Liebe ins Gedächtnis rief. Offenbar machte es ihr Eindruck, daß ich so lange tausend Einzelheiten behalten habe. Ich wage nicht zu sagen: »Es rührte sie.«

Als ich sie umarmen wollte, sagte sie: »Empfangen, niemals nehmen.« Ich finde diesen Grundsatz meinem Charakter sehr angemessen; bei mir tötet der Entschluß zur Tat jedes Gefühl. Ich habe also keine Küsse geraubt, aber bald welche erhalten. Die Zärtlichkeit kehrte in dem Maße zurück, als ich mich nicht mehr zur Tat aufraffen mußte. Ich wurde warm, und hätte das Beieinander noch lange gedauert, so hätte ich gesiegt.

Sie weinte, wir umarmten uns, duzten uns; alles ging von ihr aus. Wir sprachen eingehend von meiner Abreise.

»Geh, geh«, sagte sie mehrmals sehr bewegt. »Ich fühle, du mußt um meiner Ruhe willen abreisen. Morgen habe ich vielleicht nicht mehr den Mut, es dir zu sagen.«

Als ich entgegnete, ich würde auf meiner Reise zu unglücklich sein, versetzte sie: »Aber du wirst die Gewißheit haben, geliebt zu sein.«

Über unser früheres Verhältnis sagte sie mit ziemlich überzeugter Miene:

»Aber das ist ja ein Roman.«

Fühlte sie, was sie sagte? Oder war es Gefallsucht? Eine große Frage. Aber, ich will versuchen, sie ernstlich verliebt zu machen, wenn sie es noch nicht ist. Heute morgen hatte ich schon eine schöne Wallung, infolge deren ich mein Uhrglas zerbrach, nachdem ich sie die Worte hatte lesen lassen: »Angiolina t'ama in ogni momento«.Angiolina liebt dich immerfort.

Das sind unwiderstehliche Züge. Sie fürchtete, unsre Röte möchte uns verraten. Ich bürgte für mich. Ein Schüler Pestalozzis kam, platt wie ein Gelehrter, danach der Cavaliere servente. Ich war äußerst liebenswürdig gegen beide. Ich las die lebhafteste Freude darüber in Angiolinas Augen, obwohl ich sie nicht allzu sehr ansah, um nicht aus der Rolle zu fallen. Mit dem Gelehrten sprach ich über de Tracy, mit dem Servente über Kunst, Eis und England.

Dieser Servente hat anscheinend Verstand, Tiefe, Takt und Lebensart, aber eine unglückliche, mißtrauische Miene, kein Feuer, keine Hochherzigkeit und ist vierzig Jahre alt. Sie versichert mir immer wieder, er sei durchaus kein Geliebter. Aber sie scheint mir in ihrem Benehmen große Politik zu treiben. Vielleicht ist es ganz einfach der italienische Charakter, den ich aus der Nähe sehe.

Dieser Sieg hat mir keine hinreißende Freude bereitet. Wäre sie um ein Uhr zu Hause gewesen, so wäre es ganz anders geworden. Ich verließ sie um fünf Uhr und sah sie in ihrer Loge wieder. Dort langweilte ich mich etwas, weil ich nur gleichgültige Dinge sagen und tun konnte. Zum erstenmal hörte ich dort genau eine mailändische Unterhaltung voller Scherze, Anspielungen und Zweideutigkeiten, kurz, etwas sehr Schwieriges. Ich bemerkte, daß es sehr schwer ist, ein Volk zu beurteilen, dessen Sprache man nicht kennt. Sie gab mir ein Stelldichein für morgen im Französischen Theater, in der zehnten Loge im zweiten Rang, aber ich will sie um ein Uhr besuchen.

13. September.

Gestern trug ich in Mailand das gleiche Beinkleid wie bei der Schlacht von PalfyGemeint ist die Liebschaft mit Alexandrine Daru. am 31. Mai. Die Gräfin Palfy war tief erregt; Frau Pietragrua schien mir allzu verständig. Sehr einfach, die Gräfin Palfy war es weniger gewöhnt. Zudem muß der Italiener, der tiefer ist und mehr zu heftigen Wallungen und gewagten Schritten neigt, sich in allem, was sein Glück betrifft, mehr zur Vernunft zwingen und somit kälter und gefaßter erscheinen. Frau Pietragrua, die ein weibliches Wesen als Zeugin mitgenommen und allen Folgen ihrer Handlungsweise getrotzt hat, als sie nach Paris fuhr, um sich in J[oinvilles] Augen zu rechtfertigen und ihn dann zu verlassen, sie, auf die ein paar Monate vorher ein abgeblitzter Liebhaber mit der Pistole geschossen und die dies Ereignis mit fröhlicher Kaltblütigkeit abgeleugnet hat, die seitdem in ihrem Benehmen die tiefste Politik hat walten lassen, – sie konnte nicht über ein Geständnis in Wallung geraten, das sie voraussehen konnte, ja das sie vielleicht herbeiführen wollte. Somit kann sie mich trotz all ihrer Vernunft wohl lieben.

Ein Italiener, der weiß, welchen heftigen Leidenschaften er Tür und Tor öffnet, verhält sich abwartend und erscheint somit kalt in Augenblicken, wo wir Franzosen, die wir unser sicherer sind, uns ganz unserm Überschwang hingeben. Somit ist unsre Empfindung schwächer, scheint aber starker.

15. September 1811.

Ich verlasse sie voller Bewunderung und fast voller Leidenschaft. Ich werde Tränen vergießen, wenn ich Mailand verlasse. Welch holdes Wort: »Wiedersehen nach zehn Jahren«, wo tausend Zufälle sie mir inzwischen ganz hätten rauben können! Hätte ich sie wiedergesehen und nicht besessen, so hätte ich das Unglück ertragen müssen, mir zu sagen: Andre sind in ihrer Zuneigung weiter gelangt!

Zwei Stunden lang genoß ich den Eindruck dieses erhabenen und zärtlichen Charakters, der mich im Jahre der Schlacht bei Marengo so wahnsinnig gemacht hat. Nach der liebevollen Art, wie sie meine Erklärung aufnahm, war ich einen Tag lang nahe daran, einen Monat in Mailand zu bleiben und ihr Liebhaber zu werden. Mailand mißfiel mir auf der Stelle. Was sollte ich tun, wenn ich nicht bei ihr war? Mir war, als liebte ich sie nicht mehr, kurz, ich fühlte mich eiskalt.

Ich verfluche meinen Hochmut gründlich. Hatte sie mich nicht geliebt, so hätte ich furchtbare Augenblicke durchlebt. Der Gedanke, von dieser seltenen Frau verschmäht zu sein, hätte mir alle Freuden vergällt. Sie liebt mich, und ich langweile mich! Das heißt, einen unglücklichen Charakter haben. Ich möchte einen Freund haben, der diesen Teil meiner Seele immerfort mit glühendem Eisen ausbrennt!

Gestern oder vorgestern, als ich zu ihr ging, konnte ich sie besitzen und bleiben, oder abreisen und sie nicht besitzen. Anfangs sagte sie mehrmals: »Reise ab. Du mußt abreisen.« Ich leistete Widerstand und schien fast gerührt, aber schließlich, inmitten der zärtlichsten Küsse, machten wir aus, daß ich abreisen sollte. Seitdem war alles verwandelt und nahm ein rührendes Gepräge an. Wir sprachen von der Möglichkeit, daß ich dauernd nach Mailand käme.

»Wie rasch würde ich allen meinen Freunden die Tür weisen und ihnen sagen: Auf Wiedersehen im Theater, wenn ihr wollt.« Das sagte sie mit dem wahrsten und schönsten Tonfall und mit glühenden Blicken.

Gestern, bei unserm kurzen Beieinander hatte sie mehrmals Tränen in den Augen. Sie sank in meine Arme, ma nel mezzo dei più teneri baciAber mitten in den zärtlichsten Küssen. wollte sie mir nicht erlauben, weiter zu gehen. »Ist das das Mittel, uns zu verlassen?« wiederholte sie immerfort, mich umarmend. »Wir verlieren den Kopf immer mehr.«

Ich fühlte mich im Banne eines höheren Verstandes. Ich bin von einer Bewunderung für sie erfüllt, die mich zärtlich stimmt.

Ich hoffe, am 17. abzureisen. Aber auf dem Rückweg nach Paris werde ich sie wiedersehen. Gegenwärtig fühlt mein Herz sich außerstande, sie ein Jahr lang nicht zu sehen. Ich glaube, wenn ich nach Paris zurück bin, werde ich ein Geizhals und Schmeichler werden, um Geld und Urlaub zu Reisen nach Mailand zu bekommen. Fern von ihr langweile ich mich trotzdem sehr.

Gestern, nach unserm kurzen Beieinander, erschienen die lästigen Freunde. Ich wollte gehen, um sie nicht eifersüchtig zu machen, aber aus Eigenliebe blieb ich bis vier Uhr. Ich suchte liebenswürdig zu sein, aber das ist vielleicht ein Grund mehr, daß sie mich nicht lieben. Gegen mich können sie nur Eifersucht hegen. Vor acht Tagen sah ich Angelina nach sehr langer Trennung wieder, und sie erkannte mich nicht wieder. Heute steche ich diese Herren bereits aus.

Wäre ich zwei Stunden mit ihr allein in einer Loge oder auf der Promenade, lange genug, um natürlich zu sein, sie würde eine Leidenschaft für mich fassen.

