Stendhal
Bekenntnisse eines Ichmenschen
Stendhal

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Zwölftes Kapitel

Der gefälschte Brief

Rom, 14. Dezember 1835.

Es wurden Jugendwehrbataillone formiert. Ich brannte darauf, ihnen anzugehören, wenn ich sie vorbeimarschieren sah. Heute erkenne ich, daß es eine vorzügliche Einrichtung war, die einzige, durch die man den Jesuitismus in Frankreich ausrotten kann. Anstatt in der Kapelle zu spielen, wird die kindliche Phantasie mit Gedanken an Krieg und Gefahren vertraut. Zudem sind die jungen Leute, wenn sie mit zwanzig Jahren einberufen werden, schon einexerziert, und statt vor dem Unbekannten zu bangen, denken sie an ihre Kinderspiele zurück.

Die Schreckenszeit war in Grenoble so wenig schrecklich, daß die Aristokraten ihre Kinder nicht hinschickten. Ein Abbé Gardon, der aus der Kutte gesprungen war, leitete die Jugendwehr. Ich beging eine Fälschung, nahm ein Stück Papier in Querformat und schrieb, seine Handschrift nachahmend, an den Bürger Gagnon, er solle sein Enkelkind, Henri Beyle, nach Saint-André schicken, damit er in die Jugendwehr aufgenommen würde. Der Brief schloß: »Heil und Brüderlichkeit – Gardon.«

Schon der Gedanke, nach Saint-André zu kommen, war für mich der Gipfel des Glückes. Meine Angehörigen bewiesen wenig Einsicht; sie ließen sich durch diesen Knabenbrief täuschen, der mindestens hundert Verstöße gegen die Wahrscheinlichkeit enthielt. Sie zogen einen kleinen Buckligen, namens Tourte, zu Rate, einen richtigen »Krötenschlucker«, der sich durch seine Kriecherei ins Haus eingeschlichen hatte. Wird man das im Jahre 1880 überhaupt noch verstehen?

Dieser Tourte, der einen scheußlichen Buckel hatte, war expedierender Sekretär in der Departementsverwaltung.Er gab Pauline Schreibunterricht. Ich sehe ihn noch mit wichtiger Miene Federn schneiden. Er trug eine Brille mit Gläsern von der Dicke eines Flaschenbodens. (Anmerkung Stendhals.) Er hatte sich als subalternes Wesen ins Haus eingeschlichen, schmeichelte allen und nahm nichts übel. In seiner Eigenschaft als amtlicher Schreiber kannte er offenbar die Unterschrift Gardons. Er verlangte meine Schrift zu sehen, verglich sie mit bureaukratischem Scharfsinn, und mein armseliger Kniff, um aus meinem Käfig hinauszukommen, wurde entdeckt. Während man über mein Schicksal beriet, wurde ich in das Naturalienkabinett meines Großvaters eingesperrt, von dem man auf unsere prächtige Terrasse gelangte. Dort vergnügte ich mich damit, eine rote Tonkugel in die Luft zu werfen. Ich befand mich in der Lage eines jungen Deserteurs, der erschossen werden soll...

In diesem Vorraum der Terrasse hing eine prächtige, vier Fuß breite Wandkarte des Dauphiné. Mein Großvater hing sehr an ihr. Meine Tonkugel streifte beim Herunterfallen diese kostbare Karte und zog einen langen roten Strich darüber hin. Ich dachte: »Da beleidige ich meinen einzigen Beschützer.« Und mir tat es zugleich sehr leid, etwas für ihn Unangenehmes getan zu haben.

Da wurde ich gerufen, um vor meinen Richtern zu erscheinen, Seraphie voran und neben ihr der scheußliche Bucklige. Ich hatte mir vorgenommen, wie ein Römer zu antworten, d. h. ich wollte dem Vaterland dienen; das sei meine Pflicht und mein Vergnügen usw. Aber das Bewußtsein meiner Sünde gegen meinen trefflichen Großvater (der rote Strich), den ich wegen des Schreckens, der ihm der mit Gardon unterzeichnete Brief bereitet hatte, leichenblaß sah, rührte mich, und ich glaube, ich benahm mich kläglich. Ich habe stets den Fehler gehabt, mich durch das geringste unterwürfige Wort von Leuten, auf die ich wütend war, rühren zulassen. Nie war ich meines Zornes sicher. Leider büßte ich durch meine Herzensschwäche (nicht Charakterschwäche) meine vorzügliche Lage ein. Ich hatte mir vorgenommen, damit zu drohen, daß ich selbst zum Abbé Gardon gehen und ihm sagen würde, daß ich dem Vaterland dienen wolle. Das erklärte ich auch, aber kleinlaut. Selbst mein Großvater verurteilte mich nun; der Spruch lautete dahin, daß ich drei Tage lang nicht bei Tisch mitessen sollte. Kaum war ich verurteilt, so verflog mein Zartgefühl und ich wurde wieder zum Helden.

