Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Der Mathematiker Gros. Das Examen

Rom, 26. bis 30. Januar 1836.

Ich glaube, ich sagte mir: »Ob wahr oder falsch, die Mathematik wird mir aus Grenoble forthelfen, aus diesem Schlamm, der mich anekelt.« Ich finde diesen Gedankengang allerdings für mein Alter sehr frühreif. Ich arbeitete also weiter – die Unterbrechung wäre mir zu schmerzlich gewesen –, aber ich war tief beunruhigt und betrübt. Schließlich zeigte mir der Zufall einen bedeutenden Mann, und so ward ich kein Schurke. Auch in diesem Falle ist die Sache bedeutungsvoller als meine Darstellung. Ich will versuchen, nicht zu übertreiben.

In meiner Verehrung für die Mathematik hörte ich seit einiger Zeit von einem jungen Manne reden, einem berühmten Jakobiner, einem großen, unerschrockenen Jäger, der weit mehr von Mathematik verstand als die Herren Dupuy und Chabert, aber sie nicht berufsmäßig betrieb. Nur gab er hin und wieder Mathematikunterricht, da er wenig bemittelt war.

Aber bei meiner Schüchternheit wußte ich nicht, wie ich den Weg zu ihm finden sollte, und sein Unterricht war furchtbar teuer, zwölf Sous für die Stunde – woher das Geld nehmen? Ich schüttete mein Herz meiner Großtante Elisabeth aus, die damals wohl achtzig Jahre alt war. Aber ihr treffliches Herz und ihr vielleicht noch besserer Verstand waren nur dreißig Jahre alt. Freigebig gab sie mir einen Haufen Sechsfrankenstücke. Aber nicht das Geld war es, was dieser hochherzigen Seele schwer fiel; bei ihrem nur zu berechtigten Stolz und Zartgefühl mußte ich diese Stunden ohne Wissen meines Vaters nehmen, und welchen berechtigten Vorwürfen setzte sie sich dadurch aus!...

Ich weiß nicht, wie ich bei meiner Schüchternheit den Weg zu Herrn Gros fand, aber ich sehe mich in seinem Stübchen in Saint-Laurent, dem ältesten und ärmsten Stadtteil, in einer engen Straße zwischen Berg und Fluß. Ich hatte noch einen Studiengenossen, aber wer war das? Ich weiß es nicht mehr; meine ganze Aufmerksamkeit galt Herrn Gros. Er war dunkelblond und sehr lebhaft, obwohl sehr fett; er mochte fünf- bis sechsundzwanzig Jahre alt sein. Er hatte ziemlich lange krause Haare und trug einen Überrock.In »Rot und Schwarz« hat Stendhal ihm ein Denkmal der Liebe gesetzt.

»Citoyens,« sagte er, »womit wollen wir anfangen? Ich muß wissen, was Sie schon können.«

»Wir können die Gleichungen zweiten Grades.«

Als vernünftiger Mann begann er sie uns zu erklären. Der Himmel tat sich mir auf. Endlich erkannte ich das Warum der Dinge; es war kein Apothekerrezept zur Lösung der Gleichungen mehr. Ich hatte lebhafte Freude daran, wie beim Lesen eines spannenden Romans ... Nach ein paar Stunden ging Gros zu den Gleichungen dritten Grades über; da war alles für uns neu. Mir ist, als hätte er uns mit einem Schlage bis an die Grenzen des Wissens geführt und vor die zu bezwingenden Schwierigkeiten gestellt, oder vor den Schleier, der gelüftet werden sollte. So zeigte er uns nacheinander die verschiedenen Arten der Lösung dieser Gleichungen, die ersten Versuche Cardanis, dann die Fortschritte und schließlich die neuste Methode. Wir wunderten uns, daß er uns nicht nacheinander dieselbe Sache beweisen ließ. War etwas richtig verstanden, so ging er zu anderen Dingen über.