Heute morgen hatten wir ein Stelldichein im Badehause. Ich konnte im Hofe des Palazzo Alamanni ein Weilchen mit ihr plaudern. Aber das Stelldichein in ihrem Hause war verfehlt. Ich traf ihre Schwester und ihren dummen, schönen Mann. Dann kam noch die Mutter, die mich wie der gute Borrone mit deutscher Herzlichkeit begrüßte ...

In Angelinas Armen möchte ich sterben. Dies Gemisch von Seelengröße und Zuneigung zu mir würde mir selbst diese bittre Pille versüßen. Im übrigen bin ich sicher, sie mit Würde hinunterzuschlucken; das macht der Stolz. Aber wie hold wäre es für mich, mit Angelina zu weinen! Wie man sieht, bin ich kein Mocenigo mehr. Ich habe nicht mehr die Ruhe, um an derartigen Dingen ein prickelndes Vergnügen zu finden.

Geschrieben am 16. September 1811.

Ganz Mailand war gestern auf dem Korso und vor der Porta Orientale, um dem Aufstieg der Luftschifferin Madame Blanchard zuzusehen. I was not disposed to see all this mob as Mocenigo.Ich war nicht aufgelegt, all diesen Pöbel als Mocenigo zu betrachten. Ich war erregt, aber in angenehmer Weise. Ich schaute wie ein Narr aus und suchte Angelina in allen Wagen. Ich fand sie nicht. Dann zog ich mich um, und um acht Uhr war ich auf dem Balkon ihrer Mutter. Ich hatte die Absicht, etwas finster zu sein. Das war das Rechte im Sinne meiner Leidenschaft. Ich sprach voller Glut und Natürlichkeit mit Frau P. Sie sagte zu mir, ich solle nicht so schweigsam sein. Dann scherzte ich mit ihrer Schwester, die ich mit Vergnügen wiedersah, und sprach mit den Herren Turchotti und Widemann vom Hofe.

Herr W. hat die Vornehmheit eines großen Herrn, eine italienische Vornehmheit, d. h. natürlich, ohne spießbürgerlichen Dünkel. Herr Turchotti hat nichts Vornehmes, aber viel gesunden Verstand und Scharfsinn. Wäre mein Herz unbeschäftigt und reiste ich nur als Mocenigo, so müßte ich möglichst viel mit Turchotti und ihren anderen Verehrern verkehren. Es sind anscheinend hervorragende Leute, ein neuer Beweis für Angelinas Überlegenheit. Ich sprach gestern vom Hofe, um mein Ansehen zu mehren. Das ist mir füglich geglückt.

Wir kehrten zu Frau P. zurück. Ich bot ihr den Arm. Sie schien mich zu lieben und sagte plötzlich auf italienisch: »Kommen Sie morgen um halb ein Uhr«. Das schien mir die Lösung anzudeuten. Ich möchte sie nicht, wenn ich mein jetziges Leben weiterführen müßte. Opferte ich ihr die Italienreise, so möchte ich stets mit ihr leben, z. B. an den Ufern der Sesia, wie im Roman.

16. September.

Prachtvolles Wetter, heiß wie im Juni. Ich habe eine Rundfahrt um Mailand auf den Wällen gemacht, einunddreiviertel Stunden lang. Prachtvolle Vegetation. Schöner Blick auf den Dom von der Porta Romana.Vgl. »Reise in Italien«, S. 40.

Nur mein Herz ist italienisch. Hätte ich 1800 in der Gesellschaft verkehrt wie jetzt, so hätte ich italienisches Wesen angenommen. Der gesunde Menschenverstand hat bei mir lange in Ungnade gestanden, und wie ich gestehen muß, auch ich bei ihm. Hätte ich die Italiener gut gekannt, so ständen gesunder Verstand und Scharfsinn bei mir in hohen Ehren und wären mir nicht Wechselbegriffe von Kälte und Gefühlsschwäche.

Geschrieben am 20. September.

Am 18. hatte ich ein dreiviertelstündiges Stelldichein mit ihr. Am Tage vorher machten wir zusammen einen Spaziergang von anderthalb Stunden. Ich hatte einen Anfall von zärtlicher Schwermut; daran erkannte ich die Liebe. Wenn ich dies nicht aufzeichne, vergesse ich alles. Aber wenn ich mein Gefühl beschreibe, tut es mir weh. Ich merke so recht, daß reines Gefühl keine Erinnerung hinterläßt.

Ich war nahe daran, gerührt zu werden. Ich ging durch die Straßen und wußte nicht, was ich tun sollte. Ich sollte sie erst am Abend bei ihrer Mutter wiedersehen. Ich hatte Tränen in den Augen, und das Herz war mir schwer.

Ich sah sie nur ganz kurz. Herr Turchotti war bei ihr. Sie ging aus, um etwas zu besorgen. Ich ging fort, um mir einen Platz auf der Post zu bestellen. Wie groß war mein Kummer, als ich zu der guten Frau Borrone zurückkehrte und Angelina nicht mehr antraf. Schließlich fand ich sie auf dem Domplatz. Wir sahen uns den Kometen an. Er war prächtig und sehr deutlich zu sehen. Auch ihre Liebe war sehr deutlich. Sie schien gerührt. Ich, der den ganzen Tag so traurig gewesen war, ärgerte mich nun, nicht meine ganze Schwermut zeigen zu können.

Am 19. September trafen wir uns um elf auf dem Domplatz und fuhren nach der Simonetta.Ein Echo bei der Villa Simonetta vor den Toren von Mailand. Näheres in der »Reise in Italien«, S. 59. Ich glaube, ich liebe sie wirklich, und sie liebt mich auch. Vielleicht wird sie Sonnabend die Meine, vor meiner Abreise. Ich finde sie sehr unvorsichtig. Man darf nicht vergessen, daß ein Fehltritt in diesem Lande des Gefühls ganz andre Folgen hat als in Paris, der Hochburg von Eitelkeit. Aber ich verderbe meine Liebe, indem ich davon rede.

20. September.

Morgen um Mitternacht fahre ich nach Bologna. Heute vormittag regnet es. Mein Glück ist düster und, wie mir scheint, italienisch, weitab von der Leichtlebigkeit des Sanguinikers.

21. September 1811.

Heute abend reise ich ab. Ich habe sie erwartet. Ich sagte mir: »Es hat mich gepackt.« Und ich glaube tatsächlich, das ist die Liebe, aber im Kampfe mit einem starken Charakter. Ich hoffe, die Trennung wird mich etwas genesen lassen. Sie sollte kommen und kam nicht. Wäre sie gefallsüchtig und nichts weiter? Gestern erfuhr ich eine halbe Gunst. Als ich abends heimkehrte, hatte ich trübe, schmerzende Augen und war lange dem Weinen nahe. I was, I believe, in love.Ich war, glaube ich, verliebt.

Am 21. September um halb zwölf Uhr habe ich endlich den so lange ersehnten Sieg davongetragen.

Nichts fehlt zu meinem Glück als das, was das Glück eines Gecken ausmacht, daß es kein Sieg war. Ich glaube, der reinste Genuß kann erst mit der völligen Vertrautheit kommen. Das erstemal ist es ein Sieg; erst in den drei folgenden Malen kommt es zur Vertrautheit. Dann kommt das vollkommene Glück, wenn man mit einer Frau von Geist und großem Charakter zu tun hat und man sie liebt.

Dieser Sieg war nicht leicht. Um dreiviertel zehn Uhr ging ich in die kleine Kirche an der Ecke der Via dei M(eravigli). Ich konnte es nicht zehn Uhr schlagen hören. Um fünf Minuten nach zehn (nach meiner Uhr) ging ich an ihrem Haus vorbei: kein Zeichen. Um zwanzig Minuten nach zehn ging ich wieder vorbei; da erfolgte das Zeichen. Nach einem sehr ernsten Seelenkampfe, bei dem ich den Unglücklichen, ja den Verzweifelten spielte, ward sie um halb zwölf Uhr die Meine. Ich reise am 22. September um halb zwölf Uhr nachts von Mailand ab.

Bologna, 24. September.

Am 22. fuhr ich über Lodi, Cremona, wo ich einsam und traurig speiste, nach Mantua. Ich fürchtete, d'esser saltato dai ladri.Von Räubern angefallen zu werden. Um elf Uhr kam ich nach Mantua. Dort aß ich zur Nacht, schrieb an Frau P., schlief etwas und wurde von den Mücken arg zerstochen. Der ganze Tag war ein Ruhetag. Ich schlief mich aus. Um zwei Uhr fuhr ich weiter, kam um vier Uhr über den Po und speiste endlich in Modena, der saubersten und heitersten italienischen Stadt, die ich gesehen habe. Um halb sieben kam ich in Bologna an.

Heute vormittag besichtigte ich den Neptun des Giovanni Bologna, San Petronio, San Domenico und die Galerie. Wer von Poesie nichts weiß, wird mehr Genuß an ihr finden, wenn er die Einführung von La Harpe gelesen hat. Ich brauchte solch ein Buch für die Malerei. Trotzdem besitze ich für die Künste solches Feingefühl, daß ich über den Pöbel erhaben bin. Mein Urteil beschränkt sich auf den Ausdruck, die Kraft der Phantasie und die Natürlichkeit. In der Galerie rührte mich ein unbedeutender Kopf mit deutschem Gesicht.

Der Palazzo Ercolani, erst vor elf Jahren erbaut, sieht schon ganz schmutzig aus. Die Italiener streben nach Großartigkeit.

