Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Vierzehntes Kapitel

Unterricht im Zeichnen. Der Jakobinerklub

Rom, 17. Dezember 1835.

Meine Mutter besaß ein seltnes Zeichentalent, wie in der Familie erzählt wurde. »Ach! wie schön zeichnete sie!« seufzte man tief. Dann folgte ein langes, trübes Schweigen. Tatsächlich war der Unterricht im Zeichnen in Grenoble vor der Revolution, die in diesen zurückgebliebenen Gegenden alles veränderte, ebenso lächerlich wie der lateinische. Zeichnen hieß mit einem Rötelstift schöne gleichlaufende Striche ziehen wie auf einem Kupferstich; auf die Umrisse gab man wenig acht. Oft fand ich große Köpfe in Rötelzeichnung, die von meiner Mutter stammten.

Mein Großvater benutzte diesen allmächtigen »Vorgang«, und trotz Seraphies Einspruch bekam ich Zeichenunterricht bei Herrn Le Roy. Das war ein großer Gewinn. Da Le Roy im Teissièreschen Hause vor dem großen Portal des Jakobinerklosters wohnte,Jetzt Place Grenette 5. ließ man mich nach und nach allein zu ihm hingehen und vor allem heimkehren ... Ich begriff, daß ich bei schnellem Gehen, denn man zählte die Minuten und Seraphies Fenster ging just auf die Place Grenette, einen Umweg über die Place des Halles machen konnte. Ich sollte Le Roys Haus um halb vier oder vier Uhr (eins von beiden) verlassen und mußte fünf Minuten darauf zurück sein. Le Roy oder vielmehr seine Frau, ein Teufelsweib von fünfunddreißig Jahren, sehr pikant und mit schönen Augen, war besonders beauftragt – wahrscheinlich unter der Androhung, einen gut zahlenden Schüler zu verlieren –, mich erst um dreiviertel vier Uhr fortzulassen. Beim Hinweg aber hielt ich mich oft eine ganze Viertelstunde auf und blickte durch das Treppenfenster, ohne ein andres Vergnügen, als mich frei zu fühlen. In diesen seltnen Augenblicken berechnete ich nicht etwa die Maßnahmen meiner Tyrannen, sondern meine Phantasie verlor sich ins Blaue.

Die Hauptsache wurde für mich bald, zu erraten, ob Seraphie um dreiviertel vier, wo ich zurück sein mußte, im Hause war. Meine gute Freundin, die Magd Marion, war mir sehr behilflich. Eines Tages sagte sie zu mir, Seraphie ginge nach dem Kaffee um drei Uhr zu ihrer guten Freundin, der Betschwester Frau Vignon, und so wagte ich mich in den Stadtpark, wo sich eine Menge Gassenjungen herumtrieben ... Ich wurde ertappt; irgendein Freund oder Schützling Seraphies verriet mich, und am Abend gab es eine große Szene in Gegenwart der Großeltern. Ich log, wie begreiflich, als Seraphie mich fragte: »Bist du im Stadtpark gewesen?«

Darauf schalt mich mein Großvater mild und höflich, aber bestimmt wegen meiner Lüge. Ich fühlte deutlich, was ich nicht ausdrücken konnte. Ist die Lüge nicht die einzige Zuflucht der Sklaven? Fortan mußte ein alter Diener, der Nachfolger Lamberts, der die Befehle meiner Verwandten gewissenhaft ausführte, mich zu Le Roy begleiten. Frei war ich nur an den Tagen, wo er nach Saint-Vincent ging, um Obst zu holen.

Dieser Freiheitsschimmer machte mich rasend. »Warum das alles?« fragte ich mich. »Welcher Junge in meinem Alter geht nicht allein?« Mehrmals ging ich in den Stadtgarten; wurde ich ertappt, so bekam ich Schelte, aber ich sagte nichts. Man drohte mir, den Unterricht einzustellen; ich setzte meine Gänge fort. Mein Vater begann sich damals in die Landwirtschaft zu verlieben und ging oft nach Claix. Ich glaubte zu bemerken, daß Seraphie in seiner Abwesenheit Angst vor mir bekam. Meine Großtante Elisabeth, die aus spanischem Stolz keine rechtmäßige Autorität hatte, blieb neutral; mein Großvater verabscheute bei seinem sanften Wesen alles Geschrei; nur Marion und meine Schwester Pauline waren ganz auf meiner Seite. Ein freundliches Wort bei Frau Colomb ließ mich damals in mich gehen, woraus ich schließe, daß man mit etwas Sanftmut alles aus mir hätte machen können, wahrscheinlich einen platten, verschlagenen Dauphineser. Ich bot Seraphie nach wie vor Trotz und hatte furchtbare Wutanfälle.

»Du gehst nicht mehr zu Herrn Le Roy«, gebot sie.

Bei scharfem Nachdenken kommt es mir vor, als ob Seraphie den Sieg davontrug und als ob der Unterricht eine Weile aufhörte. Die Schreckenszeit war in Grenoble so mild, daß mein Vater bisweilen in seinem Hause wohnte. Dort sehe ich Herrn Le Roy, wie er mir an dem großen Schreibtisch in meines Vaters Zimmer seine Stunden gab und mir nachher sagte:

»Sagen Sie Ihrem lieben Vater, ich kann nicht mehr für 35 (oder 40 Franken im Monat kommen.« Das hing mit dem Kurssturz der Assignate zusammen.

