Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Einunddreißigstes Kapitel

Musikleidenschaft

Rom, 3. bis 5. Februar 1836.

Als ich meine »Kunst des Lustspiels« vor mir liegen hatte, erwog ich ernstlich die große Frage, ob ich Opern komponieren sollte wie Grétry oder Komödien schreiben? Kaum konnte ich die Noten lesen. Aber ich sagte mir: die Noten sind nur die Buchstaben der Musik; die Hauptsache ist, Einfälle zu haben. Und die glaubte ich zu haben. Das Scherzhafte ist, daß ich es noch heute glaube ...

Für die reine Instrumentalmusik habe ich nichts übrig; selbst die Musik in der Sixtinischen Kapelle und im Chor des Kapitels der Peterskirche macht mir keine Freude mehr. Allein die Vokalmusik scheint mir ein Erzeugnis des Genius. Ein Dummkopf kann wohl Gelehrter werden, er kann aber keinen schönen Gesang erfinden, wie Se amor si gode in pace (erster Akt des Matrimonio segreto).

In den schönen Zeiten meiner Musikleidenschaft in Mailand von 1814 bis 1821, wenn ich mir am Morgen vor einer neuen Oper mein Libretto aus der Scala holte, konnte ich beim Lesen desselben nicht umhin, mir die ganze Musik auszudenken die Arien und Duette zu singen. Und – darf ich es sagen? – am Abend fand ich meine Melodie manchmal edler und rührender als die des Maestro.

Da ich nie die geringste technische Kenntnis besaß und die Melodie in keiner Weise zu Papier bringen konnte, um sie verbessern zu können, ohne den Anfang zu vergessen, so war das stets wie die erste Idee zu einem Buche. Sie ist stets hundertmal unverständlicher als nach der Durcharbeitung. Aber diese erste Idee finde ich in den Büchern der Durchschnittsschriftsteller nie.

So habe ich, wie ich glaube, eine reizende Melodie (ich sah die Begleitung) zu ein paar Versen von La Fontaine gemacht, wohl die einzige zu französischen Worten. Die Franzosen scheinen mir das ausgesprochenst unmusikalische Volk zu sein, wie die Italiener die auffälligste Nichtbegabung für den Tanz haben. Manchmal frage ich mich selbst, um der Gegenpartei in mir (die ich oft deutlich fühle) etwas zum Lachen zu geben: »Aber wie kann ich als Franzose Begabung für die Musik Cimarosas haben?« Dann antwortete ich: »Durch meine Mutter, der ich ähnlich bin, habe ich vielleicht italienisches Blut.« (Der Gagnoni, der sich nach einem in Italien begangenen Morde nach Avignon rettete.)

Mein Großvater und meine Großtante Elisabeth hatten offenbar italienische Gesichter, Adlernasen usw. Jetzt, wo ich durch fünfjährigen dauernden Aufenthalt in Rom die Körperbeschaffenheit der Römer genauer kenne, sehe ich, daß mein Großvater durchaus römischen Wuchs, Kopf- und Nasenbildung hatte. Mein Oheim Romain hatte sogar einen fast römischen Kopf, abgesehen von seiner sehr schönen Hautfarbe.

Nie habe ich ein schönes Lied gehört, das ein Franzose erfunden hätte; die schönsten gehen nicht über das grobe Gepräge hinaus, das ein volkstümliches Lied haben muß, wie das Revolutionslied › Allons, enfants de la patrie‹ von dem Kapitän Rouget de Lisle, das eines Nachts in Straßburg erfunden wurde. Dies Lied scheint mir bei weitem besser als alle die französischen Köpfen entsprungen sind, aber seiner Art nach steht es notwendig zurück hinter Mozarts

Là, ci darem la mano,
Là, mi dirai di si ...

Vollkommen schön finde ich nur die Melodien von Mozart und Cimarosa. Ich ließe mich hängen, wenn ich sagen sollte, welchem ich den Vorzug gebe. Wenn ich das Unglück gehabt habe, in zwei langweilige Salons zu geraten, ist mir der zweite stets der verdrießlichste. Und wenn ich Mozart oder Cimarosa gehört habe, gab ich stets dem zuletzt Gehörten den Vorzug. Paisiello ist für mich wie ein leichter, schmackhafter Landwein, den man sogar gern trinken kann, wenn ein guter Wein einem zu schwer ist. Aber man findet ihn nur zu bald schal. Man darf nur ein Glas davon trinken ...