Herkulesstatuen im Treppenhaus, eine prachtvolle Galerie, Marmortische, Chinoiserieen und dazwischen Spinneweben, Staub und Schmutz, im großen wie im kleinen. Wir in Paris haben Reinlichkeit im Innern und Armseligkeit draußen.

Am Nachmittag fand ich Genuß an der Malerei. Ich besuchte das Museum, dann führte mein geweckter Diener mich zur Galerie Tanari. Guido Renis und Caraccis im Überfluß. Die große Madonna von Guido Reni. Wenn dies Gesicht, das seine Empfindsamkeit unter Kälte verbirgt, die Augen aufschlüge, so müßte man sich wahnsinnig darin verlieben. Ich sah auch die Zimmer der Söhne des Hauses Tanari. Sie wohnen in einem Palast mit einer prachtvollen Galerie. Ihre Wohnräume sind zum Übelwerden. Waschbecken wie im Gasthof, elende Betten, die gegen die Rahmen herrlicher Bilder stoßen. Auch hier Großartigkeit und Schmutz.

Der Palazzo Marescalchi ist mit gewöhnlichen Pariser Möbeln ausgestattet. Aber ein Zimmer ist sehenswert, voll erlesener Bilder von Guido Reni, Guercino und den Caracci, darunter ein Frauenkopf von der Empfindsamkeit Mozarts, ganz wie Minette.Wilhelmine v. Griesheim.

Hier traf ich eine Italienerin aus Imola, nichts Besonderes, aber italienische Augen. Ich sprach mit ihr und spielte den Anmutigen; ich bin überzeugt, daß ich ihr gefallen habe. Es ist ein Genuß, mit solchen gefühlvollen Seelen und ausdrucksvollen Augen zu tun zu haben. Man merkt den Eindruck, den man macht. Nach einer halben Stunde wurde unser Gespräch schon vertraulich. Leider legen die Gatten und Väter, denen man gleichfalls gefällt, Beschlag auf einem, damit man auch mit ihnen plaudert. Doch Eitelkeit oder nicht, mein Geplauder im Palazzo Marescalchi hat mir gleich gezeigt, daß man das Glück in Bologna finden kann. Ach, und ich habe nur sechsunddreißig Tage Freiheit! Am 24. Oktober muß ich in dem platten Grenoble sein!

25. September 1811.

Ich verließ Bologna am 25. mittags und fuhr in einem einfachen Postwagen. Es war recht heiß. Der Apennin hat nichts Großartiges, außer in der Nähe von Florenz. Hinter Bologna erblickt man die schöne Lombardei jenseits der davorliegenden Höhen des Apennin. Ein schöner Anblick, der gedankenvoll macht, wie der des wirklichen Meeres.

Ich empfand lebhaft und fühlte mich glücklich. Ich war zufrieden, allein zu reisen. Selbst Crozet hätte dem Zweck meiner Reise geschadet. Ich bedarf einer gewissen Dosis von Unterhaltung und Zerstreuung; da ich sie nicht bei meinen Reisegefährten finde, suche ich sie bei Italienern. Dadurch bin ich gezwungen, sie zu studieren. Wer reist, um den Ton zu genießen, den die Berge und die fremden Charaktere in seiner Seele auslösen, und die Menschen kennen zu lernen, darf sich der Natur nicht entfremden. Zwei Franzosen, die in einem guten Wagen mit einem gescheiten Diener reisen, können die Pariser Liebenswürdigkeit und die Salongenüsse in den Apennin mitbringen, aber sie können den Apennin nicht genießen, wie ich, der allein in einem offenen Wagen fährt. Das sage ich neidlos, denn ich besitze eine Kalesche, die ich nur nach Italien mitzunehmen brauchte.

Florenz, 27. September 1811.

Ich kam gestern um fünf Uhr früh an, totmüde, durchnäßt und durchgerüttelt von der elenden Straße. Ich konnte buchstäblich nicht mehr, als ich in Florenz ankam. Ich legte mich um sechs Uhr zu Bett und befahl, mich um acht zu wecken. Ich humpelte zur Post und nahm einen Platz für die Briefpost am 28. Das Hotel d'Angleterre ist ein sehr guter Gasthof, selbst für französische Begriffe. Ich nehme ein Bad und fahre dann aus, um Florenz zu sehen. Es gießt alle Viertelstunden; dazu gewaltige Donnerschläge, die ersten, die ich dieses Jahr hörte. Meine erste Huldigung und erste Frage galt Alfieri.

»Wo ist das Haus, in dem Graf Alfieri gewohnt hat? Und sein Grab?«

»Das Haus dort links am Arno entlang. Sein Grab in Santa Croce, weit fort.«

»Fahren wir hin.«

Ich komme an und erblicke sogleich die Gräber Michelangelos, Alfieris, Machiavellis und links, gegenüber dem Grab Michelangelos, das Grab Galileis. Wenige Kirchen sind mit solchen Gräbern geschmückt ...Was mir aber Santa Croce noch mehr ins Herz gräbt, sind zwei Bilder, die ich dort sah und die mir den stärksten Eindruck gemacht haben, den die Malerei mir je gab.

Gott, wie ist das schön! Bei jeder Einzelheit, die man erblickt, gerät die Seele mehr in Entzücken. Man ist dem Weinen nahe. Vor anderen Bildern zürnt man sich selbst wegen seiner Kälte, sucht seine Seele in Wallung zu bringen und zwingt sich zur Bewunderung, indem man sich die Schönheiten klar macht. So ist es mir oft im Museum in Paris ergangen. Meine Bewunderung für die heilige Cäcilie, die Madonna della Seggiola, die Madonna im Palais LuxemburgSämtlich von Raffael. oder Correggios Leda haben mich nie in Verzückung versetzt. Dies Gefühl empfand ich gestern vor den vier Sibyllen von Volterrano in der Capella Niccolini.

Ich glaubte, es gäbe nichts so Schönes wie diese Sibyllen, als mein Lohndiener mich fast mit Gewalt anhielt, um mir die »Vorhölle« zu zeigen. Ich war fast zu Tränen gerührt. Noch jetzt bei der Niederschrift treten sie mir in die Augen. Noch nie sah ich etwas so Schönes. Ich muß etwas Ausdrucksvolles sehen, oder schöne Frauengestalten. Alle diese Figuren sind reizend und deutlich, nichts ist verschwommen. Die Malerei hat mir noch nie solchen Genuß bereitet. Dabei war ich halbtot vor Müdigkeit, hatte geschwollene Füße und neue, zu enge Stiefel an. Dieser kleine Schmerz könnte mir Gott in der Glorie verleiden, aber vor jenem Bilde vergaß ich alles. Zwei Stunden lang war ich tief bewegt.

Das Bild sollte von Guercino sein. Ich bewunderte diesen Künstler im tiefsten Herzen. Aber zwei Stunden später erfuhr ich, daß es von Agnolo Bronzino ist, ein mir bisher unbekannter Name. Das verdroß mich. Man sagte, das Kolorit sei schwach. Da dachte ich an meine Augen. Ich habe einen zarten, nervösen, begeisterungsfähigen Blick, der die feinsten Schattierungen erfaßt, aber von allem Dunklen und Harten (wie bei den Caracci) verletzt wird. Die weichliche Art Guido Renis stimmt fast mit meiner Art zu sehen, wenn auch nicht mit meinem Kunsturteil überein. Alle meine Bewunderung kann von der physischen Beschaffenheit meiner Augen kommen, übrigens will ich nochmals nach Santa Croce gehen.

Am Abend in den Cascinen und im Theater. Ein Provinztheater im Vergleich zu Mailand. Ohne Vorurteil: ich habe noch nichts gesehen, was der Scala stand hielte. Und ich habe doch einiges Recht auf Vorurteile!

Florenz, 27. September 1811.

Ich komme von meiner Vormittagstour um halb ein Uhr zurück. Das ist die beste Einteilung, um meine Beine und Augen auszuruhen. Seit ich auf der Reise bin, habe ich stets Müdigkeit in den Füßen. Ich muß um acht Uhr Kaffee trinken, dann ausgehen, um halb eins frühstücken, um sechs Uhr Mittag essen, dann spazieren gehen, eine Stunde Langeweile und schließlich Oper.

Heute abend will ich in der unausgefüllten Stunde zu Frau AdeleAdele Rebusset, Stendhals Jugendliebe, die 1808 den Kriegskommissar Alexandre Petiet geheiratet hatte (vgl. S. 161, Anm. 3), der jetzt Intendant der Krone in Florenz war. gehen. Ihre Anwesenheit in Florenz schadet dem Eindruck dieser Stadt auf mich. Ich denke an alles, was ich durch sie gelitten habe, an ihre kalte, kleinliche Seele, an die Art von Unglück, die sie mir brachte, oder besser, das ich ihr gegenüber empfand, an den Kuß auf der Treppe usw.

Um zwei Uhr gehe ich zum zweitenmal aus und kehre um sechs Uhr zurück. Ich war nochmals in Santa Croce, um meine Sibylle und die »Vorhölle« zu sehen. Die Sibylle hat ein deutsches Gesicht wie Minette, sehr geadelt, aber doch keine grade Nase wie die griechischen Gesichter. Ihr Ausdruck ist sanft; nur das Auge spricht von einer großen Seele. Ihre Haltung ist wahrhaft großartig. Sie spricht in holdem Vertrauen mit Gott. Das Gemälde »Die Vorhölle«, ist mir auch diesmal reizend erschienen, besonders die Frauen rechts vom Beschauer.

