Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Achtes Kapitel

Nach meiner Rückkehr nach Paris, etwa im Monat Dezember, nahm ich wieder mehr Anteil an Menschen und Dingen. Heute sehe ich das Warum. Es war, weil ich unabhängig von dem, was ich in Mailand zurückgelassen, auch anderswo etwas Glück oder doch Vergnügen finden konnte. Das Vergnügen war das Häuschen der Miß Appleby.

Aber ich war nicht vernünftig genug, mein Leben systematisch einzurichten. Der Zufall leitete stets meine Beziehungen. Hier ein Beispiel dafür:

In Neapel war einmal ein Kriegsminister namens Michevaux, ein armer Berufsoffizier, ich glaube aus Lüttich. Seinen beiden Söhnen hinterließ er Pensionen vom Hofe; in Neapel rechnet man auf die Gnade des Königs wie auf ein Erbteil. Der Chevalier Alexander MinioriniOffenbar einer dieser Söhne, den Stendhal so nennt. speiste an der Wirtstafel in der Rue de Richelieu. Er war ein hübscher Junge von dem phlegmatischen Wesen eines Holländers und von Kummer verzehrt.

Während der Revolution von 1820 lebte er friedlich als Royalist in Neapel. Der Kronprinz Francesco,Franz I. (1777-1830), seit 1825 König beider Sizilien. Er stand ganz unter österreichischem Einfluß. später der verachteteste König, war Regent und sein besonderer Beschützer. Er ließ ihn rufen und bat ihn, den Gesandtschaftsposten in Dresden anzunehmen, an dem aber dem phlegmatischen Miniorini gar nichts lag. Da er jedoch einer Königlichen Hoheit und einem Thronerben nicht mißfallen wollte, ging er nach Dresden. Alsbald verbannte Francesco ihn und verurteilte ihn zum Tode oder entzog ihm doch die Pension.

Ohne Geist und Anlage für irgend etwas, wurde der Chevalier sein eigner Henker. Er arbeitete lange Zeit achtzehn Stunden täglich wie ein Engländer, um Maler, Musiker, Metaphysiker, Gott weiß was, zu werden. Von dieser Gewaltarbeit war ihm die Fähigkeit geblieben, hervorragend auf dem Klavier zu begleiten, auch ein ziemlicher Musikverstand und Geschmack. Wenn er aber Ideen entwickeln wollte, verfiel sein schwacher, verbildeter Geist auf die lächerlichsten Torheiten. Übrigens habe ich nie etwas Poetischeres und Widersinnigeres gesehen als die italienischen Liberalen oder Karbonari, die von 1821 bis 1830 die liberalen Salons von Paris bevölkerten.

Eines Abends nach dem Essen ging Miniorini in sein Zimmer hinauf. Als er nach zwei Stunden nicht zum Kaffee erschien, gingen wir zu ihm hinauf. Er litt an der Wurmkrankheit. Die Schmerzen hatten sich nach dem Essen verdoppelt; dieser phlegmatische, schwermütige Mensch hatte alles Elend durchgemacht, auch die Geldnot. Der Schmerz hatte ihn überwältigt. Ein anderer hätte Selbstmord begangen; er wäre zufrieden gewesen, wenn er aus seiner Ohnmacht nicht erwacht wäre. Wir brachten ihn mit großer Mühe wieder zu sich.

Sein Schicksal rührte mich, vielleicht ein wenig aus der Überlegung: das ist doch ein Mensch, der noch unglücklicher ist als ich. Lolot lieh ihm 500 Franken, die er ihm zurückgezahlt hat. Am nächsten Tage stellten Mareste und ich ihn der Pasta vor. Acht Tage darauf merkten wir, daß er ihr Busenfreund war. Es gab nichts Kälteres und Vernünftigeres als das Beieinander dieses Paares. Ich habe sie vier bis fünf Jahre täglich zusammen gesehen. Hätte mich ein Zauberer mit Unsichtbarkeit begabt, ich glaube, ich hätte feststellen können, daß sie kein Liebesverhältnis miteinander hatten, sondern nur von Musik sprachen. Ich bin überzeugt, daß Frau Pasta, die acht bis zehn Jahre in Paris gelebt hat und dreiviertel dieser Zeit in Mode war, nicht einen französischen Liebhaber hatte.

Zu der Zeit, wo wir Miniorini bei ihr einführten, kam der schöne General Lagrange allabendlich drei Stunden zu ihr und saß neben ihr auf ihrem Sofa. Er langweilte uns. Dieser General hatte früher den Apollo oder den schönen befreiten Spanier bei den Balletten des kaiserlichen Hofes gespielt. Ich sah die Königin Karoline Marat und die göttliche Prinzessin Borghese in Indianerkostümen mit ihm tanzen. Er war einer der inhaltlosesten Menschen der guten Gesellschaft, und das will gewiß viel sagen.

