Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Siebentes Kapitel

Manchmal schrieb ich ein Datum in ein Buch, das ich mir kaufte, und eine Notiz über die Stimmung, die mich beherrschte. Ich weiß nicht recht, wie ich auf den Einfall kam, nach England zu reisen. Ich schrieb an meinen Bankier, er solle mir einen Kreditbrief auf 1000 Franken für London ausstellen; er antwortete mir, er hätte nur noch 126 Franken von mir. Ich hatte Geld, wo, weiß ich nicht mehr, vielleicht in Grenoble. Ich ließ es kommen und reiste ab.

Zum erstenmal kam ich 1821 folgendermaßen auf den Gedanken an London. Im Jahre 1816, glaube ich, in Mailand, hatte ich mit dem berühmten Brougham,Lord Henry Brougham (1779–1868), liberaler Staatsmann. dem jetzigen Lordkanzler, der sich bald zu Tode arbeiten wird, über den Selbstmord gesprochen.

»Was ist peinlicher«, sagte er, »als der Gedanke, daß in allen Zeitungen stehen wird, Sie hätten sich totgeschossen, und daß sie dann in Ihrem Privatleben nach Gründen suchen werden?«

»Was ist einfacher«, entgegnete ich, »als die Gewohnheit anzunehmen, mit einem Fischerboot aufs Meer hinauszufahren? An einem sehr stürmischen Tage fällt man zufällig ins Wasser.«

Dieser Gedanke, auf dem Meere zu fahren, bestach mich. Der einzige, für mich lesbare Schriftsteller war Shakespeare. Es war mir ein Fest, ihn aufführen zu sehen. Bei meiner ersten Reise nach England im Jahre 1817 hatte ich nichts von Shakespeare gesehen.

Leidenschaftlich geliebt habe ich in meinem Leben nur Cimarosa, Mozart und Shakespeare. In Mailand im Jahre 1820 wollte ich folgendes auf meinem Grabstein gesetzt haben. Ich dachte täglich an diese Grabschrift, denn ich glaubte fest, nur im Grabe Ruhe zu finden. Ich wünschte mir eine Marmortafel in Form einer Spielkarte:Die drei ersten Zeilen dieser Inschrift stehen gemäß Stendhals Testament (s. Seite 500) tatsächlich auf seinem Grabstein auf dem Montmartre-Friedhof in Paris, den spätere Pietät mit dem schönen Medaillonrelief Beyles von David d'Angers geschmückt hat. Sie lautet auf deutsch: »Heinrich Beyle aus Mailand lebte, schrieb, liebte. (Seine Seele vergötterte Cimarosa, Mozart und Shakespeares Er starb im Alter von ... Jahren am ... 18...« Das Eingeklammerte ist auf dem Grabstein fortgelassen, die Worte scrisse, amò sind von Beyles Vetter und Testamentsvollstrecker Romain Colomb aus euphonischen Gründen umgestellt.

Errico Beyle Milanese
Visse, scrisse, amò
Quest' anima
adorava
Cimarosa, Mozart e Shakespeare
M. die anni ...
il ... 18 ...

Kein häßliches Abzeichen, kein plattes Ornament, nur diese Inschrift, in großen Buchstaben gemeißelt. Ich hasse Grenoble; ich kam im Mai 1800 nach Mailand, ich liebe diese Stadt. Dort habe ich die größten Freuden und die tiefsten Schmerzen erfahren; dort fand ich, was vor allem das Vaterland ausmacht, die erste Freude. Dort wünsche ich mein Alter zu verbringen und zu sterben. Wie oft habe ich mir, von einer einsamen Barke auf den Wogen des Comer Sees gewiegt, mit Entzücken gesagt:

Hic captabis frigus opacumHier wirst du das kühle Dunkel finden. Der Ausruf Julian Sorels in Stendhals »Rot und Schwarz«.

Wenn ich so viel hinterlasse, um diese Grabplatte anzufertigen, bitte ich sie auf dem Friedhof von Andilly bei Montmorency nach Osten gewandt aufzurichten. Vor allem aber wünsche ich mir kein anderes Monument, nichts Pariserisches, nichts Possenhaftes. Ich verabscheue dergleichen und habe es 1821 noch mehr verabscheut. Der französische Esprit, den ich in den Pariser Theatern fand, brachte mich fast zu dem lauten Ausruf: »Hundsfott! Hundsfott! Hundsfott«!« Nach dem ersten Akte ging ich hinaus. Kam zu diesem französischen Esprit noch französische Musik, so ging mein Abscheu so weit, daß ich Grimassen schnitt und selbst zum Possenreißer wurde. Eines Tages überließ mir Frau de Longueville ihre Loge im Theâtre Feydeau. Zum Glück ging ich allein hin. Nach einer Viertelstunde ergriff ich unter lächerlichen Grimassen die Flucht und schwor mir zu, zwei Jahre nicht in jenes Theater zu gehen. Diesen Schwur habe ich gehalten.

Alles, was den Romanen der Frau von Genlis, der Poesie der Herren Legouvé, Jouy, Campenon, Treneuil ähnlich ist, flößt mir den gleichen Abscheu ein. Jetzt, im Jahre 1832, ist dies ein Gemeinplatz. Im Jahre 1821 machte sich Mareste über meinen unerträglichen Dünkel lustig, als ich ihm meinen Haß zeigte. Er schloß daraus sicherlich, daß Herr de Jouy oder Herr Campenon mich in einer Kritik furchtbar heruntergerissen hätten. Ein Kritiker, der über mich spottet, flößt mir ganz andre Empfindungen ein. Jedesmal, wenn ich seine Kritik wieder lese, erwäge ich, wer von uns beiden recht hat, er oder ich.