Aber ich sehe, daß ich nur danach trachte, meinen Geschmack an Stelle des Geschmackes der andern zu setzen. Man wird mir einwenden: »Was beweist uns, daß dein Geschmack besser ist als der des Präsidenten Dupaty?«Mercier-Dupaty (1746–88) schrieb »Lettres sur l'Ialie« (1788). In seinen »Wanderungen in Rom« spottet Stendhal darüber. – Gar keinen! Ich kann nur das eine zu meinen Gunsten anführen: ich schreibe, wie ich denke. Vielleicht gibt es in Europa acht bis zehn Gleichgesinnte. Ich liebe sie, ohne sie zu kennen. Ich fühle, daß sie mir lebhafte Genüsse bereiten könnten. Für die andern habe ich in künstlerischer Hinsicht die ausgesprochenste Verachtung und wünsche nur, sie zu vergessen...

Da ich heute abend um halb neun nichts zu tun hatte, ging ich zu Frau Adele. Wann etwas mich in meiner Auffassung von den französischen Herzen bestärken konnte, war es dieser Besuch. Höflichkeit, Urteil und Kälte. Nicht mal rein menschliches Interesse. Sie beehrte mich nicht mal mit der Frage, wann ich angekommen sei. Ich sprach gut, aber obwohl ich seit drei bis vier Jahren nichts mehr für sie fühle, hatte mein Ton etwas Wärme, wenn auch nicht soviel wie bei jeder anderen Dame. Ich war auch ein wenig verlegen, was sich jedoch nur in etwas zu großer Lebhaftigkeit äußerte. Ich fand sie im Wochenbett.

Dies Maß von Gleichgültigkeit für einen Menschen, mit dem sie sich vier bis fünf Jahre immerfort gesehen hat, verrät ein Frauenzimmerherz. Sie hatte einen lebhaften, durchdringenden, klaren Blick.

Ich hatte keinen Schatten von schlechter Laune, noch von Enttäuschung. Mein einziger Kummer war, diese neue Unvollkommenheit der Menschennatur zu beobachten. Übrigens wahrte sie die Form. Sie lud mich zum Mittagessen ein, und da ich sagte, daß ich um fünf Uhr abreiste, zum Frühstück. Ihre Köchin zeigte mir mehr natürliche Dienstfertigkeit, die man empfindet, wenn man nach vier Jahren unverhofft jemand wiedersieht, den man früher so oft gesehen hat. Aber ich wiederhole es: ich halte sie seit lange für das fühlloseste Herz in Paris und war gar nicht verdrossen...

Und da soll ich meine lieben Italiener nicht lieben! Ich soll eine viertelstündige Unterhaltung mit Frau P(ietragrua) nicht allem vorziehen, was mir Frau A. geben kann!

Von ihr ging ich ins Italienische Theater. Man gab Alfieris »Oreste«. Ein Stück voll raschen Schwunges, Rachlust, Beredsamkeit, aber es läßt ganz kalt. Eine allzu verfeinerte Seele. Es ist zu wenig Menschliches in seinen Figuren, um Sympathie zu erwecken. Die Zuschauer verschlangen das Stück. Die Art, wie hier gespielt wird, ist viel natürlicher und rascher als bei uns. Ich bezweifle nicht, daß Alfieri, der uns so glühend gehaßt hat, gegenwärtig den italienischen Charakter bildet.

RomDiese Aufzeichnung ist erst im Jahre 1813 nachgeholt, da Beyle sein Tagebuch über Rom unterwegs verloren hatte.

Die Straßen von Florenz sind düster. Sie bestehen aus festen Häusern, die eine Belagerung aushalten konnten und auch teils ausgehalten haben. Man hat oft in den Straßen gekämpft, als Florenz noch ein stürmischer Freistaat war.

Die Gegend von Florenz bis Rom ist bergig und ausdruckslos, wie etwa die Umgegend von Namur. Ich hatte sie mir schöner vorgestellt als meine liebe Lombardei, aber es gibt nichts Schöneres als sie. In meiner ersten Jugend war ich nur bis Florenz gekommen, in Begleitung des Generals Michaud als Brigadeadjutant. Ich las im Sattel Ariost, während ich meinen General begleitete.

Erst in der Nähe von Rom nimmt die Landschaft wieder etwas das Gepräge der bella Italia an. Bei Acquapendente öffnet sich ein herrlicher Horizont. Hinter Viterbo, einer heiteren Stadt, kommt man durch dichtbewaldete Höhenzüge; eine anmutige Landschaft. Aus Furcht vor Räubern gab man uns einen Gendarmen mit. Schließlich näherten wir uns der weiten Einöde, die Rom umgibt. Ich dachte, diese ungesunde Niederung sei Sumpf, aber weit gefehlt, es ist eine stark bewegte Landschaft von sehr schönem Anblick. Der Monte Sant' Oreste, Horazens Soracte, ragte auf. Schließlich erblickte ich am Fuß einiger Anhöhen große Gebäude: es war Rom. Kurz darauf tauchte rechts die Peterskirche auf. Der Postillion erzählte uns von einem Überfall durch Räuber vor zwei Tagen. Die letzte Post, die ich nicht genommen hatte, weil sie besetzt war, wurde überfallen. Kondukteur und Reisende mußten sich mit dem Gesicht auf die Erde legen. Die Räuber raubten 200 Louisdors und schlugen sie. Der Überfall wurde recht seltsam bewerkstelligt. Einer der Räuber hatte sich wie tot mitten auf die Fahrstraße gelegt, aber der Postillion war achtlos vorbeigefahren. Hundert Schritt weiter fragten ihn mehrere Leute, ob er wisse, warum jener Mann ermordet sei. Während der Kondukteur antwortete, schüchterten sie den Postillion ein, hielten die Pferde an und so weiter.

Die Porta del Popolo hat nichts Bemerkenswertes, ebensowenig der GänsefußDie drei von der Piazza del Popolo ausstrahlenden Straßen, deren mittelste der Corso ist. dahinter und die beiden Kirchen rechts und links vom Corso. Der Name des Kardinals, der sie erbaut hat, prangt in großen Buchstaben darüber. In den ersten Tagen meines Aufenthaltes in Rom ärgerte ich mich über diese Manie, Inschriften anzubringen. Im Quirinalspalast tragen elende Holzbänke Namen und Wappen des Papstes, der sie anfertigen ließ. Aber dann sagte ich mir, daß Privatleute nirgends soviel öffentliche Bauten errichtet haben wie in Rom, und zwar meist Junggesellen, die keine Familie hinterließen, die ihr Andenken hätte bewahren können. Diese Eitelkeit ist also recht entschuldbar, und man muß froh sein, daß sie uns so viele schöne Dinge geschenkt hat.

Mein Kondukteur brachte mich nach dem Gasthof, der von seiner Frau gehalten wird. Da ich es eilig hatte, Rom zu sehen, ließ ich es zu. Der Gasthof machte mir einen ganz ordentlichen Eindruck. Ich bestellte sofort einen Wagen, aber da er nicht gleich kam, ging ich zu Fuß nach Sankt Peter. Unterwegs begegnete ich meinem Wagen, fuhr über die Engelsbrücke und durch den Borgo, wo ich prachtvolle Gesichter im Volke erblickte. Sie sprachen von einem großen Charakter, den die Regierung nicht hat unterdrücken können.

Die Fassade mit ihren an die Wand geklebten Säulen gefiel mir nicht sehr, um so mehr die beiden Fontänen. Das Innere der Peterskirche hat mir einen großen Eindruck gemacht. Ich bin oft wieder hingegangen; es war wohl das einzige Bauwerk, das ich während meines Aufenthaltes in Rom genau besichtigt habe.

Ich fuhr nach dem kaiserlichen Palast auf dem Monte Cavallo.Dem Quirinalspalast. Martial DaruEr war Intendant der Krone in Rom. wollte durchaus, daß ich dort wohnte. Er und seine Frau redeten mir sehr zu. Es war vielleicht falsch von mir, daß ich es abschlug, denn sie schienen mir etwas gekränkt. Ich versprach ihnen, nach meiner Rückkehr von Neapel zu ihnen zu kommen, und das habe ich auch getan.

Ich sah bei Herrn Daru die Herzogin L[ante] und den Grafen Miollis.Gouverneur von Rom. Ich kannte ihn von Mantua her, wo er kommandierte. Er hatte mich sogar bei einem Besuch, den er meinem General Michaud in Brescia machte, etwas ausgezeichnet. Aber ich vermied ein Wiedererkennen. Ich wollte meine Zeit in Rom nicht mit offiziellen Diners totschlagen. Deshalb machte ich meine Anstandsbesuche erst am Tage vor der Abreise nach Neapel und entging so den Einladungen.

Die Herzogin L(ante)Eine der wenigen Damen des römischen Hochadels, die zur Franzosenzeit mit den französischen Beamten verkehrte. war gegen mich von vollendeter, ungekünstelter Höflichkeit. Da man ihr gesagt hatte, ich reiste als Musikliebhaber, bat sie mich, die Stücke auszusuchen, die sie bei ihrem Konzert am Donnerstag zu Gehör bringen wollte. In der Tat wurden zwei bis drei der von mir erbetenen Stücke gesungen. Es gehört zur Höflichkeit des Reisenden, sich auf der Reise ein Ziel zu setzen. Damit sind seine neuen Bekannten nicht in Verlegenheit, was sie ihm sagen sollen, und er macht sich alle Verehrer der von ihm gewählten Kunst zu Freunden. Die Musik fesselt mich hinreichend, um mich stets in ihren Schutz zu stellen. In Mailand trug sie mir sofort die Freundschaft des alten Oheims der Signora Lamberti ein.