Die Zeichnungen des Herrn Le Roy waren mir das Gleichgültigste bei der Sache. Er ließ mich Augen von vorn und in der Seitenansicht und Ohren in Rötel zeichnen, nach Musterblättern, die in der Art von Bleistiftzeichnungen gestochen waren. Er war ein sehr höflicher Pariser, nüchtern und schwächlich und durch ein höchst ausschweifendes Leben früh gealtert. Das war wenigstens mein Eindruck, aber wie konnte ich die Bezeichnung »höchst ausschweifend« rechtfertigen? Jedenfalls war er höflich und gebildet, wie man es in Paris ist. So fand ich ihn denn äußerst höflich, denn ich war an das kalte, mißvergnügte, durchaus ungebildete Wesen der schlauen Dauphineser gewöhnt. (Siehe den Charakter von Sorels Vater in »Rot und Schwarz«. Aber was wird »Rot und Schwarz« im Jahre 1880 sein? Es wird den düsteren Strand überschritten haben.)

Eines Abends spät, als es kalt war, hatte ich die Frechheit, auszukneifen, jedenfalls um meine Großtante Elisabeth bei Frau Colomb abzuholen. Ich wagte mich in den Jakobinerklub, der seine Sitzungen in der Kirche Saint-André abhielt. Mein Geist war voll von den Helden des alten Rom; ich sah mich im Geiste schon als Camillus oder Cincinnatus oder als beide zugleich. »Gott weiß, welcher Strafe ich mich aussetze,« sagte ich bei mir, »wenn ein Spion Seraphies (das war damals meine fixe Idee) mich hier bemerkt!«

Man bat ums Wort und sprach ziemlich regellos durcheinander. Mein Großvater pflegte sich über die Sprechweise der Jakobiner lustig zu machen. Ich fand sofort, daß er recht hatte. Der Eindruck war ungünstig; ich fand diese Leute, die ich gern geliebt hätte, scheußlich gewöhnlich. Die enge, hohe Kirche war sehr schlecht erleuchtet. Ich fand dort viel Weiber aus dem niedrigsten Volke. Kurz, ich war damals wie heute; ich liebe das Volk und hasse die Bedrücker, aber es wäre für mich eine stete Qual, mit dem Volke zu leben.

Ich will einen Augenblick wie Cabanis sprechen. Ich habe eine viel zu zarte Haut, eine Frauenhaut; später hatte ich stets Schwielen. wenn ich eine Stunde lang meinen Säbel gehalten hatte. Ich stoße mir bei jeder Gelegenheit die Finger wund, die sehr schön geformt sind; kurz, ich stecke in einer Frauenhaut. Daher kommt vielleicht mein unüberwindlicher Abscheu vor allem, was schmutzig, feucht oder schwärzlich aussieht. Dergleichen war bei den Jakobinern von Saint-André vielfach zu finden.

Als ich eine Stunde später zu Frau Colomb kam, blickte meine spanische Großtante mich fast streng an. Beim Heimweg sagte sie zu mir: »Wenn du derart auskneifst, wird dein Vater es merken« ...

»Nur wenn Seraphie mich anpätzt.«

»Hör mich an. Ich mag mit deinem Vater nicht über dich reden. Ich nehme dich nicht mehr zu Frau Colomb mit.«

Diese schlichten Worte rührten mich tief. Die Häßlichkeit der Jakobiner hatte mich abgestoßen; ich war an den nächsten Tagen nachdenklich: mein Idol war erschüttert. Hätte mein Großvater meine Empfindung erraten, hätte ich ihm alles gesagt, als wir zusammen die Blumen auf seiner Terrasse begossen, so hätte er mir die Jakobiner für immer lächerlich gemacht und mich wieder zur Aristokratie bekehrt. Statt die Jakobiner zu vergöttern, hätte meine Phantasie sich den Schmutz ihres Saales in Saint-André immerfort vorgestellt und ihn übertrieben...

Damals erfaßte ich intuitiv die Kunst – mit den Sinnen, würde ein Prediger sagen. In Le Roys Atelier hing eine große, schöne Landschaft. Am Fuße eines steilen bewaldeten Berges floß ein nicht tiefer, aber breiter und klarer Bach von links nach rechts am Fuße der letzten Bäume. Dort badeten vergnügt drei fast oder ganz nackte Frauen. Es war fast die einzige helle Stelle auf dem Bilde. Diese herrlich grüne Landschaft wurde für mich dank der Vorbereitung durch »Félicia«Siehe S. 98, Anm. 1. zum Ideal des Glückes. Es war ein Gemisch zarter Gefühle und sanfter Wollust. Wer mit so reizenden Frauen baden dürfte!...

Später, im Jahre 1805 in Marseille, hatte ich die köstliche Freude, meine herrlich gewachsene GeliebteMelanie Guilbelt. in der Huveaune unter hohen Bäumen baden zu sehen; es war in der Bastide der Frau Roy. Da entsann ich mich lebhaft der Landschaft Le Roys, die für mich vier bis fünf Jahre lang das Ideal wollüstigen Glückes bedeutete. Ich hätte wie ein alberner Romanheld ausrufen können: »Das ist ja mein Ideal!« Das alles hat, wie man wohl einsieht, mit dem Wert der Landschaft nichts zu tun; wahrscheinlich war es nur ein Gericht Spinat ohne Luftperspektive. Später wurde für mich der »nichtige Vertrag«, eine Oper von Gaveau, zum Anfang der Leidenschaft für die Musik, die zu Cimarosas »Heimlicher Ehe« und zum »Don Juan« führte.


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