Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Sechzehntes Kapitel

Landaufenthalt. Der Pater Ducros

Rom, 16. bis 29. Dezember 1835.

Seraphies Busenfreundin, Flau Vignon, die erste Betschwester der Stadt, war die Frau eines Anwalts, aber als Kirchenmutter geachtet, denn sie brachte die Priester unter und hatte stets welche zu Besuch bei sich. Was mich rührte, war ihre fünfzehnjährige Tochter, die die dicken, roten Augen eines weißen Kaninchens hatte. Umsonst versuchte ich, mich während einer Reise von ein bis zwei Wochen nach Claix in sie zu verlieben. Dort hielt mein Vater sich nie verborgen und wohnte stets in seinem Hause, dem schönsten im Umkreise. An dieser Reise nahmen teil: Seraphie, Frau Vignon, ihre Tochter, meine Schwester Pauline, ich und, wenn ich nicht irre, ein Herr Blanc aus Seyssins, ein lächerlicher Mensch, der Seraphies nackte Beine bewunderte. Sie erschien nämlich des Morgens mit bloßen Füßen im Park.

Ich war derart vom Teufel besessen, daß die Beine meiner grausamsten Feindin mir Eindruck machten. Gerne hätte ich Seraphie geliebt. Mir dünkte es eine köstliche Lust, diese Todfeindin in meine Arme zu schließen ...

In Grenoble hielt mein Vater sich nach wie vor versteckt, d. h. er wohnte bei meinem Großvater und ging tagsüber nicht aus. Seine politische Leidenschaft hielt nur anderthalb Jahre an. Dann kam die Leidenschaft für die Landwirtschaft dran. Ich verstehe wohl, was den Anlaß dazu gab: in Claix konnte er frei herumgehen.

Aber war das alles nicht durch seine Liebschaft mit Seraphie bedingt, wenn diese tatsächlich bestand? Ich kann die Dinge nicht im richtigen Licht sehen, ich habe nur meine Kindheitserinnerung. Ich sehe Bilder, ich erinnere mich der Wirkungen auf mein Gemüt, aber die Ursachen und das Aussehen der Dinge kenne ich nicht...

Allmählich wurde meines Vaters Leidenschaft für sein Landgut in Claix und die Landwirtschaft grenzenlos. Er ließ große Meliorationen vornehmen: So ließ er den Boden zwei und einen halben Fuß tief aufgraben und alle Steine in eine Ecke schaffen. Er übernahm vom Krankenhaus durch Tausch den Weinberg, ließ ihn niederreißen, die Weinbergsmauern zuschütten und das Ganze bepflanzen.

Diese Art von Narrheit ist südlich von Lyon und Tours häufig. Sie besteht im Ankauf von Grundstücken, die ein bis zwei vom Hundert einbringen, zu dem Zweck gegebene Hypotheken, die fünf bis sechs vom Hundert einbringen, zu kündigen und bisweilen Geld zu fünf vom Hundert aufzunehmen, nur um seinen Besitz »abzurunden«. Mein Vater war ein denkwürdiges Beispiel dieser Schrulle, die ihre Quelle in Habsucht, Dünkel und aristokratischer Sucht hat. Ein Minister des Innern, der sein Geschäft versteht, müßte dagegen einschreiten, denn sie zerstört den Wohlstand und das Glück, soweit es vom Besitz abhängt.

Diese Sucht hat meinen Vater schließlich ganz zugrunde gerichtet und mir als einziges Erbteil ein Drittel von der Mitgift meiner Mutter hinterlassen. Damals jedoch verschaffte sie mir viel Glück...

Am 21. Juli 1794 wurde mein Vater aus der Liste der Verdächtigen gestrichen. Damit war das Ziel unseres Ehrgeizes seit einundzwanzig Monaten erreicht. Seitdem hielt er sich oft und lange in Claix (oder vielmehr in Furonières) auf. Hier begann meine Unabhängigkeit, wie die Freiheit der italienischen Städte seit dem achten Jahrhundert, durch die Schwäche meiner Tyrannen.