Das Konzert war ohne Übertreibung reizend. Die Herzogin und ihre Freunde bildeten eine Truppe, wie man sie wohl in Italien nicht zum zweitenmal findet. Sie hat in ihrem Palast ein Theater, für das Zingarelli seine »Zerstörung Jerusalems« geschrieben hat.Eine geistliche Oper (1810). Unsre Franzosen schauten bei diesem Konzert recht wunderlich drein. Was lag auch ihren Sitten ferner als eine Herzogin, die mit ihren Freunden aus Liebe zur Musik sang. Diese Freunde spielten das Duett »Se fiato in corpore avete« aus dem »Matrimonio segreto« mit allen lustigen Narrenspossen. Unsere Franzosen waren darob ganz verblüfft, besonders ein hoher Richter, der mit seinem Ordenskreuz und seinem schwarzen Anzug den ganzen Abend mit aneinandergedrückten Beinen auf seinem Stuhl klebte wie eine ägyptische Statue.

Herr Daru führte mich zu Canova. Ich fand diesen wahrhaft großen Mann von einer Schlichtheit, die von all unsern kleinen Kniffen meilenweit entfernt ist. In den fünf bis sechs Sälen seines Ateliers beobachtete ich seine Arbeitsweise, durch die er sich alles physisch Beschwerliche erspart. Aus einer Tonmasse, die seine Leute ihm bereiten, macht er das Modell der Statue, die er im Kopfe hat. Seine Leute überziehen das Modell mit Gips, machen einen Abguß in Gips, und Canova feilt ihn aus. Dann kopieren seine Gehilfen das Gipsmodell genau in Marmor, und die Statue wird in sein Privatatelier geschafft, wo er die letzte Hand anlegt. Das ist seine einzige Arbeit an dem Marmor. In diesem Atelier, gewiß einer einzigen Stätte auf Erden, habe ich mit ihm gesprochen.

In Rom war alles ob des oben berichteten Räuberanfalls entsetzt. Auf der Straße nach Neapel sollte Mord und Totschlag herrschen. Herr Daru riet mir freundschaftlich, nicht abzureisen. Auch seine Frau setzte mir sehr zu. Ich antwortete, ich hätte keine Zeit, vorsichtig zu sein. Ich reiste mit der Briefpost, nachdem ich mich vier bis fünf Tage in Rom aufgehalten, und fand unterwegs keinen Schatten von Gefahr. Selbst die verrufenen Pontinischen Sümpfe waren ungefährlich. Das erinnert mich an die Warnungen vor dem großen Sankt Bernhard, dem Mont Cenis und dem Weg von Hannover nach Wesel.

Ich verließ Rom auf der Straße, die am Kolosseum vorbeiführt. Dies halb in Trümmern liegende Amphitheater ist das einzige Bauwerk, das mich je ergriffen hat. Es rührte mich zu Tränen, während Sankt Peter mich kalt ließ. Welche Männer, diese Römer! Immer nur das Nützliche! Nie etwas ohne Grund! Als ich allein inmitten des Kolosseums stand und in den Büschen, die auf den letzten Bogenstellungen wuchern, die Vögel singen hörte, konnte ich meine Tränen nicht zurückhalten. Von dort fuhr ich auf der Appischen Straße, Ich war tief gerührt.

Bei Gaëta erblickte ich am Ende der Straße endlich das Meer. Köstlicher Blick von Mola di Gaëta. Prachtvolle Landschaft bis Neapel, dieser Stätte des Frohsinns. Rom ist ein erhabenes Grab. Man muß in Neapel lachen und in Mailand lieben.

Neapel

9. Oktober 1811.

Ich kam am 5. Oktober um dreieinhalb Uhr morgens in Neapel an und stieg im Albergo Reale auf dem Largo di Castello ab. Ich habe ein schönes Zimmer mit dem Blick auf den Vesuv, aber nicht aufs Meer. Während der Fahrt fiel mir ein, daß ich zärtlich an fünf Frauen denke, daß ein Stelldichein mit jeder von ihnen mir ein holder Genuß wäre. Es sind dies Angelina P(ietragrua), die Gräfin Palfy, Melanie (Guibert), Livia B.S. Seite 380, Anm. 3. und Angelina (Bereyter). Verliebt bin ich, glaube ich, in die erstere. Wenigstens hätte ich seit Bologna stets vorgezogen, bei ihr zu weilen, statt da zu sein, wo ich gerade war. Ich ertappe mich sieben- bis achtmal am Tage dabei, wie ich zärtlich von ihr träume. Dann geht mein Atem rascher und es fällt mir schwer, an etwas andres zu denken.

Die Musik, die ich in Neapel und im übrigen Italien gefunden habe, ist bis auf Mailand armselig. Das versöhnt mich mit dem Pariser Odeon. Bei der Abreise von Paris glaubte ich, nur mit Ekel aus dem göttlichen Italien dorthin zurückzukehren. Aber bei dem Mangel an Geselligkeit und an Freunden, den ich in Italien empfinde, bei der kulturellen Rückständigkeit, die mir manche kleine Leiden beschert, werde ich mit Freuden nach Paris zurückkehren, wenn die Liebe zu Frau P. mich nicht mit zärtlicher Sehnsucht erfüllt. Ich glaube, ich bin wirklich verliebt, so wie ich es meine. Ich brenne darauf, nach Mailand zurückzukehren. Nichts geht mir zu Herzen. Meine Eindrücke wären stärker, hätte ich Mailand übersprungen.

Am 7. Oktober brach ich mit LambertS. Seite 88, Anm. 2. und dem VicomteDer Vicomte de Barral (s. S. 133 ff.). um sieben Uhr auf. Wir besuchten im Vorbeifahren die Grotte am Posilipp, sahen die Bäder der Sibylle, frühstückten im Apollotempel, besichtigten den Lucriner See, die Bagni di Nerone, nahmen eine Barke und besuchten Stätten, die fälschlich als Venus- und Merkurtempel bezeichnet werden. Dann kehrten wir nach Pozzuoli zurück und sahen die Ruinen eines schönen Serapistempels. Hierauf fuhren wir durch diese Stadt zurück, in der die aria cattivaMalaria. herrscht, und bestiegen die Solfatara. Ich war erschöpft. Schließlich kehrten wir nach Neapel zurück, wo ich den Abend mit Barral und Lambert verplauderte.

Dienstag, 8. Oktober.

Wir fahren nach Pompeji, dem südlichsten Punkt meiner Reise, und durchstreifen seine Straßen. Wir steigen in das Theater von Herkulanum hinab. Abends in der »Vestalin«Oper von Gasparo Spontini (1807). gähne ich und schlafe ein. Aber das Teatro San Carlo bewundre ich. Die Fassade wirkt schön und kündigt ein Theater an, keinen Tempel wie bei unsern Bühnenhäusern.

Mittwoch, 9. Oktober.

Ich bleibe in der Stadt und besuche die Studij (das Museum). Arm an Bildern, aber Porträtstatuen, die durch ihre Natürlichkeit meist schön sind. Reiterstandbild des Balbus, des Erbauers des Theaters von Herkulanum.

Ich bewundre die Via Toledo. Es ist die schönste, die ich je sah, und die volkreichste. In Berlin gibt es eine noch gradere und sogar breitere Straße, ich glaube, die Friedrichstraße.Das genaue Gegenteil: Sauberkeit, Stille und Trübsal. (Zusatz Stendhals von 1813.) Aber die Häuser sind zu niedrig, und man sieht nicht den hundertsten Teil der Menschenmenge, die sich auf dem Toledo tummelt. Die Via Toledo, die Chiaja und der Stadtteil nach Portici zu sind einzig auf Erden. Das ist keine Übertreibung: ich sah Neapel ohne Geselligkeit. Alles war tot für mich. Gute Musik hätte mich wieder belebt, aber ich hörte nur schlechte. Hätte ich hier in einer Gesellschaft wie die der Frau Pietragrua oder der Signora Lamberti verkehrt, so hätte der Anblick der Örtlichkeiten in Verbindung mit den Sittenstudien mir weit mehr Genuß bereitet. Die Geistlosigkeit und der schlechte Ton der Frau L(ambert) aber stieß mich ab.Die folgenden Aufzeichnungen aus Neapel – Besteigung des Vesuv und Volkstudien – sind in der »Reise in Italien« (Bd. V dieser Ausgabe, Anhang, Nr. 2) abgedruckt und daher hier nicht wiederholt.

Am 11. Oktober verließ ich Neapel. Ich brachte der Pflicht den Ausbruch des Vesuvs zum Opfer, den man für den nächsten Tag erwartete. Es war das größte Opfer, das ich bringen konnte; ich war recht dumm, es zu tun. Beim Eifer ist stets drei Viertel Dummheit, sagt Talleyrand. Aber damals war ich noch ganz Herz.Der letzte Satz ist ein Zusatz Stendhals von 1813.

Ancona

Ancona, 19. Oktober 1811.

