Peter Rosegger
Heidepeters Gabriel
Peter Rosegger

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Stürmische Zeit

Rudolf und Regina suchten die Mutter und nun auch den Vater. – Der Vater lag krank in der Hütte der Einschicht-Res; das wunderliche Weib pflegte ihn mit herber Güte. Es sagte dem Kranken, daß ein Wunder geschehen werde, und daß es dann wieder an einen Gott glaube.

Und das Wunder geschah, der Heidepeter brach nicht unter der Wucht des Schicksals. Er saß auf seinem Lager und betete und betete.

Wochen vergingen, sein Weib blieb verschollen, von Gabriel kam auch keine Nachricht; und der Mann aus dem Heidehause genas dennoch, und er ging hinaus zum Ameishaufen und saß stundenlang vor demselben und kam gestärkt in die Hütte zurück.

Die Sonne stieg nicht mehr so hoch, sie ging an dem Saume der Waldberge und der Schroffen dahin, und in die Schluchten der Hinterschroffen senkten sich die Vorboten des Herbstes, die Nebel, nieder. Der Heidepeter blieb in der Hütte bei der Einschicht-Res.

Rudolf hatte alle Arbeit in der Wirtschaft eingestellt, er strich durch die Gegend, durch das Land und suchte das kranke, verirrte Weib. Er schrieb an Gabriel, aber er teilte ihm das Unglück noch nicht mit, er schrieb nur: »Gabriel, wenn etwa einmal deine Mutter bei dir ankommt, so mache es uns alsogleich zu wissen.«

Von Gabriel kamen endlich wieder heitere Briefe. Er schrieb, daß ihm seine Studien endlich über die Brotsorgen hinausgeholfen hätten, und daß er Aussicht habe auf eine gute Stelle, von der er aber noch nicht wisse, ob er sie annehmen könne oder nicht. Das übrige mündlich in der Einöde. – Als Nachschrift, daß er Rudolfs Bemerkung über die Mutter nicht verstehe.

Regina hing mit ihrem Herzen an Rudolf.

»Rudolf,« sagte sie einst, als sie an einem Sonntage auf dem Kirchweg nach Rattenstein am Waldbrunnen zusammengekommen waren, »hab' ich doch einen Menschen, an den ich mich halten kann.«

»So halte dich an mich dein Leben lang«, antwortete der Jüngling, »und gib zu, daß auch ich in schwerer Zeit mich halte an dein liebes, treues Herz. Wir sind beide heimatlos und stehen abseits von den Leuten, und dich hat das Unglück verfolgt, daß es zum Erbarmen ist. Aber dir hat es nichts anhaben können; du bist geblieben, wie dich Gott selber nicht besser haben kann. Und das ist all Tag mein einziger Wunsch gewesen: Gesundheit und einen starken Menschen. Und dann tät' ich anfangen und probieren, wie weit es sich auf der Welt mit Fleiß und Lieb' bringen läßt. Ich hielte mich allweg fest an dem einzigen lieben Menschen, und tät' nicht hüpfen, täte bedachtsam gehen, Schritt für Schritt, von einer Stufe zur anderen steigen, damit ich immer festen Boden unter mir hätte. Und das wäre doch was Rechtes, wenn man wüßte, was man ist und was man will. Regina, der Haberturmhof ist dreitausend Gulden wert, ich sag' dir's gleich. Ich aber will ihn nicht, ich bettle nicht, und kann mir mein' Sach' selbst erwerben. – Ist dir das recht?«

Das Mädchen häkelte wie spielend die Finger aneinander und entgegnete leise:

»Warum sollt's mir nicht recht sein: ich mach's ja selber so. Und bei dir ginge es mich auch nichts an.«

»Gar viel geht's dich an!« sagte der Bursche lebhaft, »ich hab' keinen Verwandten auf der Welt. Dich hat der Herrgott aufgestellt, daß du schaust auf mich.«

»Wie bist denn du, und was redest mir da vor?« fragte das Mädchen.