Ohne die geringste Marktschreierei besaß er die für einen Lehrer wie für einen Feldherrn gleich wichtige Gabe, die Seele seiner Schüler ganz zu erfüllen. Ich achtete und verehrte ihn so sehr, daß ich ihm vielleicht mißfiel. Eines Tages, als eine große Nachricht eintraf, sprachen wir die ganze Stunde von Politik, und am Schluß wollte er kein Geld nehmen. Ich war derart an die Schäbigkeit der Dauphineser Lehrer gewöhnt, daß dieser sehr einfache Zug meine Bewunderung und Begeisterung noch vermehrte.

Ich habe fast gar keine Erinnerung mehr an die beiden letzten Jahre in Grenoble. Die Leidenschaft für die Mathematik nahm mich so völlig in Anspruch, daß Felix Faure mir einmal sagte, ich trüge meine Haare viel zu lang. Mich dauerte die halbe Stunde, die ich mit dem Haarschneiden verlieren mußte.

Gegen Ende 1799 blutete mein Bürgerherz ob unserer Niederlage in Italien (Novi u. a. m.), über die meine Familie frohlockte, freilich mit einem Gemisch von Sorge. Mein Großvater war verständiger; er wünschte nicht, daß die Russen und Österreicher bis Grenoble vordrängen. Aber sicher bin ich dessen nicht: die Hoffnung, bald fortzukommen, und meine Leidenschaft für die Mathematik erfüllten mich derart, daß ich wenig auf die Reden meiner Verwandten achtete. Ich sagte mir vielleicht nicht, aber ich fühlte: Wie die Dinge jetzt für mich liegen, ist mir ihr Gerede ganz gleichgültig!

Bald aber mischte sich eine selbstsüchtige Befürchtung in meinen patriotischen Kummer: ich fürchtete, das Examen in Grenoble könnte wegen des Anrückens der Russen nicht stattfinden. Da landete Bonaparte in Fréjus.Am 9. Oktober 1799. Ich gestehe, ich hatte den ehrlichen Wunsch, der junge Bonaparte, den ich mir als jungen, schönen Opernobersten vorstellte, möchte König von Frankreich werden. Dieser Gedanke löste in mir nur glänzende, hochherzige Bilder aus. Es war die Frucht meiner platten Erziehung. Meine Angehörigen waren dem König gegenüber wie Lakaien. Bei dem bloßen Wort König oder Bourbonen waren sie zu Tränen gerührt.

Tatsächlich bewirkte das Anrücken der Feinde, daß der Examinator der Polytechnischen Hochschule, Louis Monge, nicht nach Grenoble kam. Dann müssen wir nach Paris, sagten wir uns alle. Aber wie sollte ich die Reise dorthin bei meinen Verwandten durchsetzen? Mit sechzehn Jahren nach dem Seinebabel, der Stätte der Verderbnis reisen! Ich war in größter Aufregung.

Die Prüfung in der Mathematik begann; sie war ein Triumph für mich. Ich trug den ersten Preis über acht bis neun junge Leute davon, die meist älter und bevorzugter waren als ich und alle in die Polytechnische Hochschule aufgenommen wurden. Ich war an der Tafel beredt; sprach ich doch von Dingen, über die ich seit mindestens fünfzehn Monaten leidenschaftlich nachgedacht und die ich seit drei Jahren studiert hatte. Als Herr Dausse, ein eigensinniger, gelehrter Mann, sah, was ich wußte, stellte er mir die schwierigsten Fragen, um mich in die Enge zu treiben. Er sah bärbeißig aus und ermutigte einen nie. Er war Chefingenieur und ein Freund meines Großvaters, der bei der Prüfung zugegen und höchst entzückt war. Außer dem ersten Preis bekam ich einen Quartband von Euler.»Vielleicht bekam ich ihn schon am Schluß des Jahres 1798, wo ich gleichfalls den ersten Preis in der Mathematik davontrug«, setzt Stendhal hinzu. In der Tat errang er diesen ersten Preis schon am 7. November 1798 nebst Eulers »Einführung in die Infinitesimalrechnung« (lateinische Ausgabe). (Arbelet.)