Es war wohl im September 1821, als ich nach London reiste. Paris ekelte mich an. Ich war blind, ich hätte die Gräfin de Tracy um Rat fragen sollen. Diese anbetungswürdige Frau habe ich wie eine Mutter geliebt oder wie eine einst hübsche Frau ohne jeden Gedanken an irdische Liebe; sie war damals dreiundsechzig Jahre alt. Ich habe ihre Freundschaft durch mein geringes Vertrauen verscherzt. Ich hätte der Freund, nicht der Liebhaber Celines sein sollen. Ob ich damals als Liebhaber Erfolg gehabt hätte, weiß ich nicht, aber heute sehe ich klar, daß ich dicht vor der vertrauten Freundschaft stand. Ich hätte auch nicht darauf verzichten sollen, meine Bekanntschaft mit der Gräfin BertrandS. Seite 315: zu erneuern.

Ich war in Verzweiflung oder, besser gesagt, von dem Pariser Leben tief angeekelt, vor allem von mir selbst. Ich fand alle denkbaren Fehler an mir; ich hätte ein andrer sein mögen. Ich reiste nach London, um ein Heilmittel im Spleen zu suchen, und den fand ich da zur Genüge. Ich mußte zwischen mich und den Mailänder Dom die Dramen von Shakespeare und den Schauspieler Kean stellen.

Oft genug traf ich in der Gesellschaft Leute, die mir Komplimente über eines meiner Werke machten; damals hatte ich noch wenig. geschrieben. War das Kompliment gemacht und beantwortet, so wußten wir uns weiter nichts zu sagen. Die Pariser Lobredner, die irgendeine possenhafte Antwort erwarteten, müssen mich sehr linkisch und vielleicht sehr hochmütig gefunden haben. Ich bin daran gewöhnt, für das Gegenteil dessen zu gelten, was ich bin. Meine Bücher betrachtete ich und betrachte sie noch als Lotterielose. Wert lege ich nur darauf, im Jahre 1900 neugedruckt zu werden. Petrarca rechnete auf sein lateinisches Gedicht »Afrika« und dachte nicht an seine Sonette.

Unter denen, die mir Komplimente machten, waren zwei Schmeichler. Der eine, ein großer, schöner Mann von fünfzig Jahren, hatte eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Jupiter Mansuetus. Im Jahre 1821 war ich noch toll von dem Gefühl, aus dem heraus ich vier Jahre vorher den Anfang des zweiten Bandes der »Geschichte der Malerei in Italien« geschrieben hatte.Diese Vorarbeiten gediehen nicht zur Vollendung, da der völlige Mißerfolg des ersten Bandes auf dem Büchermarkt die Drucklegung als unmöglich erscheinen ließ. Dieser schöne Mann und Lobredner sprach mit der Geziertheit von Voltaires Briefen, Er war 1800 oder 1799 in Neapel zum Tode verurteilt worden. Er hieß di Fiore1769-1848. Sein Ebenbild ist der Graf Altamira in »Rot und Schwarz«. und ist mir heute mein liebster Freund. Zehn Jahre lang haben wir uns nicht verstanden; damals wußte ich auf seine geschraubten Voltaireschen Phrasen keine Antwort.

Der zweite Schmeichler hatte herrliches, blondes, englisches Lockenhaar. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein und hieß Edward Edwards, früher ein Tunichtgut auf dem Londoner Pflaster und Kriegskommissar, ich glaube in der Besatzungsarmee des Herzogs von Wellington. Als ich später erfuhr, daß er ein Tunichtgut auf dem Londoner Pflaster und Zeitungsreporter gewesen war, als welcher er stets nach einem berühmten Kalauer fahndete, wunderte ich mich sehr, daß er nicht Industrieritter geworden war. Der arme Edwards besaß eine andre Eigenschaft: er war von Natur durchaus mutig, und zwar so von Natur, daß er sich zwar aller möglichen Dinge mit einer mehr als französischen Eitelkeit rühmte (wenn das möglich ist), und zwar ohne französische Zurückhaltung, aber nie von seinem Mute sprach.

Ich traf Edwards in der Eilpost nach Calais. Einem französischen Schriftsteller gegenüber hielt er sich für verpflichtet, zu reden; das war mein Glück. Ich hatte gehofft, die Landschaft würde mich aufheitern. Aber es gibt nichts so Flaches – wenigstens für mich – als diese Straße über Abbeville, Montreuil usw. Diese langen weißen Straßen, die sich weithin aus einem flachen Hügelland herausheben, hätten mich ohne Edwards' Geschwätz schwermütig gemacht.