»Was ich heut' zu dir red', Regina,« sagte Rudolf, und seine großen, klaren Augen ruhten in den ihren, »was ich heut' zu dir red', das hab' ich schon sieben Jahr' mit mir herumgetragen, und sooft ich dich angeschaut, und sooft ich gute Nacht zu dir gesagt, immer hab' ich das gemeint. Und wenn ich weit weg von dir gewesen bin, und wenn ich Holz geschlagen hab' im Wald, und wenn ich gebetet hab', und wenn ich doch wohl dann und wann was Gutes getan hab' – das hab' ich gemeint, und das allein, und jetzt bitt' ich dich um dein heiliges Wort.«

Darauf faßte ihn das Mädchen an der rechten Hand und sagte:

»Wenn es dein aufrichtiger Ernst und dein ehrliches Fürnehmen ist, so will ich gleichwohl nicht nein sagen, aber daß du mich ja verstehst, eine Bedenkzeit bis zum Christtag muß wohl sein, nicht meinetwegen, aber deinetwegen, weil du das im Ernst betrachten mußt, daß dir meinetwegen Haus und Hof verfällt. Mich kennst, ich bin eine arme Magd; wenn du aber meinst, daß ich Haus und Hof wert bin und dich selber noch dazu –«

Er beugte sich und wollte einen Kuß auf die Lippen drücken, sie aber machte sich schnell los und sagte:

»O Bübel, da haben wir noch weit hin! Wenn gleichwohl der Christentag schon da war', so sag' ich vor Gott und sag' es dreimal: Solang' meine Mutter nicht gefunden ist, solang' bin ich Heidepeters Regina, wie ich's bisher gewesen bin. Das bleibt dabei; der erste Kuß gehört meiner Mutter – erst den zweiten – wenn kein Rad bricht – kannst du haben.«

So wurde es abgemacht am Brunnen auf dem Kirchweg nach Rattenstein. Rudolf wendete darauf seinen grünen Hut, daß die Hahnenfedern, wie man sie in der Einöde trägt, nach vorn zu stehen kamen. Dies nehmen sie für eine Bedeutung. Die Hahnenfeder nach vorn gerückt, erzählt dort von einer Eroberung. Als später andere Burschen das sahen, neckten sie den jungen Haberturm und sagten:

»Was macht denn dich heut' so herlebig (herausfordernd)?«

Die Mädchen flüsterten einander zu und rieten hin und her, wer denn die Auserwählte sein könne. Andere dachen an das Testament im Haberturmhofe und schüttelten den Kopf.

Und als bei demselbigen Kirchgang der alte Haberturm auf dem Hute seines Ziehsohnes die kecke Stellung der Federn sah, blickte er höchst verwundert auf.

Rudolf zog den Hut ab und streute die Federn auf die Erde.

»Sie haben das Zeugnis gegeben vor Euch und vor den Leuten,« sagte er, »ich habe mich mit Heidepeters Regina versprochen.«

»Hast recht!« versetzte der Bauer kurz.

»Ich weiß es, Vater, daß ich nun wieder fremd bin in Eurem Hause, aber es muß wohl so sein. Ich hab' jahrelang zurückgehalten; ich hab' Euch keinen Kummer machen wollen und mich nicht heimatlos. Ihr seid mein größter Wohltäter auf der Welt, und das verlangt Ihr nicht von mir, daß ich mein Leben selber begrabe.«

Der Haberturm starrte vor sich hin, dann murmelte er: – »So.«

Aber auf der Heimkehr gesellte sich der Bauer wieder zu Rudolf. Sie waren anfangs die Vordersten, doch sie ließen die anderen Einödleute vorübergehen.

Und als alle vorüber und sie die Letzten waren, sagte der Alte:

»Rudolf, was ich damals beim Zaun gesagt hab', das ist nicht so genau zu nehmen. Du bleibst noch da, Rudolf. Nur das nächst mit der Feder hättest dürfen bleibenlassen. Geh jetzt heim und koch' den Leuten das Mittagsmahl, ich muß auf einen Sprung zu der Zapfenwirtin hinein, 's ist was auszurichten vom Amtmann.«

*

Das war in demselben Jahre eine bewegte Erntezeit in der Einöde. Die Kornähren waren schwer und die Gartenfrüchte groß und frisch wie schon seit langem nicht.

Und dennoch war kein ruhiges, planmäßiges Arbeiten, sondern eine ungewöhnliche Erregung und Verwirrung. Selbst den Haberturm ließ es nicht bleiben im Zapfenwirtshause, und der so strenge Hahnenkamp ließ die Wirtschaft gehen, wie sie ging: er schritt stetig um seinen Hof und knirschte in sich hinein:

»Niederschlagen, niederschlagen, aufknüpfen auf den höchsten Baum in der Einöde!« Wen meinte er nur?

Büttel gingen umher und pochten an alle Haustüren, und wo nicht freiwillig aufgemacht wurde, brachen sie ein. Wenn man sie zur Rede stellte, was diese Gewalt bedeute und wer sie dazu berechtige, so gaben sie keine Antwort. Sie fluchten und höhnten nur, sie durchstöberten Korn und Kammer, Kisten und Kästen, und wo sie ein Schießgewehr fanden, da lachten sie und nahmen es mit sich.

»Eine solche Zeit ist noch nicht gewesen,« sagten die Bauern, »haben wir nicht Weib und Kind zu wahren und zu schützen? Gibt es nicht wilde Tiere und schlechte Leut' in der Gegend? Leben wir nicht in der Einöd'? Und die Schutzwehr tragen sie uns davon!«

»Sollen sie uns davontragen!« rief der Hahnenkamp. »Bauern, dasselb' ist erlogen, daß diese Herren keinen Herrn haben! Das sag' ich: Nicht ein Splitterl von meinem Güterl! Was mein ist, ist mein! Nachbarn! Wir finden in unseren Häusern noch Sensen und Beile und Hacken, wir finden noch was anderes, Bauern, wir stehen auf!«

»Aufstehen«, meinte ein anderer kopfschüttelnd, »wär' schon recht, aber 's ist halt eine gewagte Sach'!«

»Du wagst am wenigsten was,« schrie ein Holzhauer, »und wenn sie dir deinen Kürbis einbrennen, so hat die Einöd' keinen Nutzen und keinen Schaden.«

Aber die Büttel gingen doch umher und durchstöberten die Gehöfte.

Graf Frohn hatte nämlich wieder neue Wilderergeschichten vernommen, besonders den Fall mit dem Zapfenwirtssohn im Schroffenwald. Er gab darauf in seinem Jägerhause dem neuen Förster folgenden Auftrag:

»Mir scheint, diese Einödler wildern wieder? Auch Waldfrevel kommen vor. Das ist albern von den Leuten. Es wird gut sein, ihnen vorläufig die Gewehre abzunehmen.«

Wenige Tage später, als der Patron die Widersetzlichkeiten der Einödbauern erfuhr, flog eine matte Röte über sein Gesicht, und er sagte zu sich »Wenn's die Leute so treiben, ziehen wir andere Saiten auf. Wenn sie's denn just wissen wollen, wer der Herr ist, so mögen sie's wissen. Wir haben die Besitzungen hier nicht, daß sie uns Ärger bringen, wir haben das Bauernvolk auch nicht aufkommen lassen, daß es das Wild vernichte und den Wald verderbe. Mein seliger Vater hat hier ansiedeln lassen, ich will aufräumen. Der Wald ist mein, keinen Stamm Holz sollen sie mehr haben – nicht einen Fidibus! Abstift' ich sie!«

Und bald war es laut in der ganzen Einöde: »Abstiftet er uns all'!«

Die Jüngeren wußten gar nicht, was das heißt »Abstiften«, aber die Älteren wußten es wohl.

»Abstiften! Uns Grund und Boden wegnehmen, uns davonjagen, unsere Häuser niederreißen und auf dem Boden Waldsamen säen. Das heißt Abstiften.«

»Sonst nichts? – Herrgott, da setzt's was ab!«

»Abstiften, das kann er nicht,« riefen andere, »Grund und Boden ist unser Eigentum. Die Jagd und der Wald ist zwar sein, und auch dazu haben wir nach altem Herkommen ein Recht. Wir üben's aus, und wenn neunundneunzigtausend Großteufel –«

»Ja, ja, ja, schreit nur und macht Fäuste, wird euch nichts helfen. Die Seeleiten ist vor sechzig Jahren auch abgestiftet worden, und nun steht ein schlagbarer Wald darauf.«

»Zu den drei Teufeln hinein!« fluchte der Hahnenkamp, »da hab' ich das Heidehaus um die Halbscheid zu teuer. Ich aber sag' euch's, Bauern, ich geh nicht von Haus und Hof, das ich mir ehrlich erworben, und ich heb' mit dem Großteufel was an!«

»So heirat' ich,« meinte der alte Haberturm, »wenn mein Hof auf alle Fälle hin ist, so heirat' ich!«

Auf diese Weise wurde planlos hin und her geschrien.

»So schlecht wird's nicht sein«, sagte Rudolf zum Haberturm. »Das mit dem Abstiften ist ein neues Aufkommen – dagegen sind Gesetze da. Wir haben Anrecht auf Grund und Boden, wir haben ihn urbar und fruchtbar gemacht, wir –«

»Du hast gar nichts urbar und fruchtbar gemacht«, unterbrach ihn der Bauer in seinem Ärger. »Allweg wollen es die jungen Gelbschnäbel besser wissen wie unsereins. Wer ist länger da, ich oder du?«

Der Hahnenkamp fluchte mit seinem Gesinde noch mehr und beständiger als jemals, und nun wollte er es nicht einmal mehr leiden, wenn der Knecht beim Brotaufschneiden pfiff, was er sonst ja immer gern gehabt hatte. Das Gesinde aber sagte zueinander:

»Ist schon recht, wie's jetzt kommt. In der Einöd' ist sein Lebtag soviel Streit und Neid und Ungerechtigkeit gewesen. Der Stärkere hat den Schwächeren niedergehalten und ihm das Knie auf die Brust gesetzt; jetzt kommt über den Stärkeren ein noch Stärkerer. Wir lachen, wenn diese Hungerleidnester abgestiftet werden; wir binden unsere Sach' auf den Buckel und gehen um ein Pfarrl weiter.«

Beim Zapfenwirt fanden wiederholte Hausuntersuchungen statt, des Wilderns wegen. Man wollte den Davidl ins Verhör nehmen, allein er lag immer noch an seiner Augenwunde danieder, und die Wirtin zeterte fort und fort:

»Da liegt er, zu was wollt's ihn denn, ihr Schergen! Schleppt ihn davon, bringt ihn gleich gar um! Da habt's ihn, da liegt er!«

Sie wußte wohl, daß ihn die Krankheit beschützte.

Aber der Bursche stand endlich wieder auf, wenn auch nur mit einem Auge; die Höhle des anderen war häßlich zu sehen. Die Wirtin weinte oft stundenlang über die Entstellung ihres einzigen Lieblings und knirschte:

»Dieser Herlaufer Rudolf ist an allem schuld! Wenn ich nur genau wüßt', wie's gewesen ist!«

Das erfuhr sie indes bei der nächsten Untersuchung. Diese kam so unerwartet, daß sich Davidl kaum flüchten konnte.

Der alte Haberturm als Gemeinderichter, Rudolf, Heidepeters Regina, ein Beamter und zwei Gerichtsdiener traten ein.

Die Wirtin stellte sich arglos, eilte den Eintretenden entgegen und sagte:

»Was schaffen's?«

»Ist der Zapfenwirt zu Hause?« fragte der Haberturm im Bewußtsein seines richterlichen Amtes.

»Ist zu Hause, liegt draußen im Stübel; er hätt' schon lang' gern einmal wieder mit dir was plaudert, kommst aber jetzt gar so selten.«

Sie gingen in das hintere Stübchen, kehrten aber bald wieder zurück, denn der Wirt war trostlos besessen von den Geistern seiner Gruft.

»Wo ist Euer Sohn?« fragte der Beamte die Schänkin.

»Je, der Davidl, der ist jetzt die ganze Wochen nicht daheim; er ist draußen beim Rattensteiner Pfarrer im Tagwerk.«

»Er ist vor einer Stunde hier gesehen worden!« versetzte der Beamte streng.

»Nu, wenn Ihr's besser wißt,« entgegnete das Weib, sich zurückziehend, »und wenn Ihr Euch schon soviel Recht macht's mit den Leuten, Ihr Winkelkriecher, Ihr Schelme –«

Der Beamte ging ihr nach und drohte ihr mit dem Einsperren, wenn sie noch so ein Wort sage. So sagte sie denn nichts, aber sie schwieg auch nicht, sie brummte. Dann begann die Durchsuchung des Hauses. Man stöberte im Keller, im Stalle, in den Scheunen, man beunruhigte alle Haustiere, man rührte gar einen Wespenschwarm auf, aber man fand den Burschen nicht, so daß der Haberturm schon sagte:

»Wird doch fort sein.«

In demselben Augenblick aber hörte man ein Gewinsel und ein Geschrei auf einer der hohen Fichten, und nieder von Ast zu Ast, mehr kollernd als kletternd, kam der Davidl, umkreist und umsummt von dem aufgestöberten Wespenschwarm.

Da war zuerst Heiterkeit unter den Männern, aber bald begann die ernste Untersuchung.

Der Bursche stand nicht bloß vor dem Jagdherrn, sondern auch vor der Gemeinde als Angeklagter da. Der Haberturm hatte dessen Festnahme angeordnet, und er hielt ihm nun vor, daß er und die Seinen vor allem die Ursache der Unruhe und Zwietracht in der Gemeinde seien. Er, der Davidl, habe in letzter Zeit durch Wildern und Waldfreveln dem Grafen zu dem harten Vorgehen Anlaß gegeben.

Rudolf und Regina erzählten nun ihr Zusammentreffen mit dem Wilderer an jenem Sommermorgen und wie er sich mit dem Fläschchen Scheidewasser so unglücklich verteidigt hatte.

Es kamen noch andere Anklagen vor, und sie wurden begründet und aufgeschrieben.

Davidl verteidigte sich nicht, er hielt sein rotes Tuch vor sein Gesicht – nicht aus Schande, sondern aus Schmerz der Wespenstiche wegen. Seine Mutter kam mit kalten Umschlägen und hätschelte den Burschen und zeterte mit den Männern, beschimpfte sie, nannte sie Ehrabschneider, Verleumder und zuletzt auch Räuber. Dann zählte sie hundert Wohltaten auf, die sie den Einwohnern der Einöde stets bewiesen.

»Und jetzt ein solcher Undank!« schloß sie, »das tut wohl weh im Herzen, das tut weh!«

Dann weinte sie über sich und ihr unschuldiges Kind.

Es kamen auch andere Leute herbei, denn es war bald bekannt geworden, daß es heute gelte, die gleisnerischen, heimtückischen Wirtsleute, die endlich jedem verhaßt geworden waren, niederzudrücken. Verbittert durch die mißlichen Verhältnisse in der Einöde, durch die Androhungen des Patrons, wollten sie alle Schuld auf das Zapfenwirtshaus wälzen. Der Hahnenkamp war auch gekommen, ließ sich ein Glas Wein geben und rief der Wirtin höhnisch zu:

»Frau Wirtin, sollst leben! und dein Söhnerl daneben! Hab' ich nicht schon vor vielen Jahren einmal gesagt: Eure Bäume da draußen tragen saubere Früchte! ›Zapfen, Zapfen!‹«

Da trat der Rindenschlager-Lenz vor:

»Reiß' dein Klapperwerk nicht so weit auf, Steffel Hahnenkamp, du trägst auch dein Teil dazu bei, wenn wir abgestiftet werden. Du bist alleweil der Anstifter gewesen gegen den Waldherrn, hast gleich vom Niederschlagen geschrien, wenn ein Jagdtreiben gewesen ist. Das läßt sich so ein Herr nicht gefallen. Wenn's mir so kommen tät' – gleich abstiften!«

»Weil du ein Herrenlecker bist!« schrien andere, »Und weil einer dahin und ein anderer dorthin zieht, deswegen fällt die Einöd' auseinander.«

»So mag sie zu Scherben gehen, in's Teufels Namen . . .!«

Aufgegeben war die Einöde von den Einödbewohnern selbst. Und der arme Heidepeter irrte in den Schroffen und Wäldern umher und suchte sein Weib.

*

Es war ein Tag nach dem Herzen Gottes.

Still und rein lag der Herbstmorgen über den Waldbergen; die kühle Luft war so klar, daß man in den Wildschroffen jedes Steinchen und jedes Klüftchen zu sehen glaubte. Gewaltig hoch türmten sich die leuchtenden Wände über den Waldungen.

– »Wer hat deine Grundfesten gegraben, wer hat dich aufgebaut, du erhabene Alpenwelt! Wer hat dich erdacht, wer hat dich gewölbt, wer hat dich gekrönt, du herrlicher, wunderbarer Wald! Du bist ein allgemeines Vaterhaus, du bist eine unerforschte Welt, du bist ein Tempel mit ewigem Harfenklang! Wie sie hinausziehen, groß und klein, reich und arm, du gibst allen das gleiche Grün, das gleiche Blühen, das gleiche Reifen, den gleichen Schatten; du grüßest alle mit gleichem Fächeln und Flüstern, du küssest alle mit gleichem Lebensodem, du hüllest sanft die Herzen in Frieden und badest sie in träumender Ruh', du lieber, holder Wald!«

So rief Gabriel aus in seiner feierlich gestimmten Seele, als er eines Tages hinging über die Höhen der heimatlichen Waldberge.

Nach jahrelanger Abwesenheit kam er zurück von der Hauptstadt, um endlich seine armen Eltern, seine liebe Schwester wiederzusehen.

Er hatte nicht den gewöhnlichen Weg genommen, er kam über die Alpen her, er wollte das Bergland wieder einmal so recht genießen. Er war im schmucken Kleide des Älplers, das er angetan hatte, um die Heimat damit zu ehren. Den Jammer ahnte er nicht, der ihn daheim erwarten sollte.

Gabriel war groß geworden, er schritt durch den Wald wie ein junger Priester, so feierlich.

Fremd und allein, wie er hingezogen vor Jahren, kam er wieder zurück. Wohl hatte er seine Studien glücklich vollendet, seine Prüfungen glänzend bestanden; er hatte Aussicht auf eine bevorzugte Professorenstelle, man prophezeite seinem durch schwere Schicksale geläuterten, nach hohen Idealen strebenden Geiste eine glückliche Zukunft. Aber er hatte nun die Welt kennengelernt in ihrem Prunk und Stolze, in ihrer glitzernden Armseligkeit, und er sehnte sich wieder zurück in den Wald.

Gabriel sah jetzt die Natur mit ganz anderen Augen an als einst. Manche poetische Anschauung hatte ihm die Wissenschaft verdrängt, dafür war durch sie manch neue merkwürdige Seite enthüllt worden. Er wußte nun, daß der rohe Eigennutz auch außer dem Menschen in dem Naturleben herrscht. Als Knabe hatte er weinen müssen vor Rührung, wenn er eine Heuschrecke sah, die ihre Vorderfüße gegen den Himmel streckte, sie war ihm die fromme, stille Gottesanbeterin. Heute wußte er, daß sie ihre Füße emporreckt, um Mücken zu fangen.

Oft fand er als Knabe in den Splint der Fichten geheimnisvolle Buchstaben eingegraben, die sich in wunderlichen Formen schlingen, aber nie kreuzen; »die Waldjungfrau hat damit die Geschicke der Menschen beschrieben, aber niemand kann die Zeichen lesen«. Heute kannte Gabriel den schädlichen Borkenkäfer, der mit seinem Rüssel die Buchstaben gräbt, und heute verstand Gabriel die Buchstaben zu enträtseln, sie heißen Tod dem Walde!

So hatte die Natur für Gabriel vielleicht den Heiligenschein verloren, dafür aber blickte er ihr tief ins Leben.

Als Gabriel gegen die drei riesigen Tannen kam, die an der oberen Waldgrenze standen und der Pfaffenhut genannt wurden, sah er dort bläulichen Rauch emporwallen, und als er näher kam, hörte er heitere Männerstimmen. Der Graf Frohn hielt hier mit seinen Jagdgenossen Gelage und Mahlzeit.

Gabriel ging seines Weges, aber der Jagdtag der fröhlichen Gesellschaft hatte ein seltsames Ende.

Zuerst schlug das Wetter um.

Es mögen die Herbsttage noch so still und rein sein viele Wochen hin – plötzlich wird es anders. Wie war an diesem Morgen die Luft noch so klar und ruhig; da begann zur Mittagszeit sachte das dürre Laub der Erlen und Haselnußgesträuche zu tänzeln und zu hüpfen über den Boden hin, da kamen Windstöße, und mit einem Male wallte dichter, finsterer Nebel über die Wildschroffen her.

In den Tannen des Heidehauses rüttelte und rauschte der Nordwind und pfiff durch alle Fugen des Hofes, und die Balken und Bretter klapperten und klirrten, und der Hirsch an der Wand polterte. Bald war der ganze Himmel bedeckt mit dunkelgrünem Gewölke, das sich träge weiter wälzte und das von den Schroffen immer dichter und dichter nachgeschoben wurde. – Auf dem Rasenplatz vor dem Heidehause liefen Leute herum in großer Verwirrung.