Ich schreibe dies in Livias Zimmer an ihrem Tisch, mit dem Blick aufs Meer, das den Horizont hinter allen Schornsteinen von Ancona abschließt. Das Meeresufer ist nicht herrlich wie in Neapel; es sind öde Felsen. Bäume gibt es in Ancona nicht. Man geht auf dem kahlen Strande spazieren. Livia begleitete mich bei diesen Spaziergängen. I found her much below my ideas, but for the figure and for the wit. Conducing her to the theater, the very evenig of my arrival she had the figureLivia B. (oder R.) ist vielleicht identisch mit einer jungen geistvollen italienischen Witwe eines gefallenen Obersten, die er 1807 liebte und die dann nach Italien zurückkehrte, von wo sie ihm schrieb. Vielleicht ist sie identisch mit der Riatowska, von der er am 6. August 1809 aus Wien schreibt. (Arbelet.) Die obigen englischen Worte bedeuten: »Ich fand sie weit unter meiner Vorstellung, bis auf das Gesicht und den Geist. Als ich mit ihr am Tage meiner Ankunft ins Theater ging, war ihr Gesicht...« von einer Art Hut verdeckt, und da sie etwa die Figur der Frau P. hat, schwelgte ich ein paar Augenblicke in der holden Illusion, bei ihr zu sein.

Livia langweilt sich in diesem Nest und hat noch sehr wenig Verkehr. Die Langeweile macht sie apathisch und muß sie sogar etwas launisch machen. Ihr Vater lebt mit einer Magd des Hauses, was Livia sehr unglücklich macht. Sobald er mich erblickte, lud er mich ein, bei ihm zu wohnen. Ich nahm es nach einigem Zögern an. Der Vergleich Livias mit der Gräfin Palffy und Fräulein Mimi v. B. zeigt mir deutlich, daß die Langeweile den Menschen in eine Apathie versenkt, die die Langeweile noch vermehrt, und daß das sicherste Mittel gegen diesen Abgrund der Trübsal angespannte Tätigkeit ist.

Um einer gelangweilten Frau Liebe einzuflößen, muß man die Theorie verbergen, sie aber nach und nach mehr an Beschäftigung gewöhnen, dann wird man für sie zu einer Quelle von Freude. Einer Frau, die man besitzen will, offen den Hof zu machen, ist die größte Dummheit. Das könnte nur bei einer Frau ohne jede Eitelkeit gelingen, und die kann man lange suchen.

In ihrem gelangweilten Zustand wollte Livia heute vormittag um nichts und wieder nichts keine Musikstunde nehmen. Ich brachte sie durch Scherze dazu. Vor mir Liebesarien zu singen, hat sie sicherlich beschäftigt. Ihr Musiklehrer bestätigte mir einen eignen Gedanken: Bisogna novità pella musica.Die Musik muß neu sein. Das ist in Italien eine Regel ohne Ausnahme; sie stimmt so recht zu der Feinfühligkeit dieses für die Künste geborenen Volkes. Wenn eine Oper von Cimarosa gegeben würde, sagte mir der Maestro, so würde man jede Arie schon bei den ersten Takten erkennen, und die Oper könnte nicht weiter gespielt werden. Wenn Cimarosas Opern in dreißig Jahren etwas in Vergessenheit geraten sind, könnten sie von neuem den größten Erfolg haben.

19. Oktober 1811.

Ich nehme mir Livia gegenüber Freiheiten heraus, ohne daß sie böse wird. Sie nennt mich unverschämt, aber lacht dabei. Sie gibt mir Küsse, aber nicht wie Angela Borrone am ersten Tage. I could have her in two or three days, but I do not desire her.Ich könnte sie in ein bis zwei Tagen besitzen, aber ich begehre sie nicht. Was ich wünsche, ist meine Angela wiederzusehen. Heute früh ging ich zu dem guten Mailänder, Signor Casati, mit dem ich seit Foligno reise. Wie er mir sagte, können wir morgen früh weiterfahren. Dann wären wir am 23. in Mailand.

Mein Mailänder lehrt mich, mich in Italien nicht betrügen zu lassen. Das ist für mich schwierig. Man verlangt immerfort Geld und macht stets eine unzufriedene Miene. Auf jeder Poststation muß man fast handeln. Darin, wie in allem andern, ist die Zivilisation in Italien hinter Frankreich zurück; dafür hat man Feingefühl und dessen Folge, Natürlichkeit. Dies Land ist also in hohem Maße ein Land der Künste.

Ich finde, daß all meine italienischen Freunde weniger geistreich sind, als ich erwartete. Vor ein paar Jahren stand ich ihnen gleich. Anscheinend habe ich ein paar Meilen auf dem Strome des Wissens zurückgelegt. Barral und Lambert kamen mir geistlos vor. Ebenso ist es mit Biat ...Gemeint ist wohl Livia Riatowska.

20. Oktober 1811.

Am 19. nach Tisch sprach ihr Vater in ihrer Gegenwart von meiner Abreise. Sie war traurig, nicht düster und leidenschaftlich, aber andauernd. Spaziergang mit ihr am Meeresstrand vor der Porta di Francia, in der Art meiner letzten Spaziergänge mit Melanie. Trübes Schweigen und schlechte Laune. »Da Sie abreisen, hat es ja doch keinen Zweck, zu reden.« Ich schreibe dies an ihrem Tisch um acht Uhr früh vor der Abreise. Wir fuhren am Meeresstrand entlang. Schöne Straße, so bequem, wie ich noch keine gesehen habe. Unendlich lange Brücken aus Ziegeln über die Fiumaren, die von den Apenninen kommen. Sie sind so schmal, daß nur ein Fuhrwerk hinüber kann. Ich hatte einen Sturz mit dem Wagen, die einzige Gefahr dieser Reise.Der letzte Absatz ist 1813 angefügt.

Mailand

Geschrieben in Varese, 24. Oktober 1811.

Ich kam in Mailand am 22. Oktober bei sinkender Nacht an. In weniger als einem Monat habe ich ganz Italien gesehen. Endlich erblickte ich die Porta Romana wieder.

In dem Maße, wie meine Reise schön wird, verschlechtert sich mein Tagebuch. Das Glück beschreiben, ist für mich oft, es verringern. Es ist eine zu zarte Pflanze, die man nicht anrühren darf. Hier nur ein paar Bruchstücke über meinen zweiten Mailänder Aufenthalt.

Gestern, am 23., fuhr ich in dem Glauben, einen klugen Schachzug zu tun, voller Liebesüberschwang, aber mit der Kälte und Gewandtheit eines Mannes, der ein schwieriges Ziel erreichen will, um halb drei Uhr nach Varese und kam um halb neun Uhr an. Ich hatte im Ossian gelesen; auf der Fahrt las ich »Fingal«.

Heute hatte ich ossianische Abenteuer und entsprechendes Wetter. Ich ritt um halb sieben früh nach der Madonna del Monte. Der Weg nach diesem hochliegenden, eigenartigen Orte führt durch ein Hügelland von einer Schönheit, wie ich es mir in meiner Jugend stets erträumt habe. Der Anblick des Dorfes, das sich um die Kirche gebildet hat, ist merkwürdig; die Berge sind großartig. Nach zwei Miglien erblickt man den Lago di Barese und eine Miglie höher hinauf den Lago Maggiore. Die Sonne ging in Dünsten auf. Die tiefer gelegenen Anhöhen tauchten wie Inseln aus einem weißen Nebelmeer empor. Ich dachte nicht daran, mich durch all diese Schönheiten aufhalten zu lassen. Nach drei Vierteln des Weges saß ich ab, weil mein Pferd ausglitt und ich schneller fortkommen wollte.

Ich erblickte den Gatten, der herunterkam. Er begrüßte mich freundlich. Ich stieg noch schneller bergauf, schließlich kam ich ins Dorf. Ich kam zu einer sehr ausgeputzten Kirche, in der die Messe abgehalten wurde, und fragte nach der Wohnung der Frau P. Endlich erblickte ich sie. Ich habe keine Zeit, zu schildern, was in meinem Herzen vorging. Man bedenke, daß ich ihretwegen Rom und Neapel mit Freude verlassen hatte.

Ich sagte ihr nichts von den zärtlichen, reizenden Dingen, die ich mir während der Postfahrt von Rom nach Foligno ausgedacht hatte. Ich war ganz verwirrt. Ich wollte sie küssen; sie sagte, ich solle daran denken, daß dies nicht der Landesbrauch sei.

Sie fragte mich, ob ich wisse, was sich alles ereignet habe. Sie sei schauderhaft bloßgestellt. Man habe das Stelldichein im Badehaus Alamanni erfahren; ihre kleine spitzbübische Zofe, der Herr Turchotti den Hof mache, habe sie verraten usw. Ob ich ihren Brief erhalten hätte?

Ich wußte nicht recht, was ich tat. Ich trank bei ihr Schokolade und wir gingen spazieren. Auf der Postfahrt von Rom nach Foligno hatte ich mir so schöne Dinge ausgedacht, die ich ihr beim Wiedersehen sagen wollte, daß mir die Tränen in die Augen traten. Jetzt war ich ganz verwirrt, suchte alles vorauszusehen und während der Abwesenheit des Gatten zu vereinbaren. Ich muß ihr hart und pedantisch erschienen sein. Ich merkte, daß ich nicht so zärtlich schien, wie ich es war. Aber die Angst, Herrn P. jeden Augenblick eintreten zu sehen, hielt mich in dauernder Verwirrung. Ich redete ihr zu, bald nach Mailand zurückzukehren, und fürchtete stets, etwas zu vergessen. Kurz, ich war nicht liebenswürdig, und ich fürchte, das hat meiner Liebe Abbruch getan. Ich muß ihr mehrfach unverständlich gewesen sein. Bei einer Frau, die gewöhnt ist, das erste Wort zu verstehen, muß das Kälte hervorrufen.

Geschrieben auf der Isola Bella Am 25. Oktober um neun Uhr abends.

Vielleicht ist es einer Seele voll großer Dinge eigen, daß sie im Augenblick des Handelns, wo sie alle Kräfte zusammennimmt, nicht anmutig ist.