Wir fuhren mit einem Manne namens Schmidt, dem früheren Sekretär des kleinlichsten Ränkeschmieds, den es gibt, des Staatsrats Fréville, den ich bei Frau NardonDiese erwähnt Stendhal in seinem Tagebuch von 1806 und 1809. kennen gelernt hatte. Dieser arme Schmidt, anfangs ein ganz ehrlicher Mann, war als politischer Spion geendet. DecazesElie Herzog von Decazes (1780–1860), 1815-20 französischer Polizeiminister. schickte ihn auf die Kongresse, in die Bäder von Aachen.Zum Aachener Kongreß 1818. Stets Ränke spinnend, wurde er zuletzt wohl gar zum Dieb und wechselte alle halbe Jahre die Wohnung. Eines Tages, als ich ihn traf, erzählte er mir, er sei im Begriff, eine Vernunftehe, keine Neigungsheirat einzugehen, und zwar mit der Tochter des Marschalls Oudinot, Herzogs von Reggio. Der hatte allerdings ein ganzes Regiment von Töchtern und bettelte Ludwig XVIII. alle halbe Jahre an.

»Heiraten Sie noch heute abend, lieber Freund«, riet ich ihm ganz überrascht.

Vierzehn Tage darauf erfuhr ich jedoch, daß der Herzog Decazes unglücklicherweise von den Verhältnissen des armen Schmidt erfahren und sich verpflichtet gefühlt hatte, dem Schwiegervater ein Paar Worte zu schreiben. Schmidt war ein ganz guter Kerl und ein leidlicher Reisegefährte.

In Calais beging ich eine große Dummheit. An der Wirtstafel redete ich wie einer, der ein Jahr lang den Mund nicht aufgetan hat. Ich war sehr lustig und betrank mich fast an englischem Bier. Ein englischer Kapitän von einem kleinen Küstenfahrer, ein halber Bauer, machte einige Einwendungen gegen meine Erzählungen. Ich antwortete ihm lustig und freundlich. In der Nacht hatte ich eine furchtbare Verdauungsstörung, die erste im Leben. Ein paar Tage darauf sagte mir Edwards sehr gemessen, wie er selten war, ich hätte in Calais dem englischen Kapitän eine scharfe, keine lustige Antwort geben müssen.

Diesen schrecklichen Fehler beging ich ein andermal in Dresden im Jahre 1813. An Mut fehlt es mir nicht; heute passierte mir dergleichen nicht. Aber in meiner Jugend war ich töricht, wenn ich aus dem Stegreif sprach. Meine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf die Schönheit der Bilder, die ich wiederzugeben suchte. Edwards' Warnung war für mich wie der Hahnenschrei für Petrus. Zwei Tage lang suchten wir den englischen Kapitän in all den gemeinen Kneipen, in denen Leute seines Schlages zu Verkehren pflegen.

Am zweiten Tage, glaube ich, sagte Edwards maßvoll höflich und sogar gewählt zu mir: »Sehen Sie, jedes Volk hat seine Art, sich zu duellieren. Unsere englische ist barock« usw.

Das Endergebnis dieser ganzen Philosophie war seine Bitte, ihn mit dem Kapitän sprechen zu lassen. Es sei hundert gegen zehn zu wetten, daß er mich trotz der nationalen Abneigung gegen die Franzosen keineswegs habe beleidigen wollen. Käme es jedoch zu einem Duell, so bäte er, Edwards, mich, sich an meiner Stelle schlagen zu dürfen.

»Wollen Sie mich etwa zum besten haben?« entgegnete ich.

Es kam zu scharfen Worten, aber schließlich überzeugte er mich, daß er nur mein Bestes gewollt hätte, und so gingen wir wieder auf die Suche nach dem Kapitän. Zwei- bis dreimal fühlte ich, wie mir alle Haare zu Berge standen, denn ich glaubte den Kapitän wieder zu erkennen. Später habe ich mir gesagt, daß die Sache ohne Edwards für mich schwierig gewesen wäre; ich war in Calais trunken von Frohsinn, Geschwätz und Bier. Das war das erstemal, daß ich dem Andenken Mailands untreu wurde.

London rührte mich sehr durch seine Promenaden an der Themse nach Little Chelsea hinaus. Dort standen rosenumrankte Häuschen, die für mich eine wahre Elegie waren. Es war das erstemal, daß mich diese Süßlichkeit rührte. Heute sehe ich ein, daß meine Seele noch immer sehr krank war. Vor jedem ungeschliffenen Menschen hatte ich eine Art Wasserscheu. Die Unterhaltung mit einem dicken, ungebildeten Kaufmann aus der Provinz machte mich für den Rest des Tages blöde und unglücklich, zum Beispiel mit dem reichen Bankier Charles Durand aus Grenoble, der mit mir freundschaftlich plauderte. Diese Jugendanlage, die mir von fünfzehn bis fünfundzwanzig Jahren so viele trübe Stunden bereitet hat, brach mit Macht wieder durch. Ich war so unglücklich, daß ich bekannte Gesichter gern hatte. Jedes neue Gesicht, das mich in gesundem Zustand belustigt, war mir damals zur Last.

Der Zufall führte mich ins Tavistock-Hotel am Covent Garden. Es ist der Gasthof der wohlhabenden Provinzler, die nach London kommen. Mein Zimmer, das in diesem Lande des straffreien Diebstahls stets offen stand, war acht Fuß breit und zehn lang. Dafür frühstückte man in einem Saal, der etwa 100 Fuß lang, 30 breit und 20 hoch war. Dort aß man, was und soviel man wollte, für 2 Shillings. Man bereitete uns endlose Beefsteaks oder setzte uns ein Stück Roastbeef von vierzig Pfund vor und legte ein scharfes Messer daneben. Dann kam der Tee, um all dies Fleisch zu verdauen.