Der Chevalier Miniorini hatte elegante, fast gewählte Manieren. In dieser Hinsicht war er das grade Gegenteil von Mareste und selbst von Lolot, der doch nur ein guter Provinzler war, der zufällig Millionen verdient hatte. Miniorinis elegantes Benehmen knüpfte das Band zwischen uns. Ich merkte bald, daß er eine völlig kalte Seele besaß. Er hatte die Musik gelernt, wie ein Akademiker Persisch lernt oder doch so tut. Er hatte gelernt, dies und jenes Musikstück zu bewundern; das erste bei einem Ton war stets seine Richtigkeit, bei einem Satz die Korrektheit. In meinen Augen ist das erste bei weitem der Ausdruck und bei aller Schwarzkunst der Vers Boileaus:

»Ob gut, ob schlecht, mein Vers hat was zu sagen.«

Da das Verhältnis zwischen Miniorini und der Pasta immer enger wurde, zog ich in den dritten Stock des Hotel des Lillois, dessen ersten und zweiten Stock die liebenswürdige Frau bewohnte. Sie hatte in meinen Augen keinen Makel noch Fehler, einen schlichten, gleichmäßigen, gerechten, natürlichen Charakter und dazu das größte Talent zur Tragödie, das ich je gesehen habe. Anfangs begehrte ich, der ich sie so sehr bewunderte, ihre Liebe. Heute erkenne ich, daß sie zu kalt, zu vernünftig, zu wenig töricht und zärtlich war, als daß ein solches Liebesverhältnis hätte andauern können. Es wäre meinerseits nur ein Abenteuer gewesen, und in gerechter Entrüstung darüber hätte sie mit mir gebrochen. Es ist also besser, daß unsere Beziehungen sich meinerseits auf die heiligste, hingebendste Freundschaft und ihrerseits auf ein ähnliches Gefühl mit seinen Höhen und Tiefen beschränkten.

Miniorini, der etwas Angst vor mir hatte, bedachte mich mit zwei bis drei kräftigen Verleumdungen, die ich aber völlig ignorierte. Ich nehme an, daß Frau Pasta nach sechs oder acht Monaten sagte: Das ist ja Unsinn! Doch es bleibt stets etwas hängen, und so hat unsere Freundschaft sich nach sechs bis acht Jahren etwas abgekühlt. Über Miniorini habe ich mich nie im geringsten aufgeregt. Und ich nehme an, daß die Giuditta, wie wir sie auf Italienisch nannten, ihm bisweilen kleine Summen lieh, um ihn vor der ärgsten Armut zu bewahren.

Ich besaß damals nicht viel Esprit, und doch hatte ich Neider. Herr Perret, der Spion des Tracyschen Hauses, erfuhr von meinem Freundschaftsverhältnis zur Pasta: diese Art Leute erfährt von ihresgleichen ja alles. Er hinterbrachte es den Damen in der Rue Anjou in der häßlichsten Weise, und die ehrbarste Frau, der jeder Gedanke an ein Verhältnis fernlag, verzieh mir das Verhältnis mit einer Schauspielerin nie. Selbst der alte Philosoph de Tracy verzieh es mir nicht.

Ich bin lebhaft, leidenschaftlich, toll, bis zum Übermaß aufrichtig in der Freundschaft wie in der Liebe bis zur ersten Entfremdung. Dann gehe ich von der Torheit des Sechzehnjährigen unmittelbar zum Machiavellismus des Fünfzigjährigen über, und nach acht Tagen ist nichts mehr übrig als schmelzendes Eis und völlige Kälte. Das ist mir noch kürzlich, im Mai 1832, mit Lady Angelina begegnet.

Ich wollte im Tracyschen Kreise mein ganzes Herz hingeben, als ich die erste Kälte verspürte. Von 1821 bis 1830 war ich dort nur kühl und machiavellistisch, das heißt völlig vorsichtig. Noch sehe ich die abgerissenen Fäden verschiedener Freundschaften, die sich damals in der Rue d'Anjou anspannen. Die treffliche Gräfin de Tracy, die nicht mehr geliebt zu haben ich mir bitter vorwerfe, zeigte mir diesen Anflug von Kälte zwar nicht, und ich hatte nach meiner Rückkehr aus England ein Bedürfnis nach Offenherzigkeit und ehrlicher Freundschaft zu ihr. Aber es kühlte sich lediglich aus Überlegung ab, denn ich war entschlossen, dem ganzen übrigen Kreis des Salons gegenüber kalt berechnend zu sein.

