Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Viertes Kapitel

Nun zu einer andern Gesellschaft, dem Gegensatz der im letzten Kapitel beschriebenen. ,-

Im Jahre 1817 besuchte mich im Hotel d'Italie auf der Place Favart der Mann, den ich wegen seiner Schriften aufs höchste bewundert habe, der einzige, der bei mir eine innere Umwälzung hervorgerufen hat, Graf Destutt de Tracy,Vgl. S. 240. Antoine Louis André Graf Destutt de Tracy (1754 – 1836). Seit zwölf Jahren bewunderte ich die »Ideologie« dieses Mannes, der einst berühmt sein wird. Ich hatte ihm meine »Geschichte der italienischen Malerei« zugeschickt.

Er blieb eine Stunde bei mir. Ich bewunderte ihn so, daß ich wahrscheinlich durch das Übermaß meiner Liebe Fiasko machte. Niemals war ich weniger darauf bedacht, geistreich oder liebenswürdig zu sein. Damals kam ich seinem umfassenden Geist näher und betrachtete ihn voller Staunen. Ich verlangte Aufklärung von ihm. Zudem verstand ich damals noch nicht, geistreich zu sein. Das gelang mir erst 1827.

Graf Destutt de Tracy, Pair von Frankreich und Mitglied der Akademie, war ein kleiner, äußerst wohl geschaffener Greis von elegantem, eigenartigem Wesen. Angeblich blind, trug er gewöhnlich einen grünen Augenschirm. Ich wohnte seiner Aufnahme in die Akademie durch den Grafen de Ségur bei, der ihm im Namen des kaiserlichen Despotismus Dummheiten sagte; das war im Jahre 1808. Obwohl ich selber zum Hofe gehörte, widerte mich das an. »Wir versinken in Militarismus und Barbarei«, sagte ich mir. »Wir werden alle wie der General Grosse«.Gemeint ist General Gros (1767–1824).

Dieser General, den ich bei der Gräfin Daru kennen gelernt hatte, war einer der dümmsten Haudegen der kaiserlichen Garde, und das will viel sagen. Er hatte eine provenzalische Aussprache und wollte alle Franzosen, die seinem Brotherrn feind waren, in Stücke hauen.

Dieser Charakter ist mein Schreckgespenst geworden. Am Abend der Schlacht an der Moskwa, als ich die Zelte von zwei oder drei Gardegeneralen in meiner Nähe sah, entfuhr mir der Ausruf: »Dies freche Pack!« Ich hätte mir dadurch alles verderben können.

Tracy pflegte vor dem Kamin abwechselnd auf dem rechten und dem linken Bein zu stehen und sprach in einer Weise, die das strikte Gegenteil seiner Schriften war. Seine Unterhaltung bestand aus feinen, eleganten Bemerkungen; er scheute sich vor jedem Kraftwort wie vor einem Fluche, aber er schrieb wie ein Dorfschulze. Meine damalige kraftvolle Schlichtheit muß ihm gar nicht behagt haben. Ich trug einen riesigen schwarzen Backenbart, den die Gräfin Beugnot mir erst ein Jahr später verleidete. Mein italienischer Fleischerkopf war wohl nicht sehr nach dem Geschmack des alten Obersten unter Ludwig XVI. Tracy wollte sich nie malen lassen. Ich finde, er ähnelt dem Papst Klemens XII. (Corsini), wie man ihn in Santa Maria Maggiore in der Kapelle links vom Eingang sieht.

Sein Benehmen war tadellos, wenn er nicht unter einer abscheulichen schwarzen Laune litt. Ich habe seinen Charakter erst 1822 erraten. Er war ein alter Don Juan und nahm alles übel, z. B. daß Herr von Lafayette in seinem Salon ein berühmterer Mann war als er selbst (sogar 1821). Sodann hat man in Frankreich seine »Ideologie« und seine »Logik« nicht gewürdigt. In die Akademie wurde er nur von ein paar kleinen Schönrednern gewählt, und zwar als Verfasser einer guten Grammatik,»Grammaire générale«, 1802. Die »Ideologie« erschien 1801, die »Logik« 1805. außerdem noch arg verhöhnt durch den platten Ségur,Louis Philippe Ségur d'Aguesseau (1753-1830), Geschichtschreiber und Diplomat. den Vater des noch platteren Philipp de Ségur,Graf Philippe de Ségur (1780-1873), Adjutant Napoleons, schrieb »Histoire de Napoléon et de la grande armée pendant 1812«, Paris 1824, 2 Bde. der unsern Zusammenbruch in Rußland beschrieben hat, um einen Orden von Ludwig XVIII. zu bekommen. Dieser Mann wird mir stets als Beispiel für den Charakter dienen, den ich in Paris am meisten verabscheue: den Ministeriellen, der in allem ehrenhaft ist, außer in den entscheidenden Schritten im Leben. Hundertmal mehr schätze und liebe ich einen einfachen Galeerensträfling oder Mörder, der nur eine Anwandlung von Schwäche gehabt hat und gewöhnlich vor (Hunger) umkommt.