Der Saal ging mit einer Säulenreihe auf den Convent-Garden-Platz. Dort traf ich allmorgendlich etwa dreißig biedere Engländer, die gravitätisch und großenteils mit unglücklicher Miene einhergingen. Das war weder die Geziertheit noch die geräuschvolle Geckenhaftigkeit der Franzosen. Mir sagte es zu; ich fühlte mich in diesem Saal weniger unglücklich. Das Frühstück war für mich nicht nur eine ein- bis zweistündige Ablenkung, sondern eine glückliche Stunde.

Mechanisch lernte ich die englischen Zeitungen lesen, obwohl sie mir im Grunde ganz gleichgültig waren. Später, 1826,Nach dem Bruch mit Menta (Gräfin Curial). war ich sehr unglücklich auf demselben Covent Garden-Platz im Ouakum-Hotel oder einem andern mit ähnlich mißtönigem Namen, dem Tavistock-Hotel gerade gegenüber. Von 1826 bis 1832 habe ich kein Unglück gehabt.

Am Tage meiner Ankunft in London wurde Shakespeare noch nicht gespielt; ich ging ins Haymarket-Theater, das wohl schon geöffnet war. Trotz dem trübsinnigen Aussehen des Theatersaals unterhielt ich mich ganz gut. »She stoops to conquer«, ein Lustspiel von Goldsmith, belustigte mich ungemein durch das Mienenspiel des Schauspielers, der den Gatten der Miß Richland spielte, der sich erniedrigte, um zu siegen. Der Gegenstand ist dem der »Fausses confidences»von Marivaux ähnlich. Ein heiratsfähiges Mädchen verkleidet sich als Stubenmädchen; diese Kriegslist amüsierte mich sehr.

Am Tage durchstreifte ich die Umgegend Londons; oft ging ich nach Richmond. Diese berühmte Terrasse bietet das gleich bewegte Landschaftsbild wie die von Saint-Germain-en-Laye. Nur blickt man wohl aus geringerer Hohe über die Wiesengründe in ihrem saftigen Grün mit den einzelnstehenden, durch ihr Alter ehrwürdigen Bäumen. Von der Terrasse von Saint-Germain jedoch sieht man nur dürres, steiniges Gelände. Nichts kommt diesem frischen Grün und der Schönheit der Bäume in England gleich; sie zu fällen wäre ein Verbrechen und eine Schande, wogegen der französische Besitzer beim geringsten Geldbedürfnis die fünf bis sechs alten Eichen, die auf seinem Grundstück stehen, verkauft. Der Anblick von Richmond und Windsor gemahnte mich an meine teure Lombardei, an die Berge der Brianza, Desio, Como, Cadenabbia, die Kapelle bei Varese, jene schönen Orte, wo meine schönen Tage dahingegangen waren.

In jenen Augenblicken des Glückes war ich so närrisch, daß mir fast keine deutliche Erinnerung geblieben ist, höchstens ein Datum, das ich in ein neu gekauftes Buch eintrug, um den Ort zu bezeichnen, wo ich es las. Wenn ich dies Buch je wiederlese, so hilft mir die geringste Randbemerkung, den Faden meiner Ideen wieder aufzunehmen und ihn weiterzuspinnen. Finde ich beim Wiederlesen eines Buches keine Erinnerung, so muß ich von vorn anfangen.

Eines Abends saß ich auf der Brücke unterhalb der Terrasse von Richmond und las die Memoiren der Mrs. Hutchinson;»Memoirs of the life of Colonel Hutchinson« (London 1806), nach seinem Tode von seiner Gattin Luch aufgezeichnet. John Hutchinson (1615–64 war ein puritanischer Kriegsmann. das ist eine meiner Leidenschaften.

»Mr. Bell!« sagte ein Herr und blieb vor mir stehen.

Es war Herr B..., den ich in Mailand bei Lady Jersey kennengelernt hatte, ein sehr feiner Kopf, in den Fünfzigern, der in der guten Gesellschaft verkehrte, ohne ihr eigentlich anzugehören. In England sind die Klassen ja abgegrenzt wie in Indien, dem Lande der Parias.

»Haben Sie Lady Jersey besucht?« fragte er.

»Nein, dazu habe ich sie in Mailand nicht gut genug gekannt, und die englischen Reisenden sollen, wenn sie über den Kanal zurück sind, etwas an Gedächtnisschwäche leiden.«

»Welche Idee! Gehen Sie hin.«

»Wenn sie mich kalt empfängt und nicht wiedererkennt, so wäre mir das weit peinlicher als die Freude über einen herzlichen Empfang.«

»Haben Sie HobhouseS. S. 439, Anmerk. 1. und BroughamS. S. 487, Anmerk. 1. nicht besucht?«

Die gleiche Antwort.

Herr B..., der die ganze Geschäftigkeit eines Diplomaten besaß, fragte mich nach Neuigkeiten über Frankreich aus. Ich sagte ihm: »Die jungen Leute aus dem Kleinbürgertum, die eine gute Bildung genossen haben und keine Stellung finden, weil alle mit den Günstlingen der Kongregationen besetzt sind, werden diese Kongregationen und bei Gelegenheit auch die Bourbonen stürzen.«

Ich gebe diese Worte mit dem Zusatz wieder, daß mein ungemeiner Widerwille gegen alles, worüber ich sprach, mir anscheinend jene unglückliche Miene gab, ohne die man in England kein Ansehen genießt.

