Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Dreißigstes Kapitel

Schmerzliche Enttäuschung

Rom, 2. bis 3. Februar 1836.

Wie man gestehen muß, war der Sturz tief, furchtbar. Und das bei einem Jüngling von sechzehneinhalb Jahren mit einer der leidenschaftlichsten und unvernünftigsten Seelen, die ich kenne! Ich traute keinem mehr ... Mein einziger Halt war mein Menschenverstand und mein Glaube an Helvétius und sein Buch »Vom Geist«. Ich sage Glaube, denn da ich unter einer Glasglocke erzogen und durch den Besuch der Zentralschule kaum selbständig geworden war, konnte Helvétius für mich nur eine Prophezeiung dessen sein, was mir bevorstehen mußte. Ich traute dieser Prophezeiung, denn zwei bis drei kleine Vorhersagen waren bei meiner so kurzen Erfahrung in Erfüllung gegangen ...

Auf den Straßen von Paris war ich ein leidenschaftlicher Träumer, der in den Himmel blickte und stets Gefahr lief, von einem Wagen überfahren zu werden. Kurz, ich besaß keine Lebensgewandtheit, und so nahmen mich auch andre nicht voll. Die Erkenntnis meines Zustandes hätte Lebensgewandtheit vorausgesetzt. Die Brüder Monval, meine Schulgefährten, die ich in Paris auf der Polytechnischen Hochschule wiederfand, wo sie seit Jahresfrist waren, gaben mir zwar wohlweise Ratschläge, wie ich mich täglich nicht um ein bis zwei Sous betrügen lassen sollte, aber ihre Ideen widerten mich an. Sie mußten mich für einen Trottel auf dem Wege zum Irrenhaus halten. Allerdings drückte ich meine Gedanken aus Hochmut kaum aus. Mir scheint, daß die Monvals oder andere Schüler, die seit Jahresfrist in Paris waren, mir mein Zimmer und meinen Arzt billig besorgt hatten.

Im Kreise dieser Freunde oder vielmehr dieser vernünftigen Jungen, die sich mit ihrem Wirt täglich um drei Sous zankten, lebte ich in ungewollten Ekstasen und endlosen Träumereien ... Ich war dauernd tief erregt. Was sollte ich denn noch lieben, da Paris mir mißfiel? Ich antwortete mir: »Eine reizende Frau, die zehn Schritt von mir hinfällt. Ich werde sie aufheben und wir werden uns anbeten. Sie wird meine Seele verstehen und sehen, wie verschieden ich von den Monvals bin.«

Diese Antwort gab ich mir allen Ernstes zwei- bis dreimal am Tage, besonders bei Anbruch der Nacht, der für mich noch häufig ein Augenblick zärtlicher Rührung ist. Dann umarme ich meine Geliebte mit Tränen in den Augen, wenn ich eine habe.

Ich war dauernd erregt. Darf ich es zu sagen wagen? Aber vielleicht ist es falsch: ich war ein Dichter. Nicht zwar wie der liebenswürdige Abbé Delille, den ich ein paar Jahre später kennen lernte, aber wie Tasso, ein Hundertstel von Tasso: man verzeihe mir meinen Dünkel! Im Jahre 1799 war ich nicht so dünkelhaft; konnte ich doch keinen Vers machen. Erst seit vier Jahren sage ich mir, daß ich 1799 beinahe ein Dichter war. Mir fehlte nur die Kühnheit zu schreiben, nur ein Mittel für mein Genie, sich zu entladen. Erst Dichter und nun Genie; Verzeihung für diese Kleinigkeit!

»Seine Empfindsamkeit ist allzu rege geworden; was die andern nur berührt, verletzt ihn bis aufs Blut.« So war ich 1799, so bin ich noch im Jahre 1836, aber ich habe gelernt, das alles unter der Maske der Ironie zu verbergen, die der große Haufe nicht merkt, die aber di Fiore richtig durchschaut hat.

»Zuneigung und Zärtlichkeit sind bei ihm gewaltsam und maßlos, seine Begeisterungsausbrüche führen ihn irr; sein Mitgefühl ist allzu lebhaft; die, welche er bedauert, leiden weniger als er selbst.«

Das trifft buchstäblich auf mich zu. Was mich jedoch von jenen aufgeblasenen Tröpfen unterscheidet, die »ihr Haupt wie eine Monstranz tragen«, ist, daß ich nie geglaubt habe, die Gesellschaft sei mir das Geringste schuldig. Vor dieser gewaltigen Torheit hat mich Helvétius gerettet. Die Gesellschaft bezahlt nur sichtbare Verdienste. Tassos Irrtum und Unglück war es, sich zu sagen: »Wie, dies ganze reiche Italien kann seinem Dichter nicht einen Jahressold von 200 Zechinen zahlen?« Das habe ich in einem seiner Briefe gelesen.