Heute früh um acht Uhr brach ich nach Laveno auf, wo ich um elf Uhr anlangte. Ich kam durch eine Landschaft, wie sie meine Phantasie sich nicht schöner wünschen kann. Nun habe ich das Land gefunden, wo man die Natur genießen muß, und das nur sechs Stunden von einer Großstadt. Mehr kann man nicht verlangen.

Ich fahre im Boot bei Regen und Nebelgewölk nach den Borromeischen Inseln. Nach einer Fahrt von fünf Viertelstunden lange ich auf der Isola Madre an, die ich in einer halben Stunde besichtige. Von da zur Isola Bella, wo ich dies schreibe. Ich habe die Villa und den im Jahre 1670 angelegten Garten gesehen. Angelegt ist das rechte Wort. Gleichzeitig mit Versailles. Größer für einen Privatmann als Versailles für einen König, aber für das Herz ebenso trocken wie Versailles.

Herrlicher Blick von der Terrasse. Links die Isola Madre und ein Stück von Pallanza, dann der Seearm, der sich fernab nach der Schweiz verliert. Gegenüber Laveno; rechts der Seearm, der sich nach Sesto hinzieht. Fünf bis sechs von Wolken verhüllte Berghintergründe. Dieser Blick ist das Gegenstück zur Bucht von Neapel, aber weit rührender. Endlich hat mein aus Liebe zur Schönheit kritischer Geist etwas gefunden, an dem es nichts auszusetzen gibt: die Landschaft zwischen Barese und Laveno und wohl alle Berge der Brianza.

Ich glaube, selbst ohne die Gegenwart der Frau P. gäbe ich Mailand den Vorzug vor Rom und Neapel. Dicke, ungeheure Pinien und Lorbeerbäume in zwei Fuß hoch aufgeschütteter Erde über Gewölben. Ich schrieb einen acht Seiten langen Brief an sie. Am Abend las ich weiter im »Fingal« bei rauschendem Regen und Donnerschlägen.

26. Oktober.

Beim Aufstehen finde ich gottlob ein herrliches Spätherbstwetter: schwere, aber sehr hohe Wolken, Schnee auf den Berggipfeln im Norden des Sees, aber weiten Blick. Das wird mir die acht Miglien, die ich zu Anfang und zu Ende der nächsten Nacht zu machen habe, sehr erleichtern.

Madonna del Monte, 26. Oktober 1811, acht Uhr.

Ich habe nie ein so bequemes Gasthaus gesehen wie das, worin ich schreibe. Es ist das Casino Bellati neben der Kirche. Ich wünschte, in der Nacht frei aus- und eingehen zu können. Alles hat sich in natürlicher Weise gelöst. Ich habe ein Zimmer, das auf die Vorhalle der Kirche geht, und in meiner Tasche habe ich la benedetta chiaveDen gesegneten Schlüssel., der mir die Freiheit gibt. So brauche ich keine Unvorsichtigkeit zu begehen.

Angelina hat eine begangen, die so recht den Unterschied zwischen der italienischen und französischen Liebe kennzeichnet. Ich kam bei scheußlichem Wetter in einer sogenannten Portantina an, einem elenden Gefährt, das aus einem Gestell mit darüber geworfener Leinwand und einem Regenschirm aus Wachstuch bestand. Ich glaubte, der Gasthof von Bellati sei am andern Ende des Dorfes, weit ab von ihrer Wohnung. Das traf für den Gasthof zu, aber man brachte mich in das Kasino, von drei Fackeln begleitet, und dieser ganz auffällige Aufzug kam um halb sieben vor ihrer Tür vorbei und durch einen schmalen, dunklen Gang vor der besonderen Tür des Gatten, die offen stand.

Ich zog den Kopf zwischen die Schultern, und mein lächerlicher Aufzug fiel Angelina auf, die kurz darauf mit ihrem Sohne nach meinem Kasino kam, mir ein Briefchen gab und mir sagte, in diesem Augenblick würden zwei Nonnen in dem Zimmer untergebracht, durch das ich eintreten müsse, aber sie würde ihr möglichstes tun, damit ich um Mitternacht zur ihr könnte. Montag wäre sie in Mailand. Sie schien mir bei diesen Worten reizend. Das Briefchen, das sie mir zusteckte, lautet:

A mezza notte. La gelosia del marito si è vivamente destata. Prudenza, e preparate tutto per ripartire domani mattina non più tardi delle 7.Um Mitternacht. Die Eifersucht des Gatten ist ernstlich erwacht. Vorsicht, und richte alles so ein, daß du morgen vor sieben Uhr wieder abreisen kannst.

Aber mir schien, daß dies Briefchen schon vor den verdammten Nonnen geschrieben war.

Madonna del Monte, 27. Oktober, sieben Uhr früh.

Gestern um halb zehn ein zweiter Brief: Non è più speranza.Es ist keine Hoffnung mehr. Mir blieb also nichts übrig, als zu Bett zu gehen und Ossian zu lesen, während der Nebelwind an meinen Fenstern rüttelte, das einzige Geräusch außer dem Knistern meines Kaminfeuers. Ich war todmüde. Ich hatte nicht daran gedacht, am Tage zu schlafen. Das muß ich mir merken; sonst hätte ich an dem Ort der Gefahr einschlafen und erst am Morgen erwachen können. Oder ich hätte nur unvollkommen das Glück genossen, das die beiden appostaGerade zu jener Stunde. gekommenen Nonnen mir geraubt haben.

Sind diese beiden Nonnen leibhaftige Wesen oder bloße Ausgeburten der Angst? Die ganze Nacht lang seufzten die Seelen der ossianischen Helden im Sturmgebraus, und auch heute früh seufzen sie noch beträchtlich. Ein trüber, nebelumsponnener Tag. Sie schreibt mir, daß sie morgen abend in Mailand sein will. Ich werde heute in zwei Stunden dort sein.

Mailand, 29. Oktober 1811.

Ich wollte dies Tagebuch mit der Abschrift eines unglücklichen Liebesbriefes an Angela beginnen. Aber das Abschreiben wäre noch verdrießlicher als das Schreiben selbst, und das will viel sagen. Der Himmel ist mein Zeuge, daß ich ihr gestern einen schönen unglücklichen Liebesbrief voller Zartgefühl und in knappem Stil geschrieben habe. Er hätte einem Duclos Ehre gemacht. Aber wie verschieden ist die Art, die Natur zu sehen, und die Art des Stils. Angelina fand ihn abscheulich. »Würdest du so schreiben, wenn du unglücklich wärest?« fragte sie mich heute morgen in der Contrada dei due Muri.

Dort habe ich sie zum erstenmal ganz ungestört gesehen. Ich suchte vorher nicht an dies Stelldichein zu denken, um nicht närrisch zu werden. Ich hatte fast keine Zeit, natürlich zu sein, und so fehlte der Genuß. Ich teilte ihr die Verlängerung meines Urlaubs mit; sie sagte mir, ihr Gatte hätte meine Rückkehr nach der Madonna del Monte erfahren, und zwar von meinem Begleiter selbst. Unsre Liebe wird von allen möglichen Zufällen verfolgt: den beiden Nonnen, dem Manne, der mit ihrem Gatten ein langes Gespräch führte.

Heute morgen war sie ernstlich beunruhigt. Zwischen ihr und Turchotti scheint etwas Geschäftliches zu spielen. Um so schmeichelhafter für mich ist es, den Sieg davonzutragen. Heute abend um halb sieben Uhr bei ihrer Mutter sah ich sie eine halbe Stunde lang wahrhaft verliebt und schön vor Liebe. Wir plauderten auf einer Bank im Laden, während die Mutter mit den Kommis beschäftigt war. Wir mußten ein scherzhaftes Gespräch führen. Diese Art scherzhafter Zärtlichkeit liegt mir sehr gut; ich bin ganz natürlich und ganz glücklich. An ihren Blicken und der Röte ihrer Wangen merkte ich die sichre Wirkung einer großen Seele auf ein ähnlich geartetes Herz. Sie sprach davon, alles im Stich zu lassen und mir nach Frankreich zu folgen. Sie verabscheut Italien,

Anscheinend ist sie der Wirkung, die sie auf ihre ganze Umgebung ausübt, zu sicher. Sie steht derart über den anderen Frauen, daß es keinem ihrer Freunde einfallen kann, sie zu vernachlässigen. Ihre Vorzüge können einen kalt lassen; wenn man sie aber einmal genossen hat, muß man zu ihren Füßen bleiben, denn sie scheint in Mailand einzig in ihrer Art. Das könnte ihrer Eigenliebe schmeicheln, wenn sie es sich recht überlegt. Aber diese Gewißheit läßt sie gähnen.

Heute morgen, als sie über alle Zufälle, die sich gegen uns kehren, in größter Verwirrung war und ich ihr die wunderbare Verlängerung meines Urlaubs mitteilte, sagte sie: »Du mußt abreisen.« Und sie sagte mir, daß sie nach Novara reiste...

Gestern, am 28., war ein glücklicher Tag. Ich ertappte mich dabei, wie ich zu mir sagte: »Mein Gott, wie bin ich glücklich!« Alles wegen des Briefes von F[aure], der mir einen Nachurlaub von einem Monat mitteilte. (Ich habe 1500 Franken bekommen.)

Inzwischen gab sie mir ein Stelldichein um zehn Uhr. Aber der Lump von Friseur, bei dem ich mir ein Zimmer genommen habe, ließ es sich beikommen, ihr bis zu ihrem neuen Hause nachzugehen.