Als B. erfuhr, daß ich Lafayette und de Tracy kannte, sagte er mit dem Ausdruck tiefsten Erstaunens:

»Sie haben Ihre Reise so wenig herausgestrichen? Sie konnten allwöchentlich zweimal bei Lord Holland und bei Lady A... speisen.«

»Ich habe in Paris gar nichts von meiner Reise nach London gesagt. Ich bin nur hergekommen, um Shakespeares Dramen aufführen zu sehen.«

Als B. mich endlich verstanden hatte, hielt er mich für verrückt geworden. Als ich zum erstenmal Allmacks Ballokal besuchte, seufzte mein Bankier beim Anblick meiner Einladungskarte:

»Seit zwanzig Jahren bemühe ich mich, zu diesen Bällen eingeladen zu werden, und Sie werden in einer Stunde da sein.«

Da die englische Gesellschaft wie ein Bambusrohr abgestuft ist, hat ein jeder kein höheres Ziel, als in die nächst höhere Gesellschaftsklasse hinaufzusteigen, und diese Klasse gibt sich die größte Mühe, ihn daran zu hindern. Solche Sitten habe ich in Frankreich nur einmal gefunden, als die Napoleonischen Generale, die sich an Ludwig XVIII. verkauft hatten, durch Kriechereien aller Art in die Salons des Faubourg Saint-Germain zu gelangen suchten. Die Demütigungen, die diese elenden Gesellen täglich einsteckten, würden fünfzig Seiten ausfüllen.

Wohlan, ich glaube nicht, daß die jungen Leute, die 1832 Jura studierten, ihrerseits solche Demütigungen erfahren werden. Sie werden ein einziges Mal eine Niedrigkeit, ja eine Gemeinheit begehen, aber sie werden sich nicht derart von der Verachtung mit Nägeln zerfleischen lassen. Das ist widernatürlich für jeden, der nicht in den Salons von 1780 geboren ist, die von 1804 bis 1830 wieder auflebten. Diese Niedrigkeit, die von der Frau eines Mannes mit blauem Ordensband alles hinnimmt, wird bei den jungen Parisern nicht mehr möglich sein. Und die Stellung Louis Philippes ist zu wenig fest begründet, als daß solche Salons in absehbarer Zeit wieder entstehen könnten.

In England wird die Reformbill die Entstehung von Charakteren wie B. unmöglich machen. Aber er wird es mir nie verzeihen, daß ich meine Reise nicht mehr herausgestrichen habe. Im Jahre 1821 ahnte ich nichts von einer Verworfenheit, die ich erst auf meiner zweiten Reise im Jahre 1826 begriffen habe. Die Diners und Bälle der Aristokratie kosten ein Sündengeld, das in der zwecklosesten Weise ausgegeben wird.

Endlich wurde »Othello« mit Kean angezeigt. Ich wurde fast totgequetscht, bevor ich mein Parkettbillett bekam. Das Anstehen der Menschen erinnerte mich an die schönen Tage meiner Jugend, als wir uns im Jahre 1800 fast totdrücken ließen, um der Erstaufführung von »Pinto« beizuwohnen. (Germinal des Jahres VIII.) Der Unglückliche, der ein Billett zum Covent Garden-Theater haben will, muß in gewundenen, drei Fuß breiten Gängen anstehen, deren Bretterwände durch die Kleider der Wartenden blank gescheuert sind.

Den Kopf voll literarischer Gedanken, stand ich in diese abscheulichen Gänge eingekeilt, bis der Ingrimm mir mehr Kraft verlieh als meinen Nachbaren. Da sagte ich mir: »Jedes Vergnügen ist für mich heute abend unmöglich. Es war recht töricht, mir nicht einen Logenplatz im voraus zu kaufen.«

Zum Glück blickten mich die Leute, denen ich Rippenstöße versetzt hatte, mit gutmütiger, offner Miene an, als ich im Parkett saß. Wir sagten uns ein paar freundliche Worte über die überstandenen Qualen. Da meine Wut vorüber war, überließ ich mich ganz der Bewunderung Keans, den ich bisher nur aus den überschwenglichen Lobsprüchen meines Reisegefährten Edwards kannte. Anscheinend ist Kean ein Kneipenheld mit schlechten Manieren.

Ich entschuldigte ihn leicht: wäre er reich oder im Schoß einer guten Familie geboren, so wäre er nicht Kean, sondern ein kalter Geck. Die Höflichkeit der oberen Klassen in Frankreich und Wohl auch in England ächtet alle Energie und schleift sie ab, wo sie vorhanden sein sollte. Tadellos höflich und jeder Energie völlig bar, so stellte ich mir im Salon der Gräfin de Tracy Herrn von Syon oder irgendeinen jungen Mann aus dem Faubourg Saint-Germain vor, wenn er gemeldet wurde. Und dabei war ich im Jahre 1821 noch gar nicht imstande, die ganze Nichtigkeit dieser blutleeren Wesen zu ermessen. Herr von Syon, der beim General Lafayette verkehrte und später nach Amerika ging, muß im Salon der Madame de la Trémoille für ein Ungeheuer an Energie gelten.

Großer Gott, wie kann man so nichtssagend sein! Wie kann man solche Leute schildern! Solche Fragen stellte ich mir im Winter 1830, wenn ich diese jungen Leute studierte. Damals war es ihre größte Sorge, daß ihre Haartolle ihnen nicht in die Stirn fiel.