In Italien hatte ich für die Oper geschwärmt. Die holdesten Augenblicke meines Lebens habe ich zweifellos im Theater verlebt. In der Scala in Mailand war ich überglücklich gewesen. Als ich zehn Jahre alt war, verhinderte mein Vater, der alle Vorurteile der Religion und der Aristokratie besaß, mit Gewalt, daß ich Musikunterricht erhielt. Mit sechzehn Jahren lernte ich nach und nach Violine spielen, singen und die Klarinette spielen. Nur auf diesem Instrument gelang es mir, Töne hervorzubringen, die mir Freude machten. Mein Lehrer, ein schöner Deutscher, namens Hoffmann, ließ mich zärtliche Kantilenen spielen. Wer weiß? Vielleicht kannte er Mozart, der damals (1797) eben gestorben war. Aber damals hatte sich dieser große Name mir noch nicht offenbart.

Eine große Leidenschaft für die Mathematik trat dazwischen. Sie währte zwei Jahre. Als ich dann in Paris (1799) Musik studieren wollte, erkannte ich, daß es zu spät war. Meine Leidenschaft ließ in dem Maße nach, als ich einige Kunstfertigkeit erlangte. Die Töne, die ich hervorbrachte, erregten mein Grauen, ganz im Gegensatz zu so vielen ausübenden Musikern vierten Ranges, die ihr kleines Talent nur der Unerschrockenheit verdanken, womit sie sich des Morgens selbst die Ohren zerreißen. Aber sie zerreißen sie sich gar nicht...

Genug, ich habe für Musik geschwärmt, zu meinem Glück von 1806 bis 1810 in Deutschland und von 1814 bis 1821 in Italien. Dort konnte ich mit dem alten Mayr,Simon Mayr aus Ingolstadt (1763-1845) war seit 1802 Kapellmeister in Bergamo. dem jungen Pacini,»Ein Komponist zweiten Ranges, der sich mit Rossinis Federn schmückt« (»Reise in Italien«, S. 402). Giovanni Pacini aus Catania (1796-1867) hat 90 Opern und 35 Oratorien und Kantaten geschrieben. mit Komponisten über Musik disputieren. Die ausübenden Künstler dagegen, der Marchese Caraffa, die Viscontini in Mailand, fanden, daß ich nichts davon verstand. Das ist etwa, als spräche ich heute mit einem Unterpräfekten über Politik.

Graf Daru, ein Literat vom Scheitel bis zur Sohle, ein würdiges Mitglied der blöden Akademie von 1828, war tief erstaunt, daß ich eine Seite schreiben könnte, die irgendeinem Menschen Genuß bereitete. Eines Tages kaufte er bei Delauney, der es mir erzählt hat, ein kleines Werk von mir, das vergriffen war und daher 40 Franken kostete. Sein Erstaunen, sagte der Buchhändler, war zum Totlachen.

»Was, 40 Franken?«

»Jawohl, Herr Graf, aus Gefälligkeit. Sie täten mir einen Gefallen, wenn Sie es zu diesem Preise nicht nähmen.«

»Ist's möglich!« sagte der Akademiker, gen Himmel blickend. »Dies Kind, unwissend wie ein Karpfen!«

Er meinte es ganz ehrlich. Wenn unsere Antipoden den Mond anschauen, der bei uns im ersten Viertel steht, sagen sie: »Welche herrliche Helle! Fast Vollmond!« Der Graf Daru, Mitglied der französischen Akademie und der Akademie der Wissenschaften usw. usw., und ich betrachten die Natur, das Menschenherz usw. von entgegengesetzten Seiten.

Auch der Chevalier Miniorini, dessen hübsches Zimmer neben dem meinen im zweiten Stock des Hotel des Lillois lag, faßte es nicht, daß ein Mensch mir zuhören könnte, wenn ich von Musik sprach. Grenzenlos war sein Erstaunen, als er hörte, daß ich ein Buch über Haydn geschrieben hätte.S. Seite 398, Anm. 3, Seite 424, Anm. 1. Er fand dies Buch zwar ganz gut, wenn auch »zu metaphysisch«, wie er sagte, aber daß ich es hätte schreiben können, ich, der ich keinen Septimakkord auf dem Klavier anschlagen konnte, darüber riß er die Augen weit auf. Und er hatte sehr schöne Augen, wenn zufällig etwas Ausdruck darin lag.