»Lieber allein essen«, sagte ich, »als mit Tyrannen, die mich immerfort schelten.«

Der kleine Tourte wollte mich schulmeistern, aber ich fiel ihm ins Wort: »Schämen Sie sich und schweigen Sie still. Sind Sie mein Verwandter, so zu mir zu reden?«

Er wurde puterrot hinter seinen Brillengläsern.

»Aber als Freund der Familie«, wandte er ein.

»Ich lasse mich von einem Manne wie Sie nicht schelten.«

Diese Anspielung auf seinen Riesenbuckel brachte ihn zum Schweigen.

Als ich das Zimmer meines Großvaters verließ, in dem dieser Auftritt stattgefunden hatte, war ich in finsterer Laune. Ich hatte das undeutliche Gefühl, daß ich ein Schwächling war; je mehr ich darüber nachsann, um so mehr grollte ich mir.

Wenn der Sohn eines notorisch Verdächtigen, der durch immerwährende Aufschübe noch immer nicht eingekerkert war, den Abbé Gardon bat, dem Vaterland dienen zu dürfen – was konnten meine Verwandten, die jeden Sonntag mit achtzig Menschen zur Messe gingen, dagegen einwenden?

Infolgedessen machte man mir auch vom nächsten Tage an den Hof. Aber dieser Vorfall, den Seraphie mir bei der nächsten Szene gleich wieder vorwarf, errichtete eine Scheidewand zwischen mir und meiner Familie. Ungern gestehe ich es: meine Liebe zu meinem Großvater ließ nach, und zugleich erkannte ich deutlich seine Schwäche: er fürchtete sich vor seiner Tochter Seraphie! Nur meine Großtante Elisabeth blieb mir treu. Meine Verehrung für sie nahm denn auch noch zu.

Soviel ich mich entsinne, bekämpfte sie meinen Haß gegen meinen Vater und schalt mich tüchtig aus, als ich ihn einmal im Gespräch mit ihr diesen Mann nannte... Meine Großtante Elisabeth besaß eine spanische Seele. Sie teilte mir diese Gefühlsweise in vollem Maße mit; daher alle meine lächerlichen Torheiten aus Zartgefühl und Seelengröße. Diese Torheit ließ bei mir erst im Jahre 1810 nach, als ich die Gräfin DaruIm Urtext Madame Petit. liebte. Aber selbst heute sagte der treffliche di Fiore zu mir: »Sie spannen Ihre Netze zu hoch« (Thukydides).

Meine Großtante Elisabeth besaß eine ziemliche Verachtung für das Fontenellesche Wesen ihres Bruders (meines Großvaters), zeigte sie aber nicht. Sie vergötterte meine Mutter, sprach aber von ihr nie gerührt wie er. Ich glaube, ich habe sie nie weinen gesehen. Sie hätte mir alles eher verziehen, als daß ich meinen Vater »diesen Mann« nannte... Eines Tages, als wir von meiner Mutter sprachen, sagte sie zu mir, sie hätte gar keine Zuneigung zu ihm gehabt. Dies Wort war für mich äußerst bedeutsam. War ich doch im Herzensgrunde noch immer eifersüchtig auf meinen Vater. Ich erzählte diese Äußerung Marion, die mich vollends beglückte, als sie mir erzählte, im Jahre 1780, als meine Mutter heiraten sollte, hätte sie einmal zu meinem Vater, der ihr den Hof machte, gesagt: »Laß mich zufrieden, häßlicher Kerl.«