Meine Freude, Kean zu sehen, war stark mit Verwunderung gemischt. Die Engländer, ein rauhes Volk, machen ganz andere Gebärden als wir, um die gleichen Seelenregungen auszudrücken.

Der Baron von Mareste und der treffliche Lolot kamen nach London nach; vielleicht war Mareste auch schon mit mir angekommen.

Ich habe ein unglückliches Talent, meinen Geschmack zu übertragen. Oft, wenn ich meinen Freunden von meinen Geliebten erzählte, machte ich sie verliebt, oder, was noch schlimmer ist, ich machte meine Geliebte in den Freund verliebt, an dem ich wirklich hing. Das ist mir mit Madame AzurAlberthe de Rubempré. und Mérimée passiert. Vier Tage lang war ich in Verzweiflung. Als die Verzweiflung nachließ, bat ich Mérimée, meinen Schmerz vierzehn Tage zu schonen.

»Vierzehn Monate«, entgegnete er mir. »Ich finde keinen Geschmack an ihr.«

Lolot, der alles mit Ordnung und Verstand betreibt wie ein Kaufmann, veranlaßte uns, einen Lohndiener zu nehmen. Das war ein kleiner englischer Geck. Die verachte ich mehr als die andern; ist die Mode in England doch kein Vergnügen, sondern eine strenge, unverbrüchliche Pflicht.

Ich besaß gesunden Sinn für alles, was sich nicht auf gewisse Erinnerungen bezog. Ich fühlte sofort die Lächerlichkeit der achtundvierzigstündigen Arbeitszeit des englischen Arbeiters. Der arme zerlumpte Italiener steht dem Glück näher. Er hat Zeit zur Liebe; er widmet sich achtzig bis hundertmal jährlich einer Religion, die ihm um so mehr Spaß macht, als sie ihm Furcht einflößt.

Meine Gefährten lachten mich roh aus. Meine Paradoxie wird zusehends zur Wahrheit, und im Jahre 1840 wird sie ein Gemeinplatz sein. Meine Gefährten hielten mich für völlig verrückt, als ich hinzusetzte: »Die harte, erschöpfende Arbeit des englischen Arbeiters rächt uns für Waterloo und die vier Koalitionen. Wir haben unsere Toten begraben, und die Überlebenden sind glücklicher als die Engländer.«

Lolot und Mareste werden mich zeitlebens für nicht recht bei Troste halten. Zehn Jahre später suchte ich sie zu beschämen. »Heute denkt Ihr wie ich im Jahre 1821 in London.« Sie stritten es ab und in ihren Augen bleibe ich ein Narr. Hiernach kann man sich denken, was mir widerfuhr, wenn ich unglücklicherweise auf die Literatur kam. Mein Vetter Colomb hat mich lange tatsächlich für neidisch gehalten, weil ich zu ihm sagte, die »Lascaris« des Herrn Villemain sei so langweilig, daß man im Stehen einschliefe. Wie wurde es erst, wenn ich von allgemeinen Grundsätzen anfing!

Als ich eines Tages von der englischen Arbeit sprach, fühlte unser Lohndiener, der kleine Laffe, sich in seiner Nationalehre gekränkt.

»Sie haben recht«, sagte ich zu ihm. »Aber wir sind schlecht daran, wir haben keine angenehmen Bekanntschaften.«

»Mein Herr, ich werde die Sache in die Hand nehmen. Ich werde den Handel selbst abschließen. Wenden Sie sich nicht an andre, sonst werden Sie geprellt.«

Meine Freunde lachten. So sah ich mich in eine Weibergeschichte verstrickt, weil ich den Laffen in seiner Ehre gekränkt hatte. Nichts war unerquicklicher und abstoßender als die Einzelheiten dieses Handels, die unser Mann uns am nächsten Tage erzählte, als er uns London zeigte.

Zunächst wohnten unsere Mädchen in einem entlegenen Stadtviertel – Westminster Road –, vorzüglich geeignet, wenn vier Zuhälter und Matrosen ein paar Franzosen durchprügeln wollten. Ein englischer Freund warnte uns vor dieser Falle. »Wissen Sie, daß man Sie eine Meile von London fortlocken will?«

Wir machten also aus, nicht hinzugehen. Am Abend warf mir Lolot einen Blick zu. Ich verstand ihn.

»Wir sind kräftige Leute«, sagte ich, »und haben Waffen.«

Mareste wagte nicht mitzukommen. Wir nahmen eine Droschke und fuhren über die Westminsterbrücke, dann durch häuserlose Straßen zwischen Gärten. Ohne die Langeweile eines Londoner Abends, wenn kein Theater offen ist, wie an jenem Tage, und ohne den leichten Kitzel der Gefahr hätte Westminster Road mich nie gesehen. Endlich, nachdem wir auf der ungepflasterten Straße fast zweimal umgeworfen hatten, hielt der fluchende Kutscher vor einem dreistöckigen Hause, das höchstens 25 Fuß hoch war. Nie habe ich etwas so Winziges gesehen.

Ohne den Gedanken an Gefahr hätte ich es gewiß nicht betreten. Ich machte mich auf drei elende Schlampen gefaßt. Es waren drei kleine Mädchen mit schönem kastanienbraunem Haar, etwas schüchtern, sehr zuvorkommend, sehr blaß. Die Möbel waren von lächerlichster Kleinheit. Lolot ist groß und stark; wir konnten uns nicht setzen; die Möbel waren buchstäblich wie in einer Puppenstube. Wir hatten Angst, sie zu zerdrücken. Unsere kleinen Mädchen sahen unsere Verlegenheit und wurden dadurch selbst noch verlegener. Wir wußten durchaus nicht, was wir sagen sollten. Zum Glück kam Lolot auf den Einfall, von dem Garten zu reden.