Dies Erstaunen, das ich etwas lang und breit geschildert habe, fand ich mehr oder weniger bei allen, mit denen ich mich unterhielt, bis zu der Zeit (1827), wo ich mir Mühe gab, geistreich zu sein.

Ich bin wie eine ehrbare Frau, die sich prostituiert. Immerfort muß ich die Scham des anständigen Mannes bekämpfen, der sich scheut, von sich selbst zu reden. Und doch besteht dies Buch aus nichts anderem. Ich sah eine andre Schwierigkeit voraus, nämlich den Mut zur Wahrheit zu finden, aber das ist das Mindeste.

Einzelheiten aus jener zurückliegenden Zeit fehlen mir ziemlich. Wenn ich mich dem Zeitabschnitt von 1826 bis 1830 nähere, werde ich weniger trocken und wortreich sein. Damals zwang mein Unglück mich, geistreich zu sein; ich entsinne mich alles dessen, als wäre es gestern.

Infolge einer unglücklichen physischen Anlage, dank deren ich für einen schlechten Franzosen galt, gewinne ich dem Gesang auf französischen Musikbühnen nur sehr schwer Genuß ab. Trotzdem war für mich wie für alle meine Freunde im Jahre 1821 die Opera buffa eine große Sache. Frau Pasta sang dort im »Tankred«, im »Othello«,Opern von Rossini (1813 und 1816). in »Romeo und Julia« in einer Weise, die nicht nur unvergleichlich war, sondern auch von den Komponisten dieser Opern nie vorausgesehen worden ist.

Talma, den die Nachwelt vielleicht sehr hoch stellen wird, besaß die Seele des Tragikers, war aber so dumm, daß er in die lächerlichsten Geziertheiten verfiel. Ich vermute, daß er außer seinem völligen Mangel an Geist auch jene Empfindsamkeit besaß, die zum Erfolg unerläßlich ist und die ich nach großer Mühe auch bei dem bewundernswürdigen, liebenswerten Béranger wiederfand.

Talmas Erfolg beruhte anfangs auf seiner Kühnheit. Er hatte den Mut zu Neuerungen, den einzigen, der in Frankreich erstaunlich ist. Neu war er in Voltaires »Brutus« und bald darauf in jener elenden Nachahmung, in »Karl IX.« von Chénier.Joseph Marie Chénier (1764–1811), der Bruder des 1794 guillotinierten Dichters André Chénier. Ein alter, sehr schlechter Schauspieler, den ich kannte, der langweilige royalistische Naudet, war über die Neuerungssucht des jungen Talma derart empört, daß er ihn mehrfach zum Duell forderte. Ich weiß nicht, ob Talma wirklich die Absicht und den Mut zu Neuerungen hatte; wie ich ihn kenne, stand er weit darunter.

Trotz seiner groben, gekünstelten Stimme und des ebenso unerquicklichen gezierten Verdrehens seiner Hände blieb einem in Frankreich, wenn man sich von den schönen tragischen Gefühlen im dritten Akt von Ducis' »Hamlet« oder den schönen Szenen im letzten Akt der »Andromache« rühren lassen wollte, doch nichts anderes als Talma zu sehen. Er besaß die Seele des Tragikers in erstaunlichem Maße. Hatte er dazu einen schlichten Charakter und den Mut gehabt, jemanden um Rat zu fragen, so wäre er weiter gekommen und hätte so erhaben sein können wie Monvel als Augustus (im »Cinna«). Ich rede hier nur von Dingen, die ich gesehen habe, und zwar gut oder doch sehr genau. Ich war ein leidenschaftlicher Liebhaber des Théâtre français.

Zum Glück für Talma begriff Frau von Staël, die sich auf die Kunst des Erfolges in Paris ebenso wie einer ihrer Liebhaber, der Fürst von Talleyrand, hervorragend verstand, daß sie dabei gewann, wenn sie Talmas Erfolg, der damals allgemein zu werden begann und durch seine Dauer mehr als bloße Mode wurde, ihren Segen gab. Diese beredte Frau übernahm es also, den Dummköpfen beizubringen, in welchen Ausdrücken sie von Talma zu reden hatten. Man kann sich denken, daß der Schwulst nicht gespart wurde; Talmas Name bekam europäischen Klang. Seine schauderhafte Geziertheit wurde den Franzosen, einem Heidenvolk, immer schädlicher. Ich bin kein Herdentier und somit nichts.