Tasso, der Helvétius nicht kannte, sah nicht ein, daß die hundert Menschen, die von zehn Millionen eine Schönheit verstehen, die keine Nachahmung oder Vollendung der vom großen Haufen bereits begriffenen Schönheit ist, zwanzig bis dreißig Jahre brauchen, um die zwanzig nach ihnen empfänglichsten Seelen davon zu überzeugen, daß diese neue Schönheit wirklich schön ist. Eine Ausnahme tritt nur ein, wenn der Parteigeist sich einmischt. So hat Lamartine in seinem Leben wohl zweihundert schöne Verse gemacht. Als die Ultras 1818 als dumm bezichtigt wurden, rühmte ihre verletzte Eitelkeit das Dichterwerk eines Adligen mit dem Ungestüm eines stürmischen Sees, der seine Dämme durchbricht.

Ich hatte also nie den Gedanken, daß die Menschen ungerecht gegen mich wären. Höchst lächerlich finde ich das Unglück all unsrer sogenannten Dichter, die sich von diesem Gedanken nähren, und den Zeitgenossen des Cervantes und Tasso Vorwürfe machen.

Mir scheint, daß mein Vater mir damals 100 oder 150 Franken monatlich gab. Das war ein Schatz. Ich dachte nicht im entferntesten daran, daß es mir an Geld fehlen könne, und somit überhaupt nicht an Geld. Was mir fehlte, war ein liebendes Herz, war ein Weib. Die Dirnen ekelten mich an. Was wäre einfacher gewesen als es wie heute zu machen: mir ein hübsches Mädel aus der Rue des Moulins für einen Louisdor zu nehmen? Aber das Lächeln eines liebenden Herzens! Aber der Blick von Victorine Bigillion!

All die lustigen Mordsgeschichten von der Habgier und Verderbtheit der Dirnen, die ich von den Mathematikstudierenden hörte, die Freundesstatt an mir vertraten, erregten bei mir ein Gefühl der Übelkeit ... Ein Freundesherz fehlte mir. Herr Rosset lud mich manchmal zum Essen ein, Herr Daru wohl auch, aber diese Menschen standen meinen Überschwenglichkeiten so fern, ich war aus Eitelkeit so schüchtern, besonders Frauen gegenüber, daß ich nichts sagte.

Oft träumte ich überschwenglich von unsern Dauphineser Bergen und dachte zärtlich an Victorine Bigillion zurück, aber ich war fest überzeugt, daß eine junge Pariserin ihr hundertmal überlegen sei. Trotzdem hatte mir Paris beim ersten Anblick im höchsten Maße mißfallen. Diese tiefe Mißstimmung, diese Ernüchterung im Verein mit einem schlechten Arzte machten mich wohl ziemlich krank. Ich konnte nichts mehr essen.

Plötzlich sehe ich mich in einem Dachstübchen im dritten Stock der Rue du Bac. Ich muß wohl recht krank gewesen sein, denn Herr Daru ließ den berühmten Dr. Portal holen, dessen Gesicht mich entsetzte. Er sah aus, als stände er vor einem Leichnam. Ich bekam eine Krankenpflegerin, etwas ganz Neues für mich. Später erfuhr ich, daß ich Brustfellentzündung gehabt hatte. Ich bekam das Delirium und lag drei bis vier Wochen zu Bette ...

Nach meiner Genesung sehe ich mich plötzlich in einem Zimmer im zweiten Stock des Daruschen Hauses in der Rue de Lille. Dies Zimmer hatte Aussicht auf vier Gärten, es war ziemlich groß, etwas dachstubenmäßig. Mir sagte es sehr zu. Ich nahm ein Heft, um Komödien zu schreiben. Damals, glaube ich, wagte ich zu Cailhava zu gehen, um mir seine »Lustspielkunst«»L'Art de la Comédie«, 1772. zu kaufen, die ich bei keinem Buchhändler fand. Ich glaube, ich fand den alten Knaben in einem Zimmer des Louvre. Er sagte mir, sein Buch sei schlecht geschrieben, was ich tapfer bestritt. Er muß mich für verrückt gehalten haben.

Ich habe in diesem elenden Machwerk nur einen Gedanken gefunden, und der war nicht von Cailhava, sondern von Bacon. Aber ist es schon nicht etwas, einen Gedanken in einem Buche zu finden? Mein leidenschaftliches Verhältnis zur Mathematik hat mir eine tolle Vorliebe für gute Definitionen beigebracht, ohne die es in allen Dingen nur ein Ungefähr gibt.


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