Dmitri Mereschkowski
Julianus Apostata
Dmitri Mereschkowski

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XVII.

Es war das erste Nachtlager auf dem Rückzuge in den sechzehnten Calenden des Junius.

Das Heer wollte nicht weiter. Weder Bitten, noch Ermahnungen, noch Drohungen des Kaisers halfen. Die Kelten und Skythen wie die Römer, die Christen wie die Heiden, die Feigen wie die Tapferen – alle schrien einstimmig: »Zurück, zurück!«

Die Heerführer waren im geheimen schadenfroh; die etruskischen Auguren triumphierten ganz offen. Nach der Verbrennung der Schiffe hatten sich alle empört. Jetzt waren nicht nur die Galiläer, sondern auch die Anhänger der olympischen Götter davon überzeugt, daß auf dem Haupte des Kaisers ein Fluch laste, daß er von den Eumeniden verfolgt werde. Wenn er durchs Lager schritt, verstummten alle Gespräche, alle Soldaten wichen ihm scheu aus.

Die Sibyllinischen Bücher und die Apokalypse, die etruskischen Auguren und die christlichen Seher, die Götter und die Engel hatten sich vereinigt, um den Apostaten zu stürzen.

Der Kaiser erklärte, daß er das Heer in die Heimat durch die Provinz Corduene und das fruchtbare Chiliokomon führen wolle. Bei diesem Rückzuge blieb noch wenigstens die Hoffnung, auf die Truppen des Procopius und Sabastianus zu stoßen. Julianus tröstete sich mit dem Gedanken, daß er noch immer auf persischem Gebiet bleibe und folglich auch dem Hauptheere des Königs Sapores begegnen und über ihn einen Sieg, der alles wieder gut machen würde, erringen könne.

Die Perser ließen sich nicht mehr blicken. Um vor dem von ihnen geplanten entscheidenden Überfall das römische Heer zu schwächen, verbrannten sie die fruchtbaren Felder mit dem reifen Weizen und Korn und alle Speicher und Heuschuppen in den Dörfern.

Die Soldaten gingen durch eine tote Wüste, die noch von dem Flurbrande rauchte. Eine Hungersnot trat ein.

Um das Unglück noch größer zu machen, zerstörten die Perser die Dämme ihrer Kanäle, und überschwemmten so die verbrannten Felder. Sie wurden dabei auch von den Flüssen und Bächen unterstützt, die infolge der kurzen, doch starken Schneeschmelze in den Bergen Armeniens aus den Ufern traten.

In der heißen Junisonne trocknete das Wasser sehr schnell. Auf der noch von der Feuersbrunst warmen Erde blieben Pfützen warmen, klebrigen, schwarzen Schmutzes zurück. Abends stiegen von der nassen Asche betäubende Dünste auf; der süßliche, feuchte Brandgeruch verpestete die Luft, das Wasser und selbst die Nahrung und die Kleidung der Soldaten. Aus den dampfenden Sümpfen erhoben sich ganze Wolken von Insekten – Moskitos, giftige Bremsen, Schnaken und Fliegen. Sie schwärmten über den Lasttieren und klebten an der staubigen und schweißigen Haut der Legionäre. Tag und Nacht hörte man ihr einschläferndes Summen. Die Pferde scheuten, die Ochsen rissen sich aus den Jochen und warfen die Wagen um. Nach den schwierigen Tagesmärschen konnten die Soldaten selbst in ihren Zelten keine Ruhe finden: die Insekten drangen durch alle Ritzen ein, und man mußte sich ganz in die warmen Decken hüllen, um einschlafen zu können. Der Stich einer winzigen, durchsichtigen Fliege von der schmutziggelben Farbe des Düngers erzeugte Blasen und Geschwülste, die zuerst juckten, dann schmerzten und sich schließlich in gräßliche, eiternde Wunden verwandelten.

In den letzten Tagen ließ sich die Sonne nicht blicken. Der Himmel war gleichmäßig mit weißen, glühenden Wolken bedeckt; ihr unbewegliches Licht tat aber den Augen noch mehr weh, als das grellste Sonnenlicht; der Himmel schien niedrig, schwer und schwül, wie die niedrige Decke einer heißen Badestube.

So gingen sie abgemagert und geschwächt mit matten Schritten und gesenkten Köpfen zwischen dem erbarmungslosen, niederen, kalkweißen Himmel und der verkohlten, schwarzen Erde.

Es schien ihnen, der Antichrist selbst, ein von Gott verstoßener Mensch, hätte sie absichtlich in dieses Land geführt, um sie zu verderben. Manche Soldaten murrten und beschimpften ihre Führer, doch taten sie es in wirren Worten, wie im Fieber. Andere beteten leise und weinten wie kranke Kinder, indem sie ihre Kameraden um einen Bissen Brot oder um einen Schluck Wein anflehten. Viele blieben erschöpft am Wege liegen.

Der Kaiser befahl, an die Hungrigen die letzten Lebensmittel zu verteilen, die für ihn und seine Umgebung vorbereitet waren.

Er selbst begnügte sich mit einer dünnen Mehlsuppe und ein wenig Speck, einer Ration, die selbst ein anspruchsloser Soldat verschmähen würde.

Infolge der großen Enthaltsamkeit fühlte er immer eine besondere Erregung und zugleich eine seltsame Leichtigkeit des Körpers; diese Erregung verlieh ihm gleichsam Flügel, die ihn unterstützten und seine Kräfte verzehnfachten. Er bemühte sich, so wenig als möglich an die Zukunft zu denken. Nur der Gedanke, daß er als Besiegter nach Antiochia oder Tarsus zum Spotte der Galiläer zurückkehren könne, war ihm unerträglich.