»Oh, wir haben einen Garten«, riefen sie, nicht mit Stolz, aber mit einer Art Freude, einen Luxusgegenstand zeigen zu können. Wir gingen mit Lichtern in den Garten hinunter, um ihn zu besichtigen. Er war 25 Fuß lang und 10 Fuß breit. Lolot und ich lachten laut auf. Dort stand das ganze Hausgerät der armen Mädchen, das kleine Waschfaß und ein ovaler Apparat zum Bierbrauen. Ich war gerührt und Lolot abgestoßen.

»Wir wollen bezahlen und abziehen«, sagte er auf französisch.

»Das wird sie sehr demütigen«, versetzte ich.

»Bah, du kennst sie recht! Sie werden sich andre Kunden holen lassen, wenn's noch nicht zu spät ist, oder ihre Liebhaber, wenn es hier so zugeht wie in Frankreich.«

Diese Wahrheiten machten keinen Eindruck auf mich. Ihre Armut, all ihre kleinen Möbel, so sauber und alt, hatten mich gerührt. Wir hatten noch nicht unsern Tee getrunken, als ich mit ihnen so intim war, daß ich ihnen in meinem schlechten Englisch unsere Furcht anvertraute, ermordet zu werden. Sie waren ganz verwirrt darüber.

»Aber schließlich«, fuhr ich fort, »ist der beste Beweis, daß wir euch trauen, doch, daß ich euch das alles erzähle.«

Wir schickten den Diener fort. Nun behandelte ich sie wie zärtliche Freundinnen, die ich nach einer langen Reise wiedersah. Das Traurige dabei ist, daß ich während meines Aufenthaltes in England unglücklich war, wenn ich meine Abende nicht in diesem Hause beschließen konnte.

Keine Tür schloß – ein neuer Grund zu Verdacht, als wir uns zu Bett legten. Aber wozu hätten auch Türen mit guten Schlössern genutzt? Mit einem Faustschlag hätte man überall die dünnen Ziegelwände einschlagen können. In diesem Hause war alles zu hören. Lolot, der im zweiten Stock in dem Zimmer über mir war, rief mir zu: »Wenn du ermordet wirst, rufe mich!«

Ich wollte das Licht brennen lassen, aber meine neue Freundin, so willig sie sonst war, wollte das aus Schamhaftigkeit keinesfalls zugeben. Sie schrak zusammen, als ich meine Pistolen und meinen Dolch auf den Nachttisch neben dem Bette legte, das dicht bei der Tür stand. Sie war reizend, klein, gut gebaut und bleich. Niemand ermordete uns.

Um uns für den Tee erkenntlich zu zeigen, ließen wir am nächsten Morgen Mareste durch den Lohndiener holen und ihm sagen, er solle kaltes Fleisch und Wein mitbringen. Er erschien sehr bald mit einem guten Frühstück, höchst betroffen ob unserer Begeisterung. Die beiden Schwestern ließen eine ihrer Freundinnen holen. Wir ließen ihnen den Wein und das kalte Fleisch zurück, dessen Güte die armen Dinger zu überraschen schien.

Sie glaubten, wir wollten sie zum besten haben, als wir sagten, wir würden wiederkommen. Meine Freundin nahm mich beiseite und sagte zu mir:

»Ich würde nicht ausgehen, wenn ich hoffen könnte, daß Sie heute abend wiederkommen. Aber unser Haus ist zu ärmlich für Leute wie Sie.«

Den ganzen Tag lang dachte ich an den holden, süßen, friedlichen Abend (full of snugness), der meiner harrte. Das Theater kam mir lang vor. Lolot und Mareste wollten all die schamlosen Dirnen sehen, die das Foyer des Covent Garden-Theater bevölkerten. Schließlich langte ich mit Lolot in unserm Häuschen an. Als die armen Mädchen mehrere Flaschen Weißwein und Champagner auspacken sahen, machten sie große Augen. Ich glaube, sie hatten noch nie eine volle Flasche richtigen Champagner gesehen. Zum Glück knallte der Pfropfen der unsern.

Sie waren selig, aber ihre Freude blieb ruhig und anständig. Ihr Benehmen war durchaus anständig. Das war der erste wirkliche innere Trost für das Unglück, das alle meine einsamen Stunden vergiftete. Wie man sieht, war ich 1821 erst zwanzig Jahre alt. Wäre ich achtunddreißig alt gewesen, wie mein Taufschein zu beweisen schien, ich hatte diesen Trost in Paris bei anständigen Frauen suchen können, die mir ihre Sympathie bekundeten. Trotzdem zweifle ich manchmal, ob mir das gelungen wäre. Jenes sogenannte Wesen der großen Welt, infolgedessen Frau de Marmier anders aussieht als Frau Edwards, erscheint mir oft als verdammenswerte Unnatur und verschließt mir zeitweise hermetisch das Herz. Das ist ein großes Unglück für mich. Geht es anderen ebenso? Die geringsten Nuancen verletzen mich tödlich. Etwas mehr oder weniger von den Manieren der großen Welt läßt mich innerlich ausrufen: »Bourgeoisweib!« oder »Puppe vom Boulevard Saint-Germain!« Und sofort habe ich nur noch Ekel oder Ironie für meine Nächsten übrig.

