Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Achtzehntes Kapitel

Die Belagerung von Lyon und Toulon. Seraphies Tod

Die Belagerung von Lyon versetzte ganz Südfrankreich in Aufregung. Ich war für Kellermann und die Republikaner, meine Verwandten für die Emigrierten und für Précy.Ihren Leiter, Herrn de Précy, habe ich in Braunschweig 1806-09 gut gekannt. Er war mein erstes Muster eines Mannes der guten Gesellschaft nach Herrn de Tressan in meiner ersten Jugend. (Anm. Stendhals.) Unser Vetter Senterre, der Neffe dessen, der in Lyon kämpfte, kam täglich zweimal ins Haus. Er war bei der Briefpost angestellt und brachte beständig sechs bis sieben Zeitungen mit, die er den Bestellern für zwei Stunden vorenthielt, um unsre Neugier zu befriedigen. Oft standen Nachrichten aus Lyon darin. Da es im Sommer war, tranken wir unsern Morgenkaffee in dem Naturalienkabinett auf der Terrasse. Dort habe ich vielleicht den größten Überschwang an Vaterlandsliebe und an Haß auf die Aristokraten (die Legitimisten von 1835) und die vaterlandsfeindlichen Priester empfunden.

Abends trat ich allein auf die Terrasse und horchte, ob ich den Kanonendonner von Lyon hörte. Die Stadt wurde am 9. Oktober 1793 genommen. Es war also im Jahre 1793, als ich zehn Jahre war und auf den Kanonendonner lauschte. Aber ich hörte ihn nie. Voller Neid blickte ich nach dem Berg von Méaudre, von wo man ihn vernahm. Aber diesen Wunsch durfte ich nicht äußern.

Auch die Belagerung von Toulon regte mich in jenem Sommer sehr auf. Selbstverständlich billigten meine Verwandten die Verräter, die die Stadt (an die Engländer) auslieferten; nur meine Großtante Elisabeth in ihrem kastilischen Stolze sagte zu mir... [Lücke]. Ich sah den General Cartaud abmarschieren. Er hielt auf der Place Grenette eine Parade ab. Ich sehe noch seinen Namen auf den Trainwagen, die langsam durch die Rue Montorge rasselten.Bonaparte eroberte Toulon am 19. Dezember 1793.

Vielleicht hätte ich diese Einzelheiten früher anführen müssen, aber ich wiederhole es, für meine Kindheit habe ich nur deutliche Erinnerungsbilder, ohne Datum und ohne Physiognomie. Ich schreibe sie hin, wie sie mir einfallen. Ich beanspruche durchaus nicht, ein Geschichtsbuch zu schreiben. Ich will einfach meine Erinnerungen aufzeichnen, um zu erraten, was für ein Mensch ich war: dumm oder geistvoll, feig oder tapfer.

Ein großes Ereignis trat für mich ein. Es machte mir im Augenblick großen Eindruck, aber er kam zu spät. Jedes Band der Freundschaft zwischen mir und meinem Vater war für immer zerrissen und mein Abscheu vor dem bürgerlichen Leben und Grenoble nicht mehr auszurotten.

Meine Tante Seraphie war seit lange krank. Schließlich sprach man von Lebensgefahr. Es war meine Freundin Marion, die dies große Wort aussprach. Die Gefahr nahm zu; die Priester kamen herbei.

Eines Abends im Winter, glaube ich, war ich um sieben Uhr in der Küche. Jemand kam herein und sagte: »Sie ist hingegangen.« Ich sank auf die Knie um Gott für diese große Befreiung zu danken. Wenn die Pariser um 1880 noch so albern sind wie im Jahre 1835, wird ihnen diese Art, den Tod der Schwester meiner Mutter aufzufassen, barbarisch, grausam, abscheulich vorkommen. Wie dem aber auch sei, wahr ist es doch.

Nach der ersten Woche der Totenmessen und Gebete atmete alles im Hause auf. Ich glaube, selbst mein Vater war froh, von dieser teuflischen Geliebten (wenn sie es war) oder dieser teuflischen Herzensfreundin befreit zu sein. Eine ihrer letzten Handlungen war, daß sie eines Abends, als ich auf der Kommode meiner Großtante Elisabeth die »Henriade«Von Voltaire. oder den »Belisar«Von Marmontel (1767). las, den mein Großvater mir geliehen hatte, in die Worte ausbrach: »Wie kann man diesem Kinde solche Bücher geben! Wer hat ihm das Buch gegeben?« Auf diesen unverschämten Vorwurf seiner Tochter antwortete mein Großvater nur achselzuckend: »Sie ist krank.« Das Datum ihres Todes habe ich völlig vergessen.Es war der 9. Januar 1797.

Ich glaube, daß ich bald danach auf die Zentralschule kam, etwas, das Seraphie nie geduldet hätte. Das war, glaube ich, um 1797.Die Zentralschule wurde am 21. November 1796 eröffnet, also vor Seraphies Tode. Ich war nur drei Jahre auf der Zentralschule.


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