Die unbestimmte, schicksalsvolle Schwermut, wie im »Ödipus«, wird nie einen mit Talma vergleichbaren Darsteller finden. Im »Manlius«Von La Fosse, IV. Akt, 4. Szene. war er ein echter Römer. Die Worte »Connais-tu bien la main de Rutile?« und »Tiens, lis« waren göttlich, weil sie den abscheulichen Singsang des Alexandriners ausschlossen. Welche Keckheit gehörte dazu, so etwas im Jahre 1805 auch nur zu denken. Noch heute (1832), wo die beiden Idole gestürzt sind, zittre ich bei der Niederschrift solcher Blasphemien. Und doch sagte ich 1805 voraus, was heute eintreffen würde, und der Erfolg erstaunt und verblüfft mich.

Aber bei seinem singenden Vortrag, seiner groben Stimme, dem Verdrehen seiner Handgelenke und seinem gezierten Gange konnte ich Talma nicht fünf Minuten mit Genuß sehen. Immerfort mußte ich auswählen, und das ist der Tod der Einbildungskraft. Vollkommen war bei Talma nur der Kopf und der »Blick ins Leere«. Ich komme auf dies große Wort noch zurück bei den Madonnen von Raffael und bei Fräulein Virginie de Lafayette, der späteren Frau Périer, die diese Schönheit zum Stolz ihrer Großmutter, der Gräfin de Tracy, in höchstem Maße besaß. Diesen schönen Blick, der soviel Seele verrät (ein halbes Nach-Innen-Gekehrtsein, sobald die Aufmerksamkeit nicht notgedrungen durch einen bedeutsamen Vorgang in der Außenwelt abgelenkt wird), verdankte Talma seiner Kurzsichtigkeit.

Das Tragische, das mir zusagte, fand ich bei Kean und betete ihn an. Er erfüllte mir Augen und Herz. Ich sehe ihn noch vor mir als Richard und Othello.

Aber das Tragische an einer Frau, für mich das Rührendste, fand ich rein, vollkommen und ungemischt nur bei Frau Pasta. Zu Hause war sie still und unempfindlich, aber bei der Heimkehr lag sie stundenlang weinend auf einem Diwan und hatte Nervenanfälle. Immerhin ging dies tragische Talent mit dem musikalischen Hand in Hand, und die Wirkung auf das Ohr vollendete die auf das Auge. Frau Pasta blieb lange, oft zwei, drei Sekunden in der gleichen Pose: erleichterte oder erschwerte das den Erfolg? Ich habe oft darüber nachgesonnen und neige zu der Ansicht, daß das notgedrungene lange Ausharren in einer Stellung weder eine Erleichterung noch eine Erschwerung ist. Doch es blieb für ihre Seele die Schwierigkeit, auf ihren Gesang aufzupassen.

Miniorini, Mareste, di Fiore, Sutton SharpeEin englischer Freund Stendhals (1797-1843), Advokat. Vgl. Doris Gunnel, »Stendhal et L'Angleterre«, S, 17 ff. und ein paar andre, durch die Bewunderung für die gran donna zusammengeführt, stritten sich mit mir ewig über die Art ihres Spiels in der letzten Vorstellung des »Romeo« und über die Dummheiten der armen französischen Literaten bei dieser Gelegenheit. Mußten sie doch eine Meinung über etwas dem französischen Charakter so Widersprechendes wie die Musik haben.

Der Abbé Geoffroy,Julien Louis Geoffroy (1743-1814), berühmter Kritiker. bei weitem der geistreichste und gelehrteste Journalist, nannte Mozarts Kunst frei heraus Katzenmusik. Er meinte es ehrlich so: er begriff nur Grétry und Monsigny, die er gelernt hatte. Geneigter Leser, verstehe dies Wort wohl: es ist die Geschichte der französischen Musik...

In einer Hinsicht war das Talent der Pasta geringer [als das Talmas]. Es fiel ihr nicht schwer, eine große Seele darzustellen: sie besaß sie selbst. So war sie geizig oder, wenn man will, sparsam aus Vernunft, da sie einen verschwenderischen Gatten hatte. Und doch ließ sie in einem Monat 200 Franken an arme italienische Flüchtlinge verteilen. Dabei waren recht unerfreuliche Leute darunter, die einem das Wohltun verleiden konnten, so ein Priester aus Modena, namens Giannone, dem Gott vergeben möge. Welchen Blick hatte der!

Di Fiore, der 1799 in NeapelIn den Revolutionswirren. mit achtundzwanzig Jahren zum Tode verurteilt worden war, übernahm es, die Unterstützungen der Pasta gerecht zu verteilen. Er allein wußte darum und hat es mir erst viel später im Vertrauen erzählt. Die Königin von Frankreich ließ heute (Juni 1832) eine Spende von 70 Franken an eine alte Frau in die Zeitung einrücken.


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