Ich sah damals nicht das Gemeine und Unwahrscheinliche dieses Wortes; ich erfaßte nur den Sinn, der mich entzückte. Tyrannen sind oft ungeschickt; darüber habe ich im Leben vielleicht am meisten gelacht... Die größte Dummheit meiner Tyrannen bestand eben darin, daß mein Großvater sich die Brille aufsetzte und der ganzen Familie laut alle Zeitungen vorlas. Ich verlor keine Silbe davon: Und im Herzen machte ich mir Kommentare, die das genaue Gegenteil derer wären, die ich hörte. Seraphie war eine fanatische Frömmlerin, mein Vater, der bei dieser Lektüre oft fehlte, ein ausgesprochener Aristokrat, mein Großvater ein gemäßigter Aristokrat; er haßte die Jakobiner vor allem als schlecht gekleidete, ungebildete Leute. Meine Großtante Elisabeth verabscheute nur die Hinrichtungen.

Die Titel dieser Zeitungen, von denen ich jedes Wort verschlang, lauteten: Perlets »Journal des hommes libres« – ich sehe es noch vor mir –, das »Journal des Débats et des Décrets« und das »Journal des Défenseurs de la patrie«... Bisweilen war mein Großvater erkältet, und ich mußte dann vorlesen. Welche Ungeschicklichkeit von seiten meiner Tyrannen! Das ist, wie wenn die Päpste eine Bibliothek gründen, statt alle Bücher zu verbrennen, wie der Kalif Omar. Diese Zeitungslektüre dauerte, glaube ich, noch ein Jahr über Robespierres Tod hinaus und nahm allmorgendlich zwei Stunden in Anspruch. Ich entsinne mich nicht eines einzigen Males, wo ich mit meinen Angehörigen gleicher Meinung war. Ich war so klug, den Mund zu halten; und wenn ich einmal reden wollte, gebot man mir Schweigen, statt mich zu widerlegen. Heute erkenne ich, daß diese Lektüre ein Mittel gegen die furchtbare Langeweile war, in die meine Familie seit dem Tode meiner Mutter und dem Abbruch aller geselligen Beziehungen versunken war...

Herr Durand kam nach wie vor ein- bis zweimal täglich ins Haus, ich glaube allerdings zweimal, und zwar aus folgendem Grunde. Ich hatte das unglaublich törichte Alter erreicht, wo man den Lateinschüler Verse machen läßt, um zu sehen, ob er poetische Begabung hat. Aus jener Zeit stammt meine Abscheu vor Versen. Um diese poetische Begabung bei mir zu entwickeln, brachte Herr Durand einen abscheulich fettigen und schmutzigen Duodezband mit. Hatte mich schon die Unsauberkeit der Ariostausgabe von de Tressan abgeschreckt, obwohl ich Ariost vergötterte, so kann man sich die Wirkung des schwarzen Buches des Heim Durand denken, der selbst ziemlich schlecht gekleidet war. In dem Buche stand das Gedicht eines Jesuiten über eine Fliege, die in einer Satte Milch ertrinkt. Der Witz dabei war der Gegensatz zwischen der weißen Milch und der schwarzen Fliege, dem süßen Trank, den sie sucht, und dem bittern Tode. Durand diktierte mir nun Verse, indem er die schmückenden Beiwörter fortließ, zum Beispiel:

Musca (Beiwort) duxerit annos(Beiwort) multos (andres Wort). Ich schlug den Gradus adä parnassum auf, las alle Beiwörter für muscadurch, volucris, avis, nigra, und wählte das aus, das zu dem Versmaß paßte, also nigrafür musca, felices für annos.

Der schmutzige Schmöker und die Geistlosigkeit dieser Arbeit ekelte mich dermaßen an, daß mein Großvater regelmäßig um zwei Uhr die Verse selbst gemacht hatte, während er mir anscheinend half. Um sieben Uhr abends kam Herr Durand wieder und machte mir den Unterschied zwischen meinen Versen und denen des Jesuitenpaters klar. Es bedarf durchaus des Wetteifers, um solche Albernheiten herunterzuwürgen. Mein Großvater erzählte mir von seinen Streichen auf der Schule, und ich sehnte mich nach der Schule: dort konnte ich doch wenigstens mit Altersgenossen sprechen.

Bald sollte ich diese Freude haben. Es wurde eine Zentralschule eingerichtet, und mein Großvater gehörte zum Organisationsausschuß. Er ließ Herrn Durand zum Lehrer ernennen.


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