Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Sie wandern in den Wald hinaus

Ein grelles Schallen schreckte des andern Morgens die beiden Fremden aus dem Schlafe. Die Glocke des nahen Kirchturms läutete zum »englischen Gruß«.

Im Hause war es noch still, aber draußen knarrten die Schritte der Mähder, die über den steinigen Weg den taunassen Wiesen zugingen. In den Sensen, die sie auf den Achseln trugen, spiegelte sich das Morgenrot.

Unsere Reisenden waren bald angekleidet. Das Mädchen hatte sein Angesicht mit kaltem Wasser gewaschen und dabei zur Verwunderung recht warme und rote Wängelchen bekommen. Ferdinand hätte nun gern mit der Wirtin über ein gutes Frühstück verhandelt; allein die Kirchenschneiderin war noch nicht zu finden.

Anna drängte ins Freie und zur Wanderschaft, bevor noch die Siebenschläfer des Dorfes erwachten und sich den Bergfahrern etwa an die Ferse hängen konnten.

Es war ein Sommermorgen, wie das Mädchen noch keinen erlebt hatte. Der reine, kühle Waldhauch, das freudige Geschrei der Vöglein all, das Aufgehen der Blumenknospen, das Glitzern des Taues, die tiefe, wolkenlose Bläue des Himmels über den klaren Waldbergen, auf deren Höhen bereits das Gold der Morgensonne lag.

Sie waren aus dem Bereiche des Dorfes gekommen, sie gingen einen Fußsteig entlang über die Wiesen hin.

Der kleine graue Alte hüpfte und tanzte auf dem Rasen und sang:

Weil ich nur einmal
Heraus aus dem Städtle bin,
Städtle bin!
Weil ich nur einmal
Allein mit mein' Mädle bin,
Mädle bin! . . .

»Ja, du Närrl!« rief er dann dem Mädchen zu, »auf so einem Boden ist freilich das Liedeldichten keine Kunst!«

Anna hob das Kleid ein klein wenig und schritt still und gelassen über den Teppich von frischen Gräsern und Vergißmeinnicht. Sie senkte ihr großes Auge auf die Pracht des Fußbodens, und um ihre roten Lippen zuckte ganz leise die Freude.

Der Weg war ihnen vorgeschrieben. Sie gingen über die Wiesen und Auen einem dunkeln Schachen zu, hinter welchem die Turmspitze eines Waldkirchleins schimmerte. Sie gingen unter finsteren Tannen hin, sie gingen über Blößen und Weiden, auf welchen ihnen schon die Sonne entgegenkam, und von denen aus man den Blick ins Rattensteinertal und auch den ersten Blick in die Schroffen hat. Sie gingen an einem verkommenen Bauerngehöfte vorüber, sie hörten das Geläute der Herden und das Jodeln der Hirten. Anna horchte, sie meinte, alles, was hier gesungen werde, müßte vom Waldsing sein – aber es waren Lieder ohne Worte.

Sie konnte es nicht lassen, sie hob ihre Stimme:

Mitten im Gebirg'
Auf der Felsenwand:
Mägdlein an der Seit',
Büchslein in der Hand,
Und ein Herz im Leib,
Mut und Treu' darin,
Gott sei Dank, daß ich
Ein Älpler bin!

Mit diesen Worten des Waldsing wollte sie das Selbstbewußtsein des jodelnden Hirten wecken.

Dann gingen sie ein Gehänge entlang, kamen auf einem Hohlpfad wieder durch den Wald und gelangten auf einen breiteren Fahrweg, auf welchem sie nun stundenlang wandeln sollten.

Der Weg stieg, engen Schluchten ausweichend, sachte die Lehne des Bergzuges hinan, stets durch jungen Wald von Tannen und hellgrünen Lärchen. Oftmals war der Blick frei in das besonnte Tal, aus welchem sie herangestiegen, und in welchem die Dörfer, die weißen Punkte der Höfe lagen, in welchem der lichte Streifen der Landstraße, die scharfe Linie der Eisenbahn und das glitzernde Band des Flusses sich schlängelten.

Sie kamen durch größere Wälder, in welchen die braunen Schäfte der Bäume hoch hinauf kahl waren, aber schwere Kronen keinen Sonnenstrahl niederfallen ließen auf den feuchten Grund der Straße und den glatten, heidekrautlosen Waldboden. Zuweilen standen die Wanderer still und horchten dem Hacken des Spechtes und dem Geknister, wenn ein flinkes Reh über das Gefälle setzte. Dann wieder war Ruhe und nur jenes Flüstern, von dem der Liedermann sang:

Wenn das Hochlüftchen weht,
So träumt der lieb' Wald,
So säuseln alle Ästlein,
So singen alle Blättlein
Ein wundersam Lied.

Im Wald hüpft' das Herz auf,
Und wär' es von Stein.
Unter grünenden Kronen,
Im Wald möcht' ich wohnen,
Im Wald ganz allein.