Während der Abwesenheit meines Vaters kam ich auf den Einfall, im Salon unseres Hauses in der Rue des Vieux Jesuites zu arbeiten, den seit vier Jahren niemand betreten hatte. Dieser Einfall, aus der Not des Augenblicks entsprungen, wie jede praktische Erfindung, brachte mir gewaltige Vorteile. Erstens war das Haus nur zweihundert Schritte von dem Gagnonschen entfernt und ich ging allein hin. Zweitens war ich dort sicher vor Seraphies Überfällen, die, wenn sie besonders vom Teufel geplagt war, meine Bücher und Papiere zu durchstöbern pflegte. In dem stillen Salon, wo die schönen, von meiner armen Mutter gestickten Möbel standen, begann ich mit Lust zu arbeiten. Ich schrieb meine Komödie, die sich, wenn ich nicht irre, »Picklar« betitelte, wartete aber stets den Augenblick der Eingebung ab. Diese Narrheit habe ich erst später überwunden. Hätte ich es früher getan, so wäre meine Komödie »Letellier«,Von ihr ist später in den Tagebüchern aus Paris 1800–1806 mehrfach die Rede. die ich nach Moskau mitnahm und wieder mit zurückbrachte, fertig geworden. Diese Torheit hat die Zahl meiner Arbeiten sehr beschränkt. Noch 1806 wartete ich den Augenblick von Eingebung ab, um zu schreiben. Mein ganzes Leben lang habe ich nie über das gesprochen, was mich begeisterte; der geringste Einwand hätte mir das Herz durchbohrt. Nie habe ich über Literatur gesprochen. Mein damaliger Busenfreund de Mareste (geboren in Grenoble um 1782) schrieb mir nach Mailand sein Urteil über »Das Leben Haydns, Mozarts und Metastasios«.Stendhals Erstlingswerk (1814). Er hatte keine Ahnung, daß ich der Verfasser war...

Nach vier bis fünf Jahren des tiefsten und eintönigsten Unglücks atmete ich jetzt auf, wenn ich mich allein in der Wohnung in der Rue des Vieux Jesuites eingeschlossen hatte, die mir bis dahin so verhaßt gewesen war. In diesen vier bis fünf Jahren hatte sich mein Herz mit dem Gefühl ohnmächtigen Hasses erfüllt. Ohne meine sinnenfrohe Natur wäre ich bei einer solchen Erziehung vielleicht ein finsterer Bösewicht oder ein glatter, heuchlerischer Schelm geworden, ein echter Jesuit, und jedenfalls steinreich.

Die Lektüre der »Neuen Heloise« und Saint Preux' Gewissensskrupel machten mich zum grundanständigen Menschen. Nachdem ich dies Buch mit Tränen in den Augen und mit überschwenglicher Liebe zur Tugend gelesen, konnte ich wohl noch Schurkenstreiche begehen, aber dann hätte ich mich als Schurke gefühlt. So machte mich ein Buch, das ich in größter Heimlichkeit und gegen den Willen meiner Angehörigen las, zum anständigen Menschen.

Die römische Geschichte von Rollin hatte mir trotz seiner seichten Bemerkungen den Kopf mit Beispielen von Tugend angefüllt, jener Tugend, die auf der Nützlichkeit und nicht auf der eitlen Ehre der Monarchien beruht. Die Tatsachen, die ich aus Rollin geschöpft hatte, und die durch die dauernde Unterhaltung mit meinem trefflichen Großvater und die Theorien Saint Preux' bestätigt, erläutert und veranschaulicht wurden, flößten mir unvergleichlichen Widerwillen und tiefe Verachtung für die Priester ein, die ich jeden Tag über die Siege des Vaterlandes betrübt und von dem Wunsche erfüllt sah, die französischen Heere möchten geschlagen werden.

Die Unterhaltung mit meinem trefflichen Großvater, dem ich alles verdanke, seine Verehrung für die Wohltäter der Menschheit, die den christlichen Ideen so zuwider lief, hat mich gewiß davor bewahrt, mich wie eine Fliege in den Spinnennetzen der religiösen Zeremonien zu verfangen, die mich stets tief bewegt haben. Heute erkenne ich, daß hier die Wurzel meiner Liebe zur Musik, zur Malerei und zum Ballett lag. Ich will gern glauben, daß mein Großvater erst neuerdings fromm geworden war; vielleicht hatte er auch als Arzt die Unterstützung der Geistlichkeit nötig und trug daher einen leichten Schleier von Heuchelei, wie er seine Perücke mit den drei Lockenreihen trug. Das letztere dünkt mir am wahrscheinlichsten...

