Dmitri Mereschkowski
Julianus Apostata
Dmitri Mereschkowski

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XXI.

Es war eine große Handelstrireme, die mit einer Ladung von asiatischen Teppichen und Amphoren mit Olivenöl von Seleucia in Antiochien nach Italien ging. Sie nahm den Kurs zwischen den Inseln des Ägäischen Archipels auf die Insel Kreta, wo sie eine Ladung Wolle aufnehmen und einige Mönche bei einem einsamen Kloster an der Meeresküste absetzen sollte. Die Greise, die sich auf dem Vorderdeck befanden, vertrieben sich die Zeit mit frommen Gesprächen, Gebeten und der gewohnten Klosterarbeit, – dem Flechten von Körben aus Palmzweigen.

Am entgegengesetzten Ende des Schiffes, am Heck, das mit einer aus Eichenholz geschnitzten Figur der Athene Tritogeneia geschmückt war, hatten sich unter einem Sonnendach aus leichtem, violettem Gewebe drei Reisende niedergelassen, mit denen die Mönche nichts zu tun haben wollten; denn sie waren Heiden. Es waren Anatolius, Ammianus Marcellinus und Arsinoe.

Der Abend war windstill. Die Ruderer, alexandrinische Sklaven mit rasierten Köpfen, hoben und senkten in gleichmäßigem Takt die langen, biegsamen Ruder und sangen dazu ein trauriges Lied. Die Sonne verbarg sich hinter den Wolken.

Anatolius blickte in die Wellen und dachte an das Wort des Aischylos von dem »ewiglachenden Meere«. Nach den lärmenden, staubigen und heißen Straßen von Antiochia, nach dem stinkigen Atem des Pöbels und dem Qualm der Festlampen erholte er sich in der frischen Seeluft; er sprach vor sich hin:

»Du Ewiglachendes, empfange meine Seele und reinige sie!«

Die Inseln Kalymna, Amorgos, Astypaläa und Thera tauchten wie Gespenster eine nach der anderen vor ihnen auf; bald stiegen sie aus den Wellen hervor, bald verschwanden sie wieder; es war, als ob die Okeaniden am Horizonte ihren ewigen Reigen tanzten. Anatolius schien es, als ob hier noch die Zeiten des Odysseus lebendig seien.

Die Begleiter störten ihn nicht in seinem stummen Träumen. Ein jeder war für sich beschäftigt. Ammianus brachte seine Aufzeichnungen über den persischen Feldzug und über das Leben des Kaisers Julianus in Ordnung; in den Abendstunden las er zur Erholung das berühmte Werk des christlichen Kirchenlehrers Clematius von Alexandria »Stromata« – »Der bunte Teppich«.

Arsinoe modellierte aus Wachs kleine Figuren, Vorarbeiten für ein geplantes größeres Marmorbildwerk. Es war der nackte Körper eines olympischen Gottes, dessen Gesicht überirdische Trauer ausdrückte. Anatolius wollte sie immer fragen, ob es Dionysos oder Christus sei, aber er wagte es nicht.

Arsinoe hatte schon längst ihre Nonnenkleidung abgelegt. Die Frommen verachteten sie und nannten sie eine Abtrünnige. Doch der berühmte Name ihrer Vorfahren und die reichen Geschenke, die sie einst zahlreichen christlichen Klöstern gemacht hatte, schützten sie vor Verfolgungen. Von ihrem früheren Reichtum war ihr noch eine kleine Summe geblieben, die gerade zu einer sorgenlosen Existenz ausreichte.

Sie besaß auch noch am Golfe von Neapel in der Nähe von Bajä ein kleines Gut mit jener Villa, in der Myrrha ihre letzten Tage verbracht hatte. Arsinoe, Anatolius und Marcellinus beabsichtigten hier nach den letzten stürmischen Jahren ihres Lebens in der ländlichen Stille und im Dienste der Musen auszuruhen.

Die frühere Nonne trug jetzt fast das gleiche Gewand, wie vor ihrer Einkleidung: die schlichten Falten des Peplums verliehen ihr wieder das Aussehen eines altathenischen Mädchens; das Gewand war aber von dunkler Farbe, und das blasse Gold ihrer Locken schimmerte jetzt durch einen dunklen Schleier. Ihre mattschwarzen Augen, die niemals lachten, drückten ernste, beinahe strenge Ruhe aus. Nur ihre Arme, die bis zu den Schultern nackt blieben, leuchteten, wenn die Künstlerin arbeitete und ungeduldig, gleichsam zürnend, das Wachs knetete unter den Falten des Peplums im früheren strahlenden Weiß. Anatolius sah in diesen weißen, gleichsam bösen Händen eine große Kraft und Kühnheit.

An diesem stillen Abend fuhr das Schiff an einer kleinen Insel vorüber.

Niemand kannte ihren Namen; aus der Ferne erschien sie als ein kahler Felsen. Um die Riffe zu meiden, mußte hier das Schiff ganz nahe am Strande der Insel fahren. In der Nähe des Felsvorsprunges war das Meer so durchsichtig, daß man den silberweißen Grundsand mit den schwarzen Algen sehen konnte.

Hinter dem dunklen Felsen traten stille, grüne Wiesen hervor, auf denen Schafe und Ziegen weideten. Mitten auf dem Felsen stand eine Platane. Anatolius bemerkte einen Jüngling und ein Mädchen, die auf den moosbewachsenen Wurzeln des Baumes saßen; es waren wohl Kinder von armen Hirten. Hinter ihnen schimmerte in einem Cypressenhaine ein weißer, marmorner Pan mit einer neunläufigen Flöte.

Anatolius wandte sich an Arsinoe und zeigte ihr diesen friedlichen Winkel des alten Hellas. Doch die Worte erstarben ihm auf den Lippen: die Künstlerin starrte mit einem seltsamen, freudigen Lächeln auf die von ihr eben vollendete kleine Wachsfigur; es war eine verführerische, doppeldeutige Gestalt mit einem herrlichen olympischen Körper und einer überirdischen Trauer auf dem Gesicht.

Anatolius' Herz krampfte sich zusammen. Er fragte sie hastig, beinahe gehässig, auf die Wachsfigur weisend:

»Wer ist das?«

Sie hob langsam, wie mit großer Anstrengung ihre Augen; er dachte sich: »solche Augen muß eine Sibylle haben.«

»Du glaubst, Arsinoe,« fuhr er fort, »daß die Menschen dich verstehen werden?«

»Ist es nicht einerlei?« versetzte sie leise mit traurigem Lächeln.

Sie schwieg eine Weile und sagte dann noch leiser, wie vor sich hin:

»Er muß schrecklich und unerbittlich sein wie Mithra-Dionysos in seiner Kraft und seinem Ruhm, und barmherzig und mild wie der Galiläer Jesus . . .«

»Was sagst du? Kann man denn beides verbinden?«

Die Sonne sank immer tiefer. Unter ihr lag am Horizont eine große Wolke. Die letzten Strahlen liebkosten traurig und zärtlich die einsame Insel. Der Jüngling und das Mädchen näherten sich jetzt dem Altar des Pan, um das abendliche Trankopfer darzubringen.

»Glaubst du, Arsinoe,« sagte Anatolius, »daß unsere unbekannten kommenden Brüder den abgerissenen Faden unseres Lebens wieder aufnehmen und weiter verfolgen werden? Glaubst du, daß in dieser barbarischen Finsternis, die sich auf Rom und Hellas senkt, doch nicht alles untergehen wird? O, wenn es wirklich so wäre, wenn man wissen könnte, daß die Zukunft . . .«

»Ja,« rief Arsinoe aus; in ihren ernsten, dunklen Augen leuchtete prophetischer Geist. »Die Zukunft ruht in uns, in unserer Trauer! Julianus hatte recht: wir müssen ruhmlos und stumm, allen fremd und einsam bis ans Ende dulden und ausharren; wir müssen den letzten Funken unter der Asche verwahren, damit die kommenden Geschlechter an ihm die neuen Fackeln anzünden können. Dort, wo wir aufhören, werden sie anfangen. Die Menschen werden einst die heiligen Gebeine von Hellas, die Splitter von göttlichen Marmorbildwerken wieder ausgraben, und sie werden über ihnen beten und weinen; sie werden in den Gräbern die vermoderten Blätter unserer Bücher auffinden und wieder wie die Kinder die alten Sagen Homers und die Weisheit Platos buchstabieren. Dann wird Hellas auferstehen und wir auch!«

»Und mit uns unsere Trauer!« rief Anatolius aus. »Wozu? Wer wird in diesem Kampfe siegen? Wann wird er enden? Antworte mir, Sibylle, wenn du es kannst!«

Arsinoe senkte ihre Augen und schwieg; dann richtete sie ihren Blick auf Ammianus und wies Anatolius auf ihn hin.

»Er wird dir besser antworten können als ich. Er leidet ebenso wie wir. Und doch hat er sich einen klaren Geist bewahrt. Sieh nur, wie ruhig und weise er uns zuhört.«

Ammianus Marcellinus hatte die Werke des Clematius zur Seite gelegt und lauschte schweigend ihrem Gespräche.

»In der Tat,« wandte sich Anatolius an ihn mit seinem gewohnten, etwas leichtsinnigem Lächeln, »wir sind schon länger als vier Monate Freunde, und doch weiß ich noch immer nicht, was du bist: Christ oder Hellene?«

»Ich weiß es selbst nicht,« antwortete Ammianus einfach.