Am Abend nach der Prüfung, oder vielmehr am Abend des Tages, wo mein Name so ehrenvoll öffentlich angeschlagen wurde, ging ich im Stadtpark zwischen der Herkulesstatue und dem Gitter mit Bigillion und zwei oder drei andern Schulgefährten spazieren, die über meinen Triumph begeistert waren ... Nach unsrer Gewohnheit sagte ich philosophierend zu Bigillion:

»In solchen Augenblicken könnte man all seinen Feinden vergeben.«

»Im Gegenteil«, erwiderte er, »man muß an sie herangehen, um sie zu besiegen.«

Die Freude berauschte mich zwar etwas, und ich hielt verständige Reden, um sie zu verbergen, aber im Grunde zeigte diese Antwort die höchst niedrige Gesinnung Bigillions, der mehr Erdenwurm war als ich war, und meine spanische Ader, die ich leider zeitlebens behalten habe.

Ich sehe mich noch mit Bigillion und meinen Gefährten, wie wir den öffentlichen Anschlag mit dem Satz über mich lasen. Das Prüfungsprotokoll, von den Departementsmitgliedern unterzeichnet, war an der Tür des Konzertsaals angeschlagen.

Nach dieser glänzenden Prüfung ging ich nach Claix. Ich bedurfte unbedingt der Ruhe. Aber dort ergriff mich eine neue Unruhe: würde mein Vater mir das Geld zur Reise nach dem Mittelpunkt der Sittenlosigkeit mit sechzehneinhalb Jahren geben? Doch auch hier hat das Übermaß der Leidenschaft und der Erregung jede Erinnerung verwischt. Ich weiß durchaus nicht, wie meine Abreise vonstatten ging.

Mein Oheim schenkte mir zwei oder vier Louisdors, die ich aber zurückwies. Wahrscheinlich machten mir mein Großvater und meine Großtante Elisabeth Geschenke, aber ich habe das völlig vergessen.

Meine Abreise erfolgte in Begleitung eines Herrn Rosset, eines Bekannten meines Vaters, der nach Paris, seinem Wohnsitz, zurückkehrte. Ich muß hier etwas wenig Schönes berichten. Im Augenblick der Abreise, als ich auf den Wagen wartete, sagte mein Vater mir im Stadtgarten Lebewohl. Er weinte etwas. Der einzige Eindruck, den mir seine Tränen machten, war, daß ich ihn recht häßlich fand. Wenn der Leser mich verabscheut, so möge er an die hundert erzwungenen Spaziergänge nach Les Oranges zurückdenken, die mein Vater mit meiner Tante Seraphie »zu meinem Vergnügen« machte. Diese Heuchelei erbitterte mich am meisten, und deshalb habe ich dies Laster am meisten verabscheut.

Die Erregung hat mich jeder Erinnerung an meine Reise mit Herrn Rosset von Grenoble über Lyon nach Nemours beraubt. Es war Anfang November, denn in Nemours, zwanzig bis fünfundzwanzig Wegstunden von Paris, erfuhren wir die Ereignisse des 18. Brumaire (9. November 1799), die am Tage zuvor stattgehabt hatten. Ich begriff nicht viel davon und war entzückt, daß der junge Bonaparte sich zum König von Frankreich machte ...

Meine fixe Idee bei der Ankunft in Paris, eine Idee, auf die ich vier- bis fünfmal am Tage zurückkam, wenn ich ausging, bei Dunkelwerden, in jener Stunde der Träumerei, war, daß eine hübsche Pariserin, weit schöner als Fräulein Kably oder meine arme Viktorine, in meiner Nähe mit dem Wagen umschlug oder in eine große Gefahr geriet, aus der ich sie rettete, und daß ich dafür ihr Geliebter wurde. Ich hätte sie so überschwenglich geliebt, daß ich sie finden mußte!

Diese nie eingestandene Torheit hat vielleicht sechs Jahre angehalten. Erst die Reizlosigkeit der Damen des Braunschweiger Hofes, unter denen ich im November 1806 debütierte, heilte mich etwas davon.


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