Zu bemerken ist auch, daß die Geistlichen damals nicht alle Folgerungen aus der Theorie zogen und lange nicht so unduldsam und unsinnig waren wie im Jahre 1835. Man hatte gar nichts dagegen, daß er vor seiner kleinen Voltairebüste arbeitete und daß seine Unterhaltung mit einer Ausnahme genau so war, wie sie in Voltaires Salon gewesen wäre. Ja, er nannte die drei Tage, die er dort verbracht hatte, die glücklichsten seines Lebens, so oft sich Gelegenheit dazu bot. Kritik an Priestern oder anstößigen Anekdoten über sie unterdrückte er nie, und bei seiner langen Erfahrung hatte dieser kalte und kluge Geist hunderte solcher Anekdoten gesammelt. Nie log und übertrieb er. Ich darf also heute behaupten: geistig war er kein Spießbürger, aber er konnte wegen geringfügiger Kränkungen einen unauslöschlichen Haß fassen, und so glaube ich, sein Andenken nicht ganz von dem Vorwurf des Spießertums reinwaschen zu dürfen ...

Große Liebe für meinen Großvater besaß der Pater Ducros, ein Cordelier, den ich für ein Genie halte. Er war sein Patient und verdankte ihm seine Stellung als Bibliothekar. Trotzdem hatte er einen Anflug von Verachtung für seine Charakterschwäche. Unerträglich waren ihm Seraphies Launen, die oft sogar die Unterhaltung störten und Bekannte zum Fortgehen zwangen. Charaktere wie Fontenelle sind gegen diese Art unausgedrückter Mißachtung sehr empfindlich. Mein Großvater bekämpfte also oft meine Begeisterung für den Pater. Manchmal, wenn er mit einer fesselnden Neuigkeit ins Haus kam, wurde ich in die Küche geschickt. Ich war nicht beleidigt, ärgerte mich aber, daß ich die Neuigkeit nicht erfuhr. Dieser Philosoph war also empfindlich gegen meine lebhafte Vorliebe für Pater Ducros, und so verließ ich das Zimmer nie, wenn er da war...

Der Pater war wohlhabend. Er hatte einen großen dicken Diener, einen guten Kerl, der zugleich Bibliotheksdiener war und eine vorzügliche Magd. Auf Anraten meiner Großtante Elisabeth gab ich beiden Trinkgelder. War ich doch höchst unerfahren durch das Wunder dieser abscheulichen Einzelerziehung im Schoß einer Familie, die an mir armem Knaben mit Wut herum erzog, weil sie keine andre Beschäftigung hatte. Diese Unerfahrenheit in den einfachsten Dingen war schuld daran, daß ich im Daruschen Hause vom November 1799 bis Mai 1800 viele Ungeschicklichkeiten beging ...

Die übrigen Priester, die im Hause speisten, glaubten sich für die ihnen erwiesene Gastlichkeit dankbar erzeigen zu müssen, indem sie die Bibel von Reyaumont pathetisch rühmten. Der süßlich-heuchlerische Ton dieses Werkes erregte meinen tiefsten Widerwillen. Hundertmal lieber war mir das Neue Testament auf Lateinisch, das ich ganz auswendig gelernt hatte. Wie die heutigen Könige wollten meine Angehörigen mich durch die Religion in Gehorsam halten, und ich atmete nichts als Auflehnung.

Ich sah die Allobrogische Legion vorbeimarschieren und dachte immerfort an die Armee. Sollte ich nicht Soldat werden?

Ich ging jetzt oft allein aus, auch in den Stadtgarten, aber ich fand die andern Knaben zu vertraulich. Von weitem brannte ich darauf, mit ihnen zu spielen; in der Nähe erschienen sie mir ungeschliffen.

Ich glaube, ich ging jetzt sogar ins Theater, und verließ es im fesselndsten Augenblick, wenn ich den Sanktus läuten hörte. Jede Tyrannei empörte mich. Meine Aufgaben machte ich an einem hübschen Nußbaumtisch im Vorzimmer des großen Saales. Eines Tages kam ich auf den Einfall, auf diese Tafel die Namen aller Fürstenmörder zu schreiben, z. B. Poltrot – Herzog von Guise 1562. Mein Großvater, der mir beim Fabrizieren meiner lateinischen Verse half oder sie vielmehr selber machte, sah diese Liste. Seine friedliche, allem Gewalttätigen abholde Seele war tief betrübt. Fast meinte er, Seraphie hätte recht gehabt, als sie sagte, ich hätte einen abscheulichen Charakter. Vielleicht kam ich auf meine Mörderliste durch die Tat der Charlotte Corday am 11. oder 12. Juli 1793, für die ich schwärmte. Ich war damals für Cato von Utica begeistert; die süßlichen, christlichen Phrasen des »guten Rollin«, wie ihn mein Großvater nannte, schienen mir der Gipfel des Lächerlichen.


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