Ein Nordwind hatte die Insekten verscheucht, und die Soldaten konnten in dieser Nacht ausruhen. Das Öl, Mehl und der Wein, die aus den letzten Vorräten des Kaisers entnommen waren, hatten den Hunger einigermaßen gestillt. Die Hoffnung, in die Heimat zurückzukehren, war wieder erwacht. Das ganze Lager ruhte in tiefem Schlaf.

Julianus zog sich in sein Zelt zurück.

In der letzten Zeit hatte er seinen Schlaf aufs äußerste eingeschränkt und begnügte sich mit einem kurzen Halbschlummer vor Sonnenaufgang; wenn er zuweilen wirklich einschlief, so erwachte er jedesmal mit einem Grauen im Herzen und mit kalten Schweißtropfen am Körper: er mußte die ganze Kraft seines Bewußtseins zusammennehmen, um über dieses Gefühl Herr zu werden.

Als er in das Zelt gekommen war, putzte er mit einer eisernen Schere den Docht der kupfernen Lampe, die in der Mitte des Zeltes hing. Überall lagen Pergamentrollen aus seiner Feldbibliothek umher; darunter war auch das Evangelium. Er wollte wieder an seinem Lieblingswerk, der philosophischen Abhandlung »Wider die Galiläer« arbeiten, die er vor zweiundeinhalb Monaten bereits während des Feldzuges begonnen hatte.

Er saß mit dem Rücken gegen den Eingang des Zeltes und blätterte im Manuskript, als er plötzlich ein Geräusch vernahm. Er wandte sich um, stieß einen Schrei aus und sprang auf: es war ihm, als ob er ein Gespenst gesehen hätte. An der Schwelle des Zeltes stand ein Jüngling in einer dunklen, ärmlichen Tunika aus Kamelhaaren mit einem staubigen Schafsfell, wie es die ägyptischen Einsiedler trugen, auf den Schultern und mit Sandalen aus Palmenblättern auf den bloßen, zarten Füßen.

Der Kaiser starrte ihn an und wartete; vor Erregung konnte er kein Wort sprechen. Es herrschte eine Stille, wie sie nur in der schweigsamsten Stunde nach Mitternacht vorkommt.

»Weißt du noch,« sprach eine vertraute Stimme, »weißt du noch, Julianus, wie du mich nachts im Kloster besucht hast? Ich habe dich dann abgewiesen, doch konnte ich dich nicht vergessen, denn wir beide sind einander ewig nahe . . .«

Der Jüngling warf die dunkle Mönchskapuze vom Kopf, und Julianus erkannte die goldenen Locken Arsinoes.

»Woher? Wie bist du hergekommen? Warum diese Verkleidung? . . .«

Er fürchtete noch immer, daß es ein Gespenst sei, das ebenso schnell verschwinden könne, wie es gekommen war.

Arsinoe berichtete ihm in wenigen Worten, was sie während der Trennung alles erlebt hatte. – Nachdem sie ihren Vormund Hortensius verlassen und ihre ganze Habe an die Armen verteilt hatte, lebte sie längere Zeit unter den galiläischen Einsiedlern, südlich vom See Mareotis, in den schrecklichen Wüsten von Nitria und Schedia, zwischen den Libyschen Bergen. Der junge Juventinus, der Jünger des blinden Greises Didymos, hatte sie begleitet. Sie hatten zusammen die berühmten Anachoreten besucht.

»Nun?« fragte Julianus nicht ohne Furcht, »hast du, Mädchen, bei ihnen das gefunden, was du suchtest?«

Sie schüttelte den Kopf und sprach wehmütig:

»Nein. Es waren nur Andeutungen, Vorahnungen, leise Anklänge . . .«

»Erzähle, erzähle alles!« drang der Kaiser in sie ein. In seinen Augen leuchtete etwas wie Hoffnung.

»Werde ich es auch erzählen können?« begann sie langsam, »Siehst du, mein Freund: ich habe bei ihnen die Freiheit gesucht, habe sie aber nicht gefunden . . .«

»Ja, ja! Nicht wahr?« rief Julianus triumphierend. »Ich habe es dir doch gesagt, Arsinoe. Weißt du es noch? . . .«

Sie setzte sich auf den mit einem Leopardenfell bedeckten Feldstuhl und erzählte ruhig mit traurigem Lächeln weiter. Er fing entzückt und gierig ein jedes von ihren Worten auf.

»Erzähle mir, wie hast du diese Unglücklichen verlassen?« fragte Julianus.

»Auch ich hatte eine Versuchung,« antwortete sie. »Einst fand ich in der Wüste in einem Steinhaufen einen Splitter weißen, reinen Marmors; ich hob ihn auf und erfreute mich lange an seinem blendenden Funkeln in den Sonnenstrahlen; und plötzlich mußte ich an Athen, an meine Jugend, an die Kunst, an dich denken. Ich war wie aus einem Schlafe erwacht. Ich entschloß mich sofort, wieder in die Welt zurückzukehren und so zu leben und zu sterben, wie mich Gott erschaffen hat: – als Künstlerin. – Um diese Zeit hatte der alte Didymos einen prophetischen Traum: daß ich dich mit dem Galiläer versöhnt hätte . . .«

»Mit dem Galiläer?« sagte Julianus leise; sein Gesicht verfinsterte sich, seine Augen erloschen, das Lächeln erstarb auf seinen Lippen.

»Ich wollte dich wiedersehen,« fuhr Arsinoe fort, »ich wollte erfahren, ob du auf deinem Wege die Wahrheit gefunden und was du erreicht hast. Als Mönch verkleidet bin ich mit dem Bruder Juventinus den Nil hinab bis Alexandria gefahren und von dort zu Schiff nach Seleucia gekommen; hier habe ich mich einