Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

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Gabriel geht davon

Das war ein trüber, ein stürmischer Septemberabend gewesen. Der Nordwind hatte den Wipfel einer Tanne geknickt und herabgeschleudert auf Heidepeters Feldkasten, daß die Hausbewohner glaubten, der Blitz habe eingeschlagen.

An demselben Abend war's, als Gabriel den Seinen vertraute, daß er fortziehen wolle in die weite Welt.

»Du Halbnarr!« rief der Heidepeter aus, »und uns willst 'leicht verhungern lassen, jetzt, wo du groß wirst und arbeiten kannst?«

Gabriel sagte kein Wort mehr; die Rede seines Vaters war ihm gewesen wie ein Eisenhammer; mit einem Schlage war sein Vorschlag vernichtet.

»Wer weiß auch,« tröstete ihn Rudolf, »in welche Hände du geraten wärest; vielleicht hätten sie dich in der Stadt an Juden verkauft und über das Meer geliefert. Es geschieht allerlei draußen in der Welt; man liest es ja.«

Aber Gabriel hatte von dieser Zeit an seine Ruhe verloren; schweigsam und betrübt war er. Mehr als je hielt er sich an die Arbeit, doch manches Geschäft richtete er verkehrt. Niemand ahnte, welchen Kampf er in seinem Innern kämpfte.

Wie steht es geschrieben? – Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es dir wohl ergehe auf Erden.

Also dein Wohl will der Herr. Und du wirst Vater und Mutter ehren und im Andenken bewahren, auch wenn du ihnen fern bist, und du wirst draußen in der Welt das Vermögen sammeln, deinen Eltern ein sorgenloses Alter zu bereiten.

Aber eine andere Stimme rief:

– Wenn du ein gutes Kind bist, so wirst du deinen Eltern zur Seite stehen in Krankheit und Not, wirst sie unterstützen mit deiner Kraft und trösten mit deinem Herzen. An wen soll sich ein armes Greisenpaar wenden unter rohen Menschen, wenn sein eigenes Kind es verläßt? –

Gabriel beschloß, sich den Seinen zu opfern.

– Aber wenn du in der Einöde bleibst und deine schönsten Jahre vergräbst unter das Gestein der Heide, wie du deine Kindheit vergraben hast – ist dir und den Deinen damit gedient? Ist dein Opfer für sie nicht ein größeres, wenn du ein fruchtbares Feld suchest und ihnen die reiche Ernte gibst?

Solche Gegensätze stritten in seiner Seele, und sein Gesicht wurde dabei fahl.

Da sagte Klara einmal zu ihrem Manne:

»Ich hab' sonst kein scharfes Aug', aber dasselb' kenn' ich, unserem Buben fehlt was. Ich sag', es ist doch kein Leben für ihn in dieser Wildnis.«

»Hebst du auch an?« versetzte der Peter, »zugrund gingen wir, wenn der Bub nicht wär'!«

»Versündige dich nicht, wenn du allweg vom Zugrundegehen sagst; den Buben kann uns der Herrgott über Nacht nehmen, und die alten Leut' haben gesagt: Auf Gott vertrau' und nicht auf die Menschen bau'!«

»Und die alten Leut' haben auch gesagt: Mensch, hilf dir selbst, so wird dir auch Gott helfen. Wenn uns aber der Bub davongeht, so können wir uns nicht helfen!«

»Und wenn er dableibt, können wir uns auch nicht helfen, und er kann sich selber nicht helfen, und wenn wir uns ins Grab legen, verlassen wir ein unglückliches Kind auf der Welt. Der Gaberl hat mehr Glück und Schick für was anderes als für unsere Einödrackerei, und ich geb' meinen Willen dazu, wenn er was anderes probieren will, und ich trag' mit Freuden den Bettelstab, wenn ich weiß, daß es unserem Kind gut geht. Das wären leicht schlechte Eltern, die ihr Kind vom Glück wegstießen.«

Da sagte der Heidepeter denn doch endlich:

»Wenn er fort will, es ist recht, soll's halt auf Gottes Wegen probieren!«

Sie offenbarten dem Sohne, daß er ihren Segen habe, ja, daß sie es, recht betrachtet, nach allem, was besonders bei der Christenlehre vorgefallen war, für geraten fänden, wenn er von diesen harten Leuten, die ihm so übel wollten, in Gottes Namen für eine Zeit fortzöge. – Da wurde Gabriel lebendig. Die Vorbereitungen zur Abreise, rasch führte er sie nun zu Ende. Die Nachbarn, als sie das bemerkten, schauten einmal auf. Heidepeters Gabriel geht wirklich fort?! –

Und als er nach wenigen Tagen mit Stock und Bündel vor den Seinen stand und versprach, daß er oft Berichte von sich und möglichst bald Hilfe senden werde, faßte der Vater, was er sonst nie tat, des Sohnes Rechte in seine beiden Hände und sagte:

»Dasselb' ist meine größte Sorg', daß du mir in der Fremde auf den lieben Gott vergessen wirst!«

Und die Mutter setzte bei:

»All' meiner Tage will ich für dich beten. Was wär' das, wenn du fehl gingst? – Und wenn auch ich mit Gottes Will' in den Himmel komm', so könnt' ich ewig und ewig keine Seligkeit haben, wenn ich den Herrgott fragen tät am Jüngsten Tag: Wo ist unser lieber Sohn Gabriel? Und er gäb' mir zur Antwort: Der hat euer vergessen, hat meiner vergessen und steht zur Linken! Nein, an das will ich nicht denken. Wie du noch in der Wiege gelegen bist, hab' ich unser' liebe Frau gebeten: Eh', daß er mir aufwächst und ein Unkraut wird, lass' ihn lieber sterben in der Kindheit. Gottes wegen, ich hätt' den Schmerz ertragen. Aber die liebe Frau hat dich aufwachsen lassen, und daß du nicht verlorengehst, mein Kind, mein liebes Kind, dasselb ist mein Gebet am Morgen und am Abend und mein fester Glauben.«

Aber dann! Als ihr Gabriel die Hand zum Abschied hinhielt, brach das kränkliche Weib in lautes Weinen aus. Als ob sie bisher von allem nichts gewußt hätte und jetzt erst den Verlust einsähe, rief sie mit schmerzerstickter Stimme:

»Ja, was tust denn, Gabriel? Wirst mir doch nicht fortgehen, wirst deine mühselige Mutter doch nicht verlassen?«

– In aller Freundschaft und Liebe und Treue steht das Mutterherz obenan; das Mutterherz magst du anbeten wie die Gottheit, du begehst keine Abgötterei! –

Regina schluchzte so heftig, daß sie nicht ein einziges Wort hervorbringen konnte. Krampfhaft drückte sie sich die blaue Schürze in das Gesicht. Nur einen Augenblick ließ sie das Tuch sinken, als sie Gabriel die Hand reichte und das letztemal in seine großen, betrübten Augen blickte.

Nun hatte sie der Bruder allein gelassen daheim bei der elenden Wirtschaft, bei den armen, mühseligen Eltern.

Als Gabriel vom Hause fortging, bellte und rasselte der Hund mit aller Heftigkeit an der Kette, wie einst an jenem Tage, als er den glimmenden Schwamm im Ohr gehabt. Das gute Tier wollte nicht zugeben, daß der Sohn des Hauses unerfahren so fortziehe in die Weite.

Die Zapfenwirtin erzählte es jedem, der ihr ins Haus kam, und der vorüberging, dem rief sie es nach: »Hast du's auch schon gehört, daß Heidepeters Gabriel in der großen Lotterie drei Schlösser gewonnen hat? Ich hab's selbst gesehen bei der Christenlehr', wie ihm der Brief ist zugeschrieben worden. Sobald's den ersten Schnee macht, kann er mit vier Rössern Schlitten fahren!«

Und als sie heute am Tisch neben dem Rindenschlager-Lenz saß, sagte sie:

»Hab's alleweil gesagt, daß die Einschicht-Res um ein Kapitel mehr weiß wie andere Leut'. Sie hat's schon zu derselbigen Zeit, wie der Gaberl zur Tauf' tragen worden ist, ausgeschrien, daß aus dem Buben extra was wird. Kann wohl sein, hab' ich schon oft bei mir gesagt, ein getaufter Heide ist auch extra was, und das Heidehaus heißt nicht umsonst Heidehaus, man kann schon rundweg sagen: das Heidenhaus. Just, wie wenn's mir zu Sinn' gegangen wär'! Und drei Schlösser! Ich aber sag', dahinter steckt was, wirst mich nicht Lugen strafen, Lenz. Und das wirst auch sehen, seine Vaterleut' führt er nicht mit in die Schlösser; die läßt er uns da, daß wir unsere Bettelleut' haben.«

In diesem Augenblick ging Gabriel mit Bündel und Stock des Weges.

Die Wirtin riß das Fenster auf und schrie:

»Ei, wie stolz! Ein Behüt' Gott dürftest mir wohl auch geben, Gabriel; hab' dir's die ganze Zeit gut gemeint.«

»Nun, so behüt' Gott!« sagte Gabriel.

»Nein, aber mich freut's, daß du so ein Glück machst, und ich mein', wenn du mein eigen Kind wärst, 's könnt mich nicht mehr freuen!«

Die Wirtin war ganz bewegt. Gabriel reichte ihr in seiner Einfalt die Hand, dann zog er weiter.

»Der junge Dalkerd, wie die Leut' sagen,« näselte die Wirtin, indem sie das Fenster schloß, »und eingebildet noch dazu; glaubst, er hätt' ein' Gruß gehabt für mein Davidl? Ja, und was hab' ich g'rad früher gesagt? Hab' ich nicht gesagt, seine Vaterleut' läßt er uns da? – Und der abscheuliche Geiz! Hast gesehen seine Hosen, auf jedem Knie ein Fleck! Nu, werden's sehen, das Sprüchel ist: Gestickt geht er fort, zerrissen kommt er in den Ort!«

Der Lenz stimmte allem still nickend und lächelnd bei; er hoffte dadurch, daß die Schänkin zuletzt sagen würde: Seien wir froh, daß er davon ist, und ich mach' dir heut' aus Freundschaft keine Rechnung, Lenz!

Indes war der wirkliche Schluß folgender:

»Wir werden's 'leicht noch erleben, daß das Heidehaus unter den Hammer kommt. Und wär's ein Wunder bei solchen Leuten? 's hat unsereins nichts zum besten bei diesen mageren Zeiten, und jeden Kreuzer muß man sich mit blutigen Fingern graben.«

Als Gabriel an die Reihe kam, wo sich der Weg hinausbiegt aus der Einöde gegen Rattenstein und wo der Haldbrunnen ist, saß der Haberturm-Rudolf am Rande des Troges.

»Ich hab' dich noch einmal sehen müssen, Gabriel!« sagte er, »weißt, bei diesem Wasser nehmen wir Abschied. Das ist der Gabriel-Brunnen.«

»Deine Freundschaft nehme ich mit, Rudolf. Denke zuzeiten an mich; ich gehe von der Einöde nun erst recht in die Einöde hinaus. Ich kenne keinen Weg und Steg da draußen in der ganzen Welt. Ich versuche mein Glück, und solange ich die Sonne und die Sterne der Einöde sehe, kehre ich nicht um. Rudolf, gib mir deine Hand. Eine Bitt' hab' ich noch an dich. Schau, wenn ich an meine Eltern, an meine Schwester denke, die ich nun hab' verlassen müssen, so möcht' ich weinen soviel Tränen wie dieser Brunnen Wassertropfen hat. Nimm dich ein wenig ihrer an, und mach' mir von ihnen zu wissen, sobald ich dir meinen neuen Wohnort bekanntgegeben habe. Und grüße mir sie noch einmal!« Er bückte sich und pflückte ein Maßlieb am Rain: »Das gib der Regina. Und jetzt, Rudolf, reich' mir nochmals deine Hand. Behüt' dich Gott, Rudolf, behüt' dich Gott!«

So schieden die jungen Freunde.

Rudolf schritt zurück in die traurige Welt der Einöde, Gabriel wanderte mutig hinaus in die unbekannte Einöde der Welt.

*

Zieht mit den Wölklein
Nicht dort der Vögel
Lustiges Völklein
Singend durchs Land?
Wo sie entsprossen,
Weilt nicht die Quelle,
Hüpft zu Genossen
Über die Wand!

Hast du zum Wandern,
Freund, nicht die Füße
Einen zum andern?
Sende sie fort;
Fort von der Stelle,
Bis sie erreichen die
Flüchtige Seele
Auf sonnigem Hort.

So sang Gabriel und schlug mit dem Stocke dazu den Takt. Und fort zog er, hinaus durch die Schluchten und Täler. Zu beiden Seiten hatte er hohe Berge. Und als diese zurückblieben, mit ihren Wäldern und Wildnissen, gab ihnen Gabriel keinen Abschiedsgruß.

In Rattenstein machte er dem Arzt einen Besuch und bat ihn, wenn er irgendeinmal in die Einöde käme, sich nach seiner kranken Mutter umzusehen.

Eine Stunde weiter, bei Karnstein, betrat er das breite Tal, in welchem viele Arbeiter am Bau einer Eisenbahn beschäftigt waren.

Als er für die erste Nacht in einem Gehöfte übernachtete und vor dem Schlafengehen in dem Hausflur warme Milch und Brot genoß, setzte sich der Bauer zu ihm und sagte:

»Nichts für ungut, wohin geht die Reis'?«

»In die Fremde hinaus«, antwortete Gabriel.

Der Bauer tat mit der Hand einen wegwerfenden Wink:

»Da hab' ich schon genug. Halt' nichts auf das Länderpassieren; mit einem geflickten Rock geht man fort, mit einem zerrissenen kommt man heim. Arbeiten wollen die jungen Herren nicht, nur alleweil die Welt breittreten. Gleich mit dem Schnallendrucken seid ihr zur Hand und meint, unser Herrgott hätt' die Häuser nur für die Stromer an die Straße gerückt; – von glühendem Eisen sollt' jede Türschnalle sein, tät' euch's wünschen. – Nu, nu, Er mag seine Milch schon ausschaufeln, red' ja nicht von Ihm allein. Brocken mag er auch noch – g'segn Ihm's Gott! Aber das habt ihr schon so, viel lieber Hunger leiden, als einmal einen Haustiel angreifen. Allweg bequem, das ist eure Such'; wenn's euch auf der Straß' zuviel Staub hat, so lauft ihr über die Felder und stampft das liebe Gotteskörndl in den Grund. Und wenn ihr zum Haus kommt, gleich nistet ihr euch ein, man weiß gar nicht wie; die Flügel gehen euch noch ab, sonst wäret ihr prächtige Spatzen auf unseren Scheunen. – So, wenn Er 'gessen hat, so führt Ihn der Bub in den Stall hinaus, hab' ein frisches Heu; aber tu Er sich einen Strohbausch unter Haupten legen, sonst kennt Er sich morgen nicht aus vor lauter wüstem Kopf. Lass' Er mir aber seine Tabakspfeif' in der Stuben! – Ihr seid ein leichtsinniges Volk und fragt einen Kletzen danach, wenn ihr einem Haus und Hof niederbrennt. – Was schaut Er denn so? Red' ja nicht von Ihm, Er hat ja gar keinen solchen Trenstiegel, seh' ich. Fall' Er nicht über die Leiter. Schütz' Ihn Gott der Herr!«

Die zweite Nachtherberge suchte Gabriel in einer Hütte, welche an einem Berghang klebte. Sie wurde ihm gewährt, und ein alter Mann setzte sich gleich zu ihm auf die Ofenbank, fragte ihn nach Neuigkeiten und bedeutete, daß er gar rechtschaffen wißgierig sei, was sich in der Welt draußen so hin und wieder zuträgt, und er halte sich deswegen gern lebendige Zeitungen mit zwei Füßen und einem Wanderstabe. Just auf alles dürfe man keinen Eid schwören, was solche Zeitungen bringen, aber die gedruckten seien auch nicht all' Tag ein Evangelium.

Und der Alle hatte für seine zweifüßigen Zeitungen in der Dachstube ein bequemes Lager mit leidlich reiner Wäsche; wenn Gabriel auch sonst nichts zu erzählen wußte als vom Heidehause in der Einöde, von Haberturms Rudolf und von der Zapfenwirtin, die ein Redetalent habe wie keine zweite mehr auf der ganzen Welt, so wurde er dennoch gut gehalten und gepflegt.

Am dritten Tage kam Gabriel in ein flaches Moorland, und als es Abend wurde, fand er keine Menschenwohnung und mußte hungernd und durstend in einer verfallenen Lehmhütte übernachten.

Am vierten Tage wanderte Gabriel auf einer fruchtbaren Ebene; die Leute heimsten eben die Spätherbsternte ein. In der Richtung, in welcher noch einen Tag früher das Gebirge gelegen, mit den bläulichen Höhen der Einöde, mit den Kanten der Wildschroffen, deren Anblick den Wanderer lange begleitet hatte – lag heute auf der Ebene der Horizont mit fernen weißen Wölklein. Weit, weit war die Heimat zurückgeblieben.

Die Gegend war sehr lebendig. Große Dörfer und Herrenhäuser hin und hin, und reiche Gärten. Die Straße hatte zahlreiche Abzweigungen, und auf allen fuhren Lastwagen und Herrschaftskutschen, trabten Reiter hin, eilten Menschen an Schiebkarren. An demselben Tage sah Gabriel die erste fertige Eisenbahn und den elektrischen Draht.

Und an demselben Tage erreichte er die Hauptstadt.

– Hast du gemeint, Gabriel, gleich, wie du mit Sack und Pack durch das Stadttor gingest, kämen sie dir entgegen und sagten: Ei schau, des Heidepeters Sohn aus der Einöde! Mit Freude nehmen wir dich auf; sei uns gegrüßt!

– Nun, und ist dir keiner entgegengekommen und hat keiner so gerufen?

Keiner von den vielen Tausenden, die hier zwischen den hohen Prachtbauten zu Fuß und zu Pferd und zu Wagen an ihm vorübereilten.

Gabriel stellte sich anfangs an eine Mauernische und meinte, das Gedränge würde vorüberziehen. Als es aber nicht vorüberzog – als er immer wogte, als er immer brauste, der ewig schäumende, gischtende, hochbewegte Menschenstrom, da stürzte sich Gabriel denn auch hinein wie ein Tröpflein aus der Gebirgsquelle, und ließ sich mitreißen in das Meer . . .

Da stand er auf einem großen Platz, den ein weiter Ring von Häusern und Palästen umschloß, und das war ein Hineilen über das Pflaster, ein Rasseln und Schnurren, ein Treiben an den Ständen und Buden, und das war ein feines, glattes Wesen an den Geräten, an den Kleidern, an den Gesichtern, und ein Glitzern und Funkeln an den Fenstern und Auslagen. Männer in blauen Kitteln zündeten die Laternen an, und es schien doch noch die Sonne auf die Türme und Giebel.

– Gabriel, du hast immer gemeint, du seiest jemand, in der Einöd' haben sie dich geliebt, oder geneckt, oder verspottet, oder gequält, aber beachtet haben dich alle.

Hier verschwindest du und bist nichts; ob du lebst oder stirbst, es fragt kein Mensch nach dir.

Ein Trommeln und Wirbeln übertönte plötzlich allen anderen Lärm, und viele Leute eilten einem großen Bretterbaue zu, der zwischen wilden Kastanienbäumen stand. Auf diesem Baue waren weißrote Fähnlein und Fahnen gepflanzt; an den Wänden waren große Gemälde von Schlachten, Schiffsbränden, wilden Tieren und Menschen in den wunderlichsten Stellungen. Über einem roten Vorhang, zwischen welchem Spiegel und brennende Luster schimmerten, stand groß hingeschrieben: »Das Universum!« Und ein Mann in buntem Anzuge, der auf einem hohen Gestelle stand und die Trommel handhabte, schrie: »Das Universum, meine Herrschaften! Alle Hauptstädte der Erde, alle sieben Weltwunder, drei feuerspeiende Berge und ein Seesturm, die Völkerschlacht bei Leipzig und das brennende Moskau um zehn Kreuzer! Ferner alle Merkwürdigkeiten der Tierwelt, der Drache mit den sieben Köpfen, das Krokodil, der Walfisch, der den Jonas verschluckt hat, alles um zehn Kreuzer! Und im Extrakabinett das himmlische Jerusalem; die babylonische Schöne – unvergleichlich, meine Herrschaften!« – Die Stimme war heiser, es versagte der Atem. Mit einem Lappen wischte sich der Marktschreier den Schweiß vom Antlitz, und dabei vernichtete er die rote Schminke, und nun marktschreierte er mit fahlen Wangen. Dann wieder rührte er die Trommel, und die Menschen strömten in das hölzerne Haus.

– Das Universum! Wanderer von der Einöde, die ganze Welt auf einmal und um zehn Kreuzer!

Gabriel stand in einem Winkel neben dem Eingang, hielt sein kleines Bündel unter dem Arm und legte die Hand an das Kinn, wie sein Vater tat, wenn er einen schweren Gedanken hatte. – Um zehn Kreuzer! – Ja, wenn das Ding billiger wäre! Zehn Kreuzer ist ein Teil seines Vermögens.

»Um fünfe darf einer nicht hinein?« fragte er einen Mann, der in kohlschwarzen Kleidern an der Pforte stand.

Dieser sah den Burschen eine Weile an, gab ihm aber keine Antwort.

»Wenn Ihr mich nicht hineinlaßt, so tut mir die Gefälligkeit und sagt, wo der Professor Frei zu finden ist. Ich bin ganz fremd da und kenne keinen Menschen. Ich bin weit von der Einöde her und will mich umsehen in der Welt und was Neues probieren.«

»Den Professor Frei weiß ich nicht, aber –« Der Mann mußte immer Karten abnehmen und konnte deshalb nicht weiterreden. Als niemand mehr kam und der größte Menschenhaufen sich verlaufen hatte, wendete er sich gegen Gabriel, und mit einer fremdartigen Stimme, welche die Worte nur so herausstieß, sagte er:

»Die Welt wollen Sie ansehen, junger Mann, und was probieren wollen Sie? Heißa, dazu gibt's die herrlichsten Wege. Parbleu, junger Mann, kommen Sie mit uns! Unser sind wir einige fünfzehn – junge, tolle Bursche, Kerle wie der Blitz, hallohei! Mit Sang und Klang gehn unsere Straßen über Laub und Meer, und in allen großen Städten sind wir zu Haus!«

Der Mann strich sich den schwarzen Knebelbart, ein Lächeln zuckte über sein braunes Gesicht, seine dunklen Augen funkelten, und lebhaft schüttelte er seine langen, zurückgekämmten Haare.

Gabriel stand da und wußte nicht, was er sagen sollte.

»Künstlerleben!« – fuhr der Schwarze fort, »verstehen Sie's wohl? Eine ganze Welt zu eigen haben und ein Universum noch dazu, potz Himmel und Morgenstern, das soll uns der Kaiser von China nachmachen! Maulwürfe sind sie alle, die da graben und sich verkriechen hinter den Ofen, hinter den bestaubten Kodexen, hinter den Zifferbuden. Der Künstler ist der Mensch! Kunst und Universum! So kommen Sie mit uns!«

»Das wär' schon recht, 's ließe sich überlegen,« meinte Gabriel, »reisen hätt' ich schon lange mögen. Wenn ich nachher wieder zurückkomm' zu meinen Eltern und der Müh' wert was profitiert hab'?«

»Ha, profitiert haben!« rief der andere und versetzte dem Burschen einen derben Handschlag auf die Achsel. »Ein Mordskerl wie Sie, frisch wie 'ne Gemse, kuraschiert wie ein junger Löwe, Ihnen kann's auf Ehre gar nicht fehlen! Sie haben auf unseren Reisen Gelegenheit, sich die umfassendsten Welt- und Menschenkenntnisse zu erwerben, sich in allen Zweigen auszubilden, alle erdenklichen Genüsse zu kosten, auszuschlürfen, mit einem Worte, manneswürdig zu siegen. Und um einen Malefizjungen, wie Sie einer sind, parbleu, zerfleischen sich ja alle Weiber!«

Gabriel blickte zu Boden und errötete ein wenig.

»Spaß apart!« sagte der Schwarze und faßte den Burschen bei der Hand. »Ich bin Eigentümer des Panoramas und brauche gegenwärtig einen jungen Mann von Ihrem Schlage. Sie sind bei mir gehalten wie mein Sohn, sie wohnen in meinen Etablissements und speisen an meinem Tisch. Ich versorge Sie mit Kleidern und allem, was Sie bedürfen, und die Arbeit, der Sie zu obliegen haben, ist ein reiner Pappenstiel. Täglich die Bilderrollen aufziehen, die Guckgläser reinigen, die Transparentlichter besorgen und ein paar Plakate anschlagen. Sie erhalten entsprechende Gage, und in ein paar Jährchen sind Sie ein versilberter Mann. Zudem versteht es sich von selbst, daß Sie mir nicht verpflichtet sind, daß es Ihnen jederzeit freisteht, die Verbindung zu lösen. Also topp!«

Gabriel blickte auf den Stand und schupfte mit dem Stocke ein Steinchen hin und her. Endlich warf er seinen Kopf empor und sagte:

»Ich werde früher den Professor Frei fragen.«

»Wie Sie wollen,« versetzte der Panoramabesitzer, »Professor Frei wird Ihnen dasselbe sagen, und zudem garantiere ich Ihnen nicht, ob ich Ihnen bis morgen die Stelle reservieren kann. Wenn ich will, hab' ich in ein paar Stunden drei solche Bursche, und wenn ich zehn brauche, bin ich auch nicht verlegen. Nu, Sie gefallen mir just, und ohne daß ich erst frage, wer Sie sind, wie Sie heißen, biete ich Ihnen die möglichsten Vorteile an, mit denen Sie gewiß zufrieden sein werden. Also junger Freund, topp!«

Zu verlieren, meinte Gabriel, hätte er nichts. Die Welt kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln, sei er ausgezogen, und so wolle er denn einschlagen.


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