An der kaiserlichen Hoftafel habe ich manchmal mit dem General Philipp de Ségur gespeist. Er sprach von nichts als von seinen dreizehn Wunden, denn die Bestie ist tapfer. In einem halb barbarischen Lande wie Rußland wäre er ein Held. In Frankreich beginnt man seine Gemeinheit zu erkennen. Die Damen Garnett wollten mich mit seinem Bruder, der ihr Nachbar war, bekannt machen, ich habe das aber wegen des Geschichtschreibers des Russischen Feldzuges stets abgelehnt.

Als ich 1811 in Saint-Cloud war, war der Graf Ségur Oberzeremonienmeister. Er krankte daran, nicht Herzog zu sein. In seinen Augen war das mehr als Unglück, es war eine Unanständigkeit. Alle seine Ideen waren voller Eitelkeit, und er hatte viele und über alle möglichen Dinge. Er sah bei allen Menschen nur Ungeschliffenheit, aber mit welcher Grazie drückte er seine Empfindungen aus! Übrigens sprach er mit mir wie mit einem Zwerg. Ich traf ihn als Oberzeremonienmeister (von 1810 bis 1814) bei den Ministern Napoleons; seit dem Sturz dieses Großen, dessen Schwäche und Unglück er war, habe ich ihn nicht mehr gesehen.

Selbst die richtigen Höflinge am kaiserlichen Hofe, wie mein Freund Martial Daru, lachten über das Zeremoniell, das Ségur für die Heirat Napoleons mit Marie Luise von Österreich erfunden hatte, besonders bei der ersten Begegnung. So eingebildet Napoleon auch auf seine neue Königsuniform war, das war ihm doch zuviel. Er machte sich Duroc gegenüber lustig darüber; dieser hat es mir erzählt. Ich glaube, von diesem ganzen Wust von Etikette kam nichts zur Ausführung. Heute, im Jahre 1832, seufze ich: »Soweit also hat die kleinliche Pariser Eitelkeit Napoleon, einen Italiener, gebracht!«

Ségur war vor allem im Staatsrat ohnegleichen. Dieser Staatsrat war achtbar; er war 1810 keine Versammlung von Schulfüchsen wie im Jahre 1832. Napoleon hatte hier die fünfzig am wenigsten beschränkten Franzosen vereinigt. Der Staatsrat war in Abteilungen gegliedert. Die Kriegsabteilung (dort war ich Lehrling unter dem hervorragenden Gouvion Saint-Cyr) hatte bisweilen mit der Abteilung des Innern zu tun, in der Ségur manchmal den Vorsitz führte, ich glaube, während der Krankheit des kraftvollen Regnault.Regnault de Saint-Jean d'Angely (1762–1819), französischer Staatsmann.

Bei schwierigen Fragen, wie die Aushebung der Ehrengarde in Piemont, über die ich Berichterstatter war, kam der elegante, tadellose Ségur nie auf einen Gedanken und rückte mit seinem Lehnstuhl hin und her, aber in unglaublich komischer Weise, indem er ihn zwischen seine ausgespreizten Beine nahm. Nachdem ich über seine Unfähigkeit gelacht, sagte ich mir: »Aber habe ich nicht unrecht? Ist das der berühmte Gesandte bei der großen Katharina, der dem englischen Botschafter die Feder entwand? Ist das der Historiker Friedrich Wilhelms II.?«

Ich neigte in meiner Jugend zu sehr zu Verehrung. Bemächtigte sich meine Phantasie eines Menschen, so blieb ich ihm gegenüber stumpfsinnig und verehrte selbst seine Fehler. Aber die Lächerlichkeit eines Ségur, der Napoleon gängelte, war selbst für meine gallibilityVon Stendhal erfundenes Wort: meinen Sinn für gallisches Wesen. zu stark. Übrigens hätte man den Oberzeremonienmeister Ségur (darin war er sehr verschieden von seinem Sohne) als Lehrmeister für feinfühliges Benehmen, den Frauen gegenüber sogar bis zum Heldentum, nehmen können. Er machte auch feine und reizende Bemerkungen, nur durften sie sich nicht über das zwergenhafte Niveau seiner Ideen erheben. Es war sehr verkehrt von mir, daß ich diesen liebenswürdigen Greis in den Jahren 1821 bis 1830 nicht aufgesucht habe. Ich glaube, er starb gleichzeitig mit seiner ehrwürdigen Gattin. Aber ich war toll; mein Abscheu vor allem Kleinen ging bis zur Leidenschaft; ich hätte mich darüber lustig machen sollen, wie heute über das Treiben am [römischen] Hofe. Im Jahre 1817, bei meiner Rückkehr aus England, hatte Graf Ségur mir Komplimente über Mein Buch »Rome, Naples et Florence«Deutsch als »Reise in Italien« (Band V dieser Ausgabe). gemacht, das ich ihm zugesandt hatte.

