Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zwölftes Kapitel

4. Juli 1832.

Ich weiß nicht, wer mich bei DelécluzeEtienne Jean Delécluze (1781–1863), Kunst- und Literarhistoriker. Delécluze hat ziemlich gehässig über Stendhal geschrieben in seinen »Souvenirs de soixante années«, Paris 1862, S. 233 ff., 258 ff. (A. Schurig.) Sainte-Veuve nahm ihn daraufhin in seinen »Nouveaux Lundis« (1862), III, 111, in Schutz. eingefühlt hat. Er hatte sich wohl ein Exemplar meiner »Geschichte der italienischen Malerei« kommen lassen, angeblich, um es im »Lycée« zu besprechen, einer jener kurzlebigen Zeitschriften, die in Paris durch den Erfolg der »Edinburgh Review« entstanden waren. Er wünschte mich kennen zu lernen.

In England verachtet die Aristokratie die Literatur. In Paris wird sie überschätzt. Aber es ist für einen in Paris wohnenden Franzosen unmöglich, die Wahrheit über Werke anderer, in Paris lebender Franzosen zu sagen. Ich machte mir acht bis zehn Todfeinde, als ich den Redakteuren des »Globe« in der Form eines persönlichen Rats sagte, der »Globe« sei etwas zu puritanisch und habe wohl etwas zu wenig Esprit. Eine gewissenhafte literarische Zeitschrift wie die »Edinburgh Review« ist in Paris nur möglich, wenn sie in Genf gedruckt und dort von einem verschwiegenen Geschäftsmann geleitet wird. Der Herausgeber müßte alljährlich nach Paris reisen und erhielte die Aufsätze für die Monatsschrift nach Genf zugesandt. Er würde sich das Beste auswählen, gut bezahlen (200 Franken für den Bogen) und seine Mitarbeiter nie nennen.

Ich wurde also eines Sonntags um zwei Uhr bei Delécluze eingeführt. Zu dieser unbequemen Stunde empfing er. Man mußte fünfundneunzig Stufen steigen, denn seine Akademie lag im sechsten Stock eines Hauses in der Rue Gaillon, das ihm und seinen Schwestern gehörte. Von seinen kleinen Fenstern aus sah man nur einen Wald schwärzlicher Schornsteine. Das ist für mich einer der häßlichsten Anblicke, aber die vier Stübchen, in denen er wohnte, waren mit Stichen und seltnen Kunstgegenständen geschmückt, darunter ein prächtiges Bildnis des Kardinals Richelieu, das ich oft betrachtete. Daneben das dicke, plumpe, alberne Gesicht Racines. Die Gefühle, die der große Dichter empfunden haben muß, um »Andromache« und »Phädra« zu schreiben, muß er wohl vor seinem Fettwerden gehabt haben.

Ich fand bei Delécluze vor einem elenden Kaminfeuer – denn es war wohl im Februar 1822 – acht bis zehn Personen, die über alles redeten. Ich war betroffen von ihrem gesunden Verstand, ihrem Geist und vor allem von dem feinen Takt des Hausherrn, der die Unterhaltung unauffällig so leitete, daß nie mehr als drei auf einmal sprachen und daß keine peinlichen Augenblicke des Schweigens entstanden.

Ich finde nicht Worte genug, um meine Anerkennung für diese Gesellschaft auszudrücken. Nie habe ich eine hervorragendere, ja auch nur mit ihr vergleichbare Gesellschaft gefunden. Ich war schon am ersten Tage ganz betroffen, und wohl zwanzigmal während der drei, vier Jahre, wo ich dort verkehrte, ertappte ich mich bei der gleichen Bewunderung. Eine solche Gesellschaft ist nur im Vaterlande Voltaires, Molières und Couriers möglich.

In England ist sie ausgeschlossen, denn bei Delécluze hatte man sich über einen Herzog wie über jeden andern lustig gemacht, und mehr als über einen andern, wenn er lächerlich gewesen wäre.

In Deutschland wäre sie unmöglich, denn dort pflegt man sich für die jeweilige Modephilosophie blindlings zu begeistern (die Engel des Herrn Ancillon). Zudem sind die Deutschen ohne ihre Begeisterung zu dumm.

In Italien hätte man disputiert. Jeder hätte zwanzig Minuten das Wort geführt und wäre der Todfeind seines Gegners geblieben. Beim dritten Zusammentreffen hätte man satirische Sonette auf einander gemacht. Denn das Gespräch über alles und mit allen war frei.

Bei Delécluze war man höflich, aber um seinetwillen. Oft mußte er den Rückzug eines Unvorsichtigen decken, der auf der Suche nach einer neuen Idee zu weit ins Paradoxe geraten war. Dort traf ich Albert Stapfer,Ph. Albert Stapfer (1766–1840) aus Bern, Schweizer Staatsmann und französischer Schriftsteller. Er übersetzte auch Goethes »Faust« und andre Werke Goethes. Ampère,André Marie Ampère (1775–1836), berühmter Physiker, oder auch dessen Sohn Jean Jacques (1800–64), Schriftsteller und Gelehrter. den Verleger Sautelet und Mareste.

Delécluze ist ein Charakter in der Art des guten Landpredigers von Wakefield. Um einen Begriff von ihm zu geben, brauchte man alle Halbtöne von Goldsmith oder Addison. Zunächst ist er sehr häßlich; vor allem hat er – eine Seltenheit in Paris – eine unedle, niedrige Stirn; er ist gut gebaut und ziemlich groß. Er besitzt alle kleinlichen Züge des Spießbürgers. Wenn er im nächsten Laden ein Dutzend Taschentücher für 36 Franken gekauft hat, bildet er sich zwei Stunden darauf ein, sie seien eine Rarität und man könne in Paris um keinen Preis etwas Ähnliches finden.

(Schluß des Fragments.)


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