Alles lernt man kennen, nur sich selbst nicht. »Ich bin weit entfernt, alles zu kennen«, würde ein höflicher Mann aus dem vornehmen Faubourg Saint-Germain hinzufügen, der stets darauf bedacht ist, sich vor der Lächerlichkeit zu schützen. Wenn ich krank war, haben meine Arzte mich wegen meiner »nervösen Reizbarkeit« mit Vorliebe als Monstrum behandelt. Einmal fror ich, weil ein Fenster im Nebenzimmer offen stand, obwohl die Tür geschlossen war. Der geringste Geruch (ausgenommen schlechter) schwächt meinen Arm und mein linkes Bein und ich habe die Neigung, nach dieser Seite zu fallen.

Welch abscheulicher Egotismus liegt in all diesen Einzelheiten! – Gewiß, aber was ist dies ganze Buch, wenn nicht abscheulicher Egotismus? Wozu pedantische Ziererei zur Schau stellen, wie gestern Herr Villemain in seinem Artikel über Chateaubriands Verhaftung! Ist dies Buch langweilig, so wird man in zwei Jahren die Butter beim Krämer damit einwickeln. Ist es nicht langweilig, so wird man erkennen, daß der Egotismus, aber nur der ehrliche, ein Mittel zur Schilderung des Menschenherzens ist, in dessen Kenntnis wir seit 1721 – seit dem Erscheinen der »Lettres persanes« des großen Montesquieu, den ich so eifrig studiert habe – Riesenfortschritte gemacht haben. Der Fortschritt ist bisweilen so erstaunlich, daß Montesquieu grob erscheint.Ich bin glücklich, während ich dies schreibe. Die Amtstätigkeit hat mich seit drei Tagen (Juni 1832) fast Tag und Nacht in Anspruch genommen. Um vier Uhr, wenn meine Briefe an das Ministerium gesiegelt sind, könnte ich eine Phantasiearbeit nicht fortsetzen. Dies hier schreibe ich ohne Anstrengung und ohne andere Mühe und einen anderen Plan als den, mich zu erinnern. (Anmerkung Stendhals.)

Ich war mit meinem Londoner Aufenthalt so zufrieden, seit ich den ganzen Abend in schlechtem Englisch gemütlich sein konnte, daß ich den Baron, der wieder in den Dienst mußte, und Lolot, den seine Geschäfte zurückriefen, nach Paris abreisen ließ. Trotzdem war ihre Gesellschaft mir sehr angenehm gewesen. Ich vermied Kunstgespräche, die stets ein Stein des Anstoßes bei meinen Freunden waren.

Die Engländer sind wohl das fühlloseste und barbarischste Volk auf Erden. Darum verzeihe ich ihnen ihre Schändlichkeiten von Sankt Helena. Sie hatten kein Gefühl dafür. Gewiß würde ein Italiener, wenn man ihn bezahlt, ja selbst ein Deutscher sich einbilden, Napoleon überlegen zu sein. Die biederen Engländer, denen unaufhörlich der Abgrund des Hungertodes droht, wenn sie einen Augenblick nicht arbeiten, verscheuchen den Gedanken an Sankt Helena, wie sie den Gedanken an Raffael verscheuchen, weil sie dabei Zeit verlören. Das ist alles.

Als ich allein war, kämpfte in mir der Gedanke an die Ehrbarkeit der englischen Familie, die mit 10 000 Franken lebt, mit dem an die völlige Sittenverderbnis des Engländers, der kostspielige Neigungen hat und sich an die Regierung verkauft, um diese Neigungen zu befriedigen. Infolge des Widerstreits dieser beiden Gedanken reiste ich ab, ohne zu wissen, ob man England eine Schreckenszeit wünschen solle, die diesen Augiasstall reinigte.

Das arme Mädchen, bei dem ich die Nächte verbrachte, beteuerte mir, sie würde Äpfel essen und mir nichts kosten, wenn ich sie nach Frankreich mitnehmen wollte. Das hätte mir manche pechschwarze Stunde erspart. Zu meinem Unglück ist die Geziertheit mir derart zuwider, daß es mir schwerfällt, gegen eine Französin schlicht, aufrichtig, gut, kurz, recht deutsch zu sein.

Eines Tages wurde angekündigt, daß acht arme Teufel gehenkt werden sollten. Wenn in England ein Dieb oder ein Mörder gehenkt wird, so ist es in meinen Augen ein Opfer, das die Aristokratie zu ihrer Sicherheit schlachtet, denn sie hat ihn zum Verbrechen gezwungen. Diese Wahrheit, so paradox sie heute ist, wird vielleicht ein Gemeinplatz sein, wenn man mein Geschwätz liest.

Die Nacht hindurch sagte ich mir, es sei Pflicht des Reisenden, derartige Schauspiele und ihre Wirkung auf ein noch bodenständiges Volk (who has raciness) anzusehen. Aber am nächsten Morgen um acht Uhr, als ich geweckt wurde, regnete es in Strömen. Die Sache, zu der ich mich zwingen wollte, war so peinlich, daß ich mich des Kampfes noch erinnere. Ich habe dem gräßlichen Schauspiel nicht beigewohnt.


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