»Wie willst du dann deine Chronik des römischen Reiches schreiben?« fragte ihn Anatolius. »Eine Wagschale, die christliche oder die hellenische muß doch überwiegen. Oder willst du die Nachkommen über deinen Glauben im Zweifel lassen?«

»Sie brauchen das nicht zu wissen,« antwortete der Historiker. »Ich will diesen und jenen gerecht werden. Ich habe den Kaiser Julianus geliebt; doch soll die Wagschale auch nicht zu seinen Gunsten überwiegen. Niemand soll entscheiden können, wer ich war, – wie ich es auch selbst nicht entscheide.«

Anatolius hatte bereits Gelegenheit gehabt, die angenehmen Umgangsformen des Ammianus, seine jedem Ehrgeiz fremde und echte Tapferkeit im Kriege und seine ruhige Treue in der Freundschaft kennen zu lernen; jetzt bewunderte er einen neuen Zug an ihm: die tiefe Klarheit seines Geistes.

»Du bist wirklich geboren zum Historiker, zum leidenschaftslosen Richter unseres allzu leidenschaftlichen Zeitalters, Ammianus. Du hast zwei einander bekämpfende Weisheiten versöhnt,« sagte er zu ihm.

»Ich bin nicht der erste,« entgegnete Ammianus.

Er erhob sich und sagte, auf die Pergamentrollen der Werke des großen Kirchenlehrers hinweisend:

»Hier ist alles, und noch viel mehr, enthalten; ich kann es gar nicht wiedergeben; es sind die ›Stromata‹ des Clematius von Alexandria. Er beweist, daß die ganze Macht Roms und die ganze Weisheit von Hellas nur einen Weg zur Lehre Christi bedeuten; es sind nur Vorzeichen, Andeutungen, Vorahnungen, breite Stufen, Propyläen, die zum Reiche Gottes führen, Plato ist nur ein Vorläufer des Galiläers Jesus.«

Diese letzten von Ammianus so einfach wiedergegebenen Worte des Clematius machten auf Anatolius einen tiefen Eindruck; es war ihm, als ob er dies alles schon einmal gehört hatte, als ob alles bis auf die letzte Kleinigkeit schon einmal dagewesen wäre; er erkannte die von der Abendsonne beschienene Insel, den kräftigen, angenehmen Geruch des Schiffsteeres und die unerwartet einfachen Worte über Plato, den Vorläufer Christi. Er sah in seinem Geiste eine breite, weiße, sonnenlichtüberflutete, von vielen Säulen geschmückte Treppe, wie die Propyläen zu Athen, die gerade in den blauen Himmel führte.

Die Trireme umschiffte langsam die Insel. Der Cypressenhain war fast gänzlich hinter dem Felsen verschwunden. Anatolius warf einen letzten Blick auf den Jüngling, der neben dem Mädchen vor der Panstatue stand; sie hatte sich über dem Altar gebeugt und brachte aus einer einfachen Holzschale das Abendopfer – mit Honig vermengte Ziegenmilch – dem Gotte dar; der Hirt schickte sich an, seine Flöte zu blasen. Die Trireme fuhr ins offene Meer hinaus. Alles verschwand hinter einem Felsvorsprung. Man sah nur noch eine schmale Säule von Opferrauch über dem Haine in die Höhe steigen.

Im Himmel, auf der Erde und auf dem Meere herrschte eine tiefe Stille.

In dieser Stille ertönte plötzlich ein leiser Kirchengesang: die frommen Greise auf dem Vorderdecke sangen im Chor ihr Abendgebet.

Im gleichen Augenblick zogen über die glatte Fläche des Meeres andere Töne: der Hirtenknabe spielte auf der Flöte die Abendhymne an Pan. Anatolius' Herz wurde von Erstaunen und Freude ergriffen.

»Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!« sangen die Mönche.

Die reinen Töne der Hirtenflöte stiegen hoch in den Himmel hinauf und verschmolzen mit den Worten des Vaterunser.

Auf den Felsen der glücklichen Insel verglomm der letzte Sonnenstrahl. Die Insel erschien jetzt wieder als kahler Fels mitten im Meere. Beide Hymnen verstummten gleichzeitig.

Der Wind sauste im Takelwerk. Wellen erhoben sich. Die Halcyone stöhnte sturmverheißend. Vom Westen zogen Schatten heran, und das Meer wurde dunkel. Die Gewitterwolke wuchs an. Man hörte die ersten dumpfen Donnerschläge. Nacht und Sturm senkten sich über das Meer.

Doch in den Herzen von Anatolius, Ammianus und Arsinoe leuchtete schon wie eine nie untergehende Sonne die große Freude der Wiedergeburt.

 


 


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