Weiterhin kam niederes Strauchwerk, über welches die Augen in langgestreckte Schluchten sehen konnten, und in eine Gegend hin, wo nichts war als Wald und Wald; hier im tiefen Tone der Tannen und Fichten, dort im milden Grün der Buchen, Ahorne und Gesträuche. Wohl stieg zuweilen auch ein blaues Nebelchen auf über die Wipfel, zeugend von Kohlenstätten und versteckten Menschenwohnungen. – Das war schon die Einöde, die Heimstätte der »Waldlieder« und ihres Sängers.

Zwischen Erlen- und Haselsträuchern rieselte eine Quelle. Unsere Wanderer setzten sich daneben auf einen moosumsponnenen Stein, und Anna sagte: »Ferdinand, jetzt werden wir in der Einöde frühstücken.«

»Es ist der Rabe noch nicht da«, antwortete der Alte.

»Frage einmal deine tiefen Taschen aus«, schlug das Mädchen vor.

»Er ist noch nicht da,« wiederholte der Alte, »der Rabe, der uns das Brot vom Himmel bringen soll, wie dem heiligen Antonius.«

Nun, in Ermangelung eines himmlischen Brotes genossen sie ein irdisches Brathuhn, das der Alte in seiner Ledertasche vorfand. Dazu tranken sie von der Quelle, und Anna trank in ihrer Herzenslust ein wenig über den Durst.

Dann gingen sie wieder; im Brombeerstrauch trillerte eine Amsel, der rief das Mädchen zu: »Grüß' dich Gott, Vögerl! Singst du auch Waldlieder?«

Das Tier flog nicht davon, ja es hüpfte noch über etliche Zweige dem Mädchen zu und hob sein Schnäblein und sang recht freudig.

Dann hub wieder der finstere Wald an, links und rechts am Wege. Dann standen die Wanderer vor einem rotangestrichenen Kreuze, daß Anna völlig erschrak. Hier waren Seitenstiege. Das Mädchen hatte die Dreistigkeit, einen heranführenden Holzführer zu fragen: »Wie geht der Weg zum Heidehaus?«

»Schöne Jungfrau,« antwortete der Holzführer, »der Weg geht nicht zum Heidehaus. Den müßt Ihr selber gehen.«

»Ist schon recht,« sagte Ferdinand, »ich kenne den Spaß auch.«

»Wir fragen nur, ob man hier zum Hause des Gabriel Stammer kommt?«

»Nein.«

Die beiden erschraken. Der Holzhauer fuhr fort: »Ihr meint den Heidepetersohn. Der hat gar kein Haus, der streicht in der weiten Welt herum und ist der Überall- und Nirgendsdaheim. Hab' gehört, er soll viel bei den großen Herren in der Stadt leben. Hat auch recht; besser geht's ihm wie unsereinem.«

»Aber sein Geburtshaus möchten wir sehen.«

»Wollt ihr's kaufen?« war die Frage. »Ich sag' euch's redlich, Leut', an dem Haus ist gar nichts, 's ist eine alte Hütten; schade um die Schuh'. Jetzt wohnt der Alte, der Vater vom Gabriel, wieder drin. Laßt sich nicht wegbringen von der Hütten. Dieser Weg hat in einer halben Stunde rechts einen Fußsteig seitlings bergan, und der Fußsteig geht beim Heidehaus vorbei.«

Hierauf gingen sie der Weisung gemäß weiter. Sie kamen in ein waldschattiges Tal hinab.

Da rauschte ein Bach unter Wildgefälle und zwischen braunem Gestein. Kleine Wiesen und Äcker lagen oder lehnten an den Hängen. Hie und da stand unter Schutztannen halb versteckt eine Hütte aus Holz, ein Ziegenstall dabei, ein Krautgärtlein daneben. Und weit oben, wo das Tal zur freien Höhung ansteigt, von einer trotzigen Fichtengruppe bewacht, fanden unsere Wanderer endlich ihr Ziel.

»Hätten wir doch einen Maler bei uns!« rief Ferdinand, als er das Haus sah. Und in der Tat, es schaute malerisch aus. Eine morsche Wand, ein Bretterdach, von dem die knochenbleichen Latten und Balken niederhingen. Die Fenster waren teils mit Holzgitter verwahrt, die Türpfosten waren in die Schiefe gesunken, so daß sich die Tür nicht mehr in den Falz fügen wollte und dem Winde zum Spiel knarrend auf und zu schlug. Vor dem Antrittsteine wuchs das Gras, an der Wand hin wuchs das Brennkraut, und die Untermauerung des hölzernen Baues bröckelte dazwischen hervor. Ein Heer von Schwalben umkreiste hell zwitschernd das alte, hinsterbende Haus.

Anna stand da wie ein Bäumchen. Mit Scheu und Verehrung blickte sie, die aus einem Stadthause kam, diesen Bau an. Hier also war der Waldsing geboren! Und in der Gegend nichts als Wald und etliche arme verkommene Menschen. – Wieso hat es sich zugetragen?


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