Umsonst würde man versuchen, einem Jagdhund die Gelehrigkeit eines Pudels beizubringen oder von einem Pudel zu verlangen, einen Hasen zu wittern, der vor sechs Stunden vorbeigewechselt ist. Es gibt wohl individuelle Ausnahmen, aber im ganzen haben Pudel und Jagdhund jeder seine besondre Begabung. Das gilt auch für die Menschenrassen. Im Jahre 1834 sah ich eine ganze römische Gesellschaft, die ganz in der Musik aufgeht und sehr gut die Finales von Rossinis »Semiramis« und die schwierigsten Musikstücke singt, eine ganze Nacht lang nach einer freilich wenig taktfesten Kontertanzmusik Walzer tanzen. Der Römer und überhaupt der Italiener hat den ausgesprochensten Mangel an Sinn für den Tanz.

Die Franzosen dagegen – wenigstens die von 1830 – haben nicht den geringsten Sinn für Vokalmusik, sowohl als Zuhörer wie als Ausübende. Sie sind seit 1820 zwar musikverständig geworden, bleiben aber im Grunde Barbaren. Beweis: der Erfolg von Meyerbeers »Robert der Teufel«. Für die deutsche Musik, Mozart ausgenommen, hat der Franzose eher Verständnis. Was er an Mozart bewundert, ist nicht die gewaltige Neuheit von Leporellos Gesang, als er die Statue des Gouverneurs zum Mahle einlädt, sondern eher die Begleitung. Zudem hat man diesen vor allem eitlen Wesen gesagt, jenes Duett oder Trio sei erhaben. Ein eisenhaltiger Fels, der aus der Erde hervorragt, kann uns auf den Gedanken bringen, Eisen zur Genüge zu finden, wenn man tiefe Stollen in den Fels treibt. Vielleicht findet man auch keins. So war es bei mir 1799 mit der Musik. Der Zufall brachte mich dahin, die Klänge meiner Seele durch gedruckte Worte auszudrücken. Trägheit und der Mangel an Gelegenheit, das Technische und Stumpfsinnige der Musik zu lernen, nämlich Klavier zu spielen und Noten zu schreiben, haben viel zu diesem Entschluß beigetragen. Er wäre ganz anders ausgefallen, hätte ich einen Oheim oder eine Geliebte gefunden, die die Musik liebten. Die Leidenschaft für sie ist die gleiche geblieben. Ich liefe zehn Stunden zu Fuß durch den Straßenschmutz, das Widerwärtigste, was es für mich gibt, um eine gute Ausführung des »Don Juan« zu hören. Höre ich ein italienisches Wort daraus, so ergreift mich sofort die zärtliche Erinnerung an die Musik und erfüllt mich ganz.

Ich habe nur einen wenig verständlichen Einwand: gefällt die Musik mir als Zeichen, als Erinnerung an das Jugendglück, oder um ihrer selbst willen? Ich bin für das letztere. Bei einigen kleineren Opern mag der Genuß nur ein Zeichen sein, dafür rühme ich sie aber nicht als Meisterwerke. Aber niemals trifft dies für das »Matrimario segreto« zu, das ich im Odeon in Paris 1810 wohl sechzig- bis hundertmal gehört habe. Und sicherlich bereitet mir keine opera d'inchiostro, kein Schriftwerk, einen so lebhaften Genuß wie der »Don Juan«. Ein großer Beweis für meine Musikliebe ist mir, daß die komische Oper von Feydeau mich ärgert. Ich habe sie immer nur zur Hälfte anhören können. Alle zwei bis drei Jahre gehe ich aus Neugier in die komische Oper, und beim zweiten Akt gehe ich hinaus. Die französische Oper hat mich bis 1830 noch mehr geärgert und mir 1833 noch gründlich mißfallen.

Ich bin ausführlich geworden, denn man ist stets ein schlechter Richter seiner Leidenschaften oder seines Geschmacks, zumal wenn dieser der Geschmack der guten Gesellschaft ist. Jeder gezierte junge Mann vom Faubourg Saint-Germain schwärmt angeblich für Musik. Ich dagegen verabscheue die französische Romanze. Gute Musik versenkt mich in holdes Träumen über den Gegenstand, dem gerade mein Herz gehört. Daher die köstlichen Augenblicke in der Scala in Mailand von 1814 bis 1821, der Blütezeit meines Lebens.


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