Im Grunde habe ich Paris in geistiger Hinsicht stets verachtet. Um dort zu gefallen, mußte man wie der Oberzeremonienmeister Ségur sein. Auch in äußerer Hinsicht hat mir Paris stets mißfallen. Noch im Jahre 1803 war es mir zuwider, weil es dort keine Berge gab. Die Berge meiner Dauphineser Heimat, die Zeugen meiner leidenschaftlichen Herzenswallungen in meinen ersten sechzehn Lebensjahren, haben mir in dieser Hinsicht ihren Stempel aufgedrückt.

Erst am 28. Juli 1830 begann ich Paris zu achten. Noch am Tage der Ordonnanzen,S. Seite 73, Anm. um vier Uhr abends, spottete ich beim Grafen RéalPierre François Graf Réal (1757-1834), Polizeipräfekt unter Napoleon. über den Mut der Pariser und den Widerstand, den man von ihnen erwartete. Ich glaube, dieser lustige Mann und seine heroische Tochter, Frau Lacuée, haben mir das nie verziehen.

Heute achte ich Paris. Für seinen Mut gebührt ihm die erste Stelle ebenso wie für seine Küche und für den Geist. Deswegen zieht es mich aber nicht mehr an. Mir scheint, in seiner Tugend steckt stets Komödie. Die jungen Pariser, deren Väter aus der Provinz stammen und männliche Tatkraft besitzen, d. h. ihr Glück zu machen verstehen, erscheinen mir als blutarme Wesen, die stets nur auf ihre äußere Erscheinung, auf die Modernität ihres grauen Hutes, auf den guten Sitz ihrer Halsbinde achten. Ich kann mir einen Mann nie ohne etwas männliche Tatkraft, Beständigkeit und Tiefe in den Ideen denken, lauter Dinge, die in Paris so selten sind wie ein ungeschliffenes oder gar grobes Benehmen...

Erst jetzt erkenne ich – meine Philosophie stammt im allgemeinen von dem Tage, an dem ich schreibe; im Jahre 1821 war ich weit davon entfernt – daß ich ein mezzo termino (Mittelding) zwischen der kraftvollen Ungeschliffenheit des Generals Grosse, des Grafen Regnault und der etwas zwergenhaften, etwas kleinlichen Grazie des Grafen Ségur und meines Hotelwirts, Herrn Petit, war. Nur die Niedrigkeit hatte ich mit keinem dieser Extreme gemein.

Aus Mangel an Geschick und Betriebsamkeit, wie es mir Herr Delécluze von den »Débats« betreffs meiner Bücher vorwarf, habe ich fünf- bis sechsmal die Gelegenheit zum größten politischen, finanziellen oder literarischen Erfolge verpaßt. Der Zufall wollte, daß alle diese Gelegenheiten nacheinander an meine Tür pochten. Die Träumerei – im Jahre 1821 zärtlich, später philosophisch und schwermütig – ist mir in solchem Maße zum Genuß geworden, daß ich, wenn ein Freund mich anspricht, alles darum gäbe, daß er mich zufrieden läßt. Schon der Anblick eines Bekannten verdrießt mich. Sehe ich ihn von weitem kommen, so muß ich daran denken, ihn zu grüßen, und das verdrießt mich schon fünfzig Schritt vorher. Dagegen treffe ich mit Vorliebe Freunde am Abend in Gesellschaft, Sonnabends bei Cuvier,S. Seite 454, Anm. Sonntags bei de Tracy, Dienstags bei Frau Ancelot,Virginie Ancelot, Gattin des Dramatikers Jacques Arsène Polycarpe Ancelot (1794-1854), eines klassizistischen Gegners der Romantiker. Mittwochs beim Baron GérardFrançois Baron Gérard (1770-1836), bekannter Maler. usw. Ein taktvoller Mensch merkt leicht, daß er mir zur Last fällt, wenn er mich auf der Straße anspricht. Dieser Mann hat wenig Achtung für meine Vorzüge, sagt er sich in seiner Eitelkeit, aber mit Unrecht.

Daher gehe ich so gern in einer fremden Stadt spazieren, in der ich eben angelangt bin und sicher keinen Bekannten treffe. Seit ein paar Jahren beginnt mich dies Glück zu fliehen. Ohne die Seekrankheit reiste ich nach Amerika. Wird man es glauben? Ich könnte eine Maske tragen; ich würde meinen Namen mit Wonne ändern. Tausendundeine Nacht füllt ein Viertel meines Kopfes aus. Oft denke ich an Angelicas Zauberring;In Ariosts »Rasendem Roland« mein höchstes Glück wäre, mich in einen großen blonden Deutschen zu verwandeln und so in Paris herumzugehen.


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