Ohne meine verdammte Liebe zu den Künsten, die mich gegenüber der Schönheit in allen Dingen zu kritisch macht, könnte ich wohl dank meinem System und drei bis vier glücklichen Zufällen, die mir zugestoßen sind, einer der glücklichsten Menschen sein.

This morning I have made that a time. This night I should go to a very respectable number.Heute morgen besaß ich sie einmal. Heute nacht müßte ich es auf eine recht beträchtliche Anzahl bringen. Aber die Angst der Erwartung und dann das, was sie zu mir sagte, erregten meinen Geist zu sehr, als daß ich viel hätte leisten können.

In meinem Zimmer in der Contrada dei due Muri las ich hundertfünfzig Seiten in Lanzi,Der Abbate Luigi Lanzi (1732–1810) schrieb eine grundlegende »Storia pittorica d'Italia« (Bassano 1789, erweitert Bassano 1795–96, 3. Aufl. 1809). Das Werk erschien französisch von Francillon (gekürzt) Paris 1822, und von Armande Dieudé, 1824, deutsch von I. G. Quandt, Leipzig 1830–33,3 Bd. der trotz seines ängstlichen, historischkritischen Geschwätzes echtes Kunstempfinden hat wie ein Italiener.

CimbalEin Hausfreund der Pietragrua. war mit mir im Laden von Borrone; ich suchte ihn durch Zuvorkommenheit zu ködern. Das ist mir ziemlich gelungen. Aber der Gatte hat seiner Frau in meiner Gegenwart Vorwürfe gemacht, weil sie heute morgen nicht zu Hause war und ihr Sohn mit dem Regenschirm zurückkam.

Seit einem Monat schlafe ich sehr wenig. Meine Empfindsamkeit ist durch den Kaffee, die Reisen, die nächtlichen Postfahrten und schließlich die Eindrücke überreizt. Ich magere etwas ab, aber ich fühle mich sehr wohl. Gestern schlief ich nach einem Bade zum erstenmal acht bis neun Stunden. Aber ich bin durchaus wohl. Ich hatte nur einmal einen leichten Fieberanfall, wie stets bei Beginn der kalten Jahreszeit.

30. Oktober 1811.

Um zwei Uhr brachte mir der schöne AntonioAngelas Sohn. den folgenden Brief.

Mercoledi

Una sola righa per ricordarmi a te, che amo più della mia vita, e per dirti che le più fatali combinazioni mi hanno tenuta legata sino dopo le undici; che subito andai al noto sito, ma tu eri digia partito!

Domani alle ore dieci spero d'essere più fortunata e poterti dire quanto ti amo e quanto sofro per te! ...

P.S. Alle ore sei di questa sera io passerò davanti al Caffè del Sanquirico, in vicinanza della mia nuove casa, la bottega del quale fa angolo alla contrada del Bocchetto.Mittwoch.
Nur eine Zeile des Angedenkens an Dich, den ich mehr liebe als mein Leben, und zugleich, um Dir zu sagen, daß die unglücklichsten Umstände mich bis elf Uhr gefesselt hielten. Ich ging sofort nach dem vereinbarten Ort, aber Du warst schon fort! Morgen um zehn Uhr hoffe ich glücklicher zu sein und Dir sagen zu können, wie sehr ich Dich liebe und für Dich leide!...
P.S. – Heute abend um sechs Uhr werde ich am Café Sanquirico in der Nähe meiner neuen Wohnung vorbeigehen. Es liegt an der Ecke der Contrada del Bocchetto.

Sie wird sich geirrt haben, was ganz natürlich war. Ich habe bis halb zwölf in Lanzi gelesen. Aber dies Mißgeschick hat auch sein Gutes; es wird ihre Liebe vermehrt haben.

Wenn sie nicht nach Novara reist, wäre mein Glück vollkommen. Ich glaube für den Monat November meine Freiheit zu haben und habe mein Geld gezählt. Es sind über 1700 Franken.

Ich habe daran gedacht, Lanzi zu übersetzen – es sind neunzehnhundert Seiten – und zwei Bände zu vierhundertfünfzig Seiten daraus zu machen. Aber wozu? Ich könnte meinem Schreiber den französischen Text diktieren; das würde mir dreißig bis vierzig Tage Zeit kosten.Dieser Absatz ist in der Urschrift englisch.

31. Oktober 1811.

Gestern, am letzten Oktober, als ich in meinem Zimmer wartete, habe ich folgenden BriefAn eine imaginäre Zeitungsredaktion. geschrieben:

Bologna, 25. Oktober 1811.

Ich habe die Geschichte der Malerei in Italien von der Wiedergeburt der Künste am Ende des 13. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart in zwei Bänden geschrieben. Dies Werk ist die Frucht dreijähriger Reisen und Studien. Die Geschichte von Lanzi ist mir sehr nützlich gewesen.

Ich schicke mein Werk nach Paris, um es dort drucken zu lassen. Man rät mir, Sie zu bitten, es anzuzeigen. Es erscheint Ende 1812 in zwei Bänden. Wenn der nachfolgende Artikel Ihnen nicht zusagt, bitte ich Sie, ihn zu verändern.

»Ende 1812 erscheint eine Geschichte der Malerei in Italien von der Wiedergeburt der Kunst am Ende des 13. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart. Der Verfasser, der seit drei Jahren in Italien reist, hat die Werke von Fiorillo»Histoire de la Peinture«, Göttingen 1798–1801, 2 Bde. und Lanzi benutzt. Sein Werk wird in zwei Oktavbänden erscheinen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Charlier.«Dies ist der Ausgangspunkt von Stendhals »Geschichte der Malerei in Italien« (1817).

Angelina hat anderthalb Stunden bei mir in dem Zimmer in der Contrada dei due Muri verbracht. Sie schien befriedigt.Dieser Absatz ist in der Urschrift englisch.

Um halb drei ging ich aus und besuchte die Brera. Ich fand Interesse an einem Gemälde von Giotto und an einem Bild von Mantegna, wegen meines überspannten Einfalls, der mir schon 104 Franken kostet, und zwar für:

Lanzi 22
Bossi 24
Basari (11 Bde.)
(weitere fünf folgen)
55
Bianchonis Führer durch Mailand 3

104 Franken

Durch diesen Einfall würde ich meine Zeit als Mocenigo verlieren.Desgleichen. Aber da die Eigenliebe ins Spiel kommt, werde ich wirkliche Kenntnisse in der Malerei erwerben, und wahrscheinlich Geld genug für eine zweite Italienreise.Die letzten Worte desgleichen

Während ihrer Abwesenheit vom 2. bis 15. November hätte ich Zeit genug, Venedig und Genua zu besuchen. Aber diese Reisen locken mich nicht. Ist es klug, die Freuden Venedigs zu genießen, wenn ich es ohne Verlangen besuche, nur um mir sagen zu können: »Ich habe alles gesehen?«

Ende Oktober 1811.

Sie möchte, daß ich aus Vorsicht nach Venedig ginge. Man gelangt in vierundzwanzig bis sechsunddreißig Stunden hin.

Mailand, Albergo della Citta, 2. November 1811.

Zweifellos die schönste Frau, die ich besessen und vielleicht je gesehen habe, ist Angela, wie sie mir heute abend erschien, als wir zusammen beim Schein der Ladenlampen durch die Straßen schritten. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde sie mir mit jener Natürlichkeit, die sie auszeichnet, und ohne Eitelkeit sagte, einige ihrer Freunde hätten ihr gesagt, daß sie Furcht einflöße. Das stimmt. Sie war heute abend leidenschaftlich. Anscheinend liebt sie mich. Yesterday and today, she has had pleasure. Wir tranken zusammen Kaffee in dem einsamen Hinterzimmer des Cafeés. Ihre Augen glänzten. Ihr Gesicht war im Halbdunkel von süßer Harmonie, und doch war ihre übernatürliche Schönheit schrecklich. Man möchte sagen, ein höheres Wesen hat ihre Schönheit angenommen, weil diese Verkleidung ihm besser anstand als eine andre, und mit seinen durchdringenden Augen blickte es mir bis auf den Grund der Seele. Dies Gesicht würde eine herrliche Sibylle abgeben.

Ich traf sie um sechs Uhr in der Contrada del Bocchetto beim Café Sanquirico, unserm gewöhnlichen Stelldichein. Ich begleitete sie bis zu ihrer Schwägerin, der Frau eines berühmten Chemikers, an der Porta Ticinese. Ich wartete in einem Café auf sie; nach einer Viertelstunde kam sie wieder heraus. Wir tranken Kaffee, und nach einem halbstündigen Spaziergang verließ ich sie bei der Arkade der Piazza dei Mercanti, stets in Begleitung des schönen Antonio.

In der folgenden Zeit war ich zu glücklich oder durch die Eifersucht der Herren zu sehr in Atem gehalten, um mein Tagebuch zu schreiben. Ich verließ Mailand am 13. November und kam am 27. November um fünfeinhalb in Paris an. Am nächsten Tage verlorene SchlachtZur Erklärung lese man die letzte Aufzeichnung der »Reise in Italien« (Band V dieser Ausgabe, S. 373 f., überschrieben: »Frankfurt a. M, 28. August«).

In aller Ehrerbietung dem achtunddreißigjährigen Herrn H. de B[eyle], der vielleicht im Jahre 1821 leben wird, gewidmet von seinem ergebensten Diener, der heiterer ist als er.

Der H. B[eyle] von 1811.


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