»Was ist anzufangen?« fragten sie einander bestürzt, »wenn er uns kein Brennholz und keine Stallstreu mehr gönnt, so müssen wir ja fort, mit Weib und Kind hinaus auf die Bettelstraße!«

»Einödler bin ich!« rief ein Bauer, »und daß ich um ein Stückel Brot anhielte, da tu ich mein Lebtag eher rauben. Höllsaggra! ich laß schon alles drauf ankommen; wenn mir mein' Sach' geraubt wird, so raub' ich wieder!«

Der Hahnenkamp trat herbei mit geballten Fäusten:

»Wer Schneid' hat, der geht mit. Wo ich anfass', da bricht was! Der Großteufel jagt heut' im Schroffenwald, dem würgen wir seine vermaledeite Seel' aus dem Leib. Und wenn er am Abend zur Gebetglocken noch herumlauft, so zünd' ich mein eigen Haus an.«

Da trat Haberturms Rudolf herbei: »Leute, von Betteln, Rauben und Morden kann keine Rede sein; wir haben noch andere Mittel. Zusammenhalten, ein festes Anstemmen gegen Gewalt, und wir werden unser Recht erlangen. Nur zusammenhalten!«

Ein Windstoß brauste heran, in dem Geäste der Tannen war ein schweres Tosen und Stöhnen, auf dem Dachfirste des Hauses riß es mehrere Latten los – der Bretterhirsch rüttelte heftig an seinen Holznägeln.

An demselben Tage abends kam Graf Frohn mit seinem Gefolge heiter wie gewöhnlich vom Schroffenwalde zurück und quartierte sich für die Nacht im Haberturmhofe ein.

Die Jäger setzten sich sogleich an den großen Tisch in der Gesindestube, der Graf obenan. Er ließ zu den mitgebrachten Resten auftragen, was die Speisekammer vermochte; sich mitten in das Volk begeben und dessen Brot essen, das ist herren-demokratisches Prinzip. Da gab's wieder Scherz und Weidmannsgeschichten, und draußen im Vorhause bei den hingelehnten Schießgewehren lag so mancher verblutete Rehbock, von dessen Sterben drin so lustig geplaudert wurde.

Es war finster geworden; draußen brauste der Regen, und wer in die von Kienspänen erhellte Stube trat, der hatte Schneeflocken auf seinen Kleidern.

Rudolf und der alte Ameishüter traten zur Tür herein, gegen den Tisch hin und zogen höflich ihre Hüte vom Kopf. Dann baten sie, daß den Einödbauern auch für die Zukunft wie bisher das Recht an dem Walde bewahrt bleiben möchte.

Der Graf entgegnete freundlich, daß er heute wohl keine Audienz erteilen könne, und beachtete die beiden Männer nicht weiter. – Jetzt ging wieder die Tür auf, und Kopf an Kopf standen vor dem Eingange die Männer der Einöde, mit Stöcken und Knitteln bewaffnet.

Sie drangen gegen den Tisch vor.

Jäger und Knechte riefen nach den Gewehren, die draußen im Vorhause lehnten. Plötzlich aber drängte sich der Hahnenkamp durch den wüsten Haufen, und mit dem Schrei: »Den Schädel spalten wie einen Holzklotz!« stürzte er mit einer geschwungenen Axt in die Stube und auf den Grafen los. Dieser fiel in seinem Schreck unter den Tisch, und das Beil fuhr tief in die Holzwand.

In demselben Augenblick sauste ein gebrochener Stuhlfuß nieder auf des Bauers Haupt – der Hahnenkamp wankte zur Tür und brach zusammen. – – –

Den Getroffenen schafften sie davon.

Den Grafen hoben zwei Männer zu seinem Sitze empor. Mit rollenden Augen starrte er gegen die Tür und auf das schwere Beil in der Wand; bebend bewegte er den Mund, aber sprachlos war er und blaß bis hinein auf den Gaumen.

Still führten die Jäger ihren Gastherrn mit sich. Still und finster gingen an demselben Abend die Bewohner der Einöde auseinander. – Und dicht und dichter fielen vom Himmel die Flocken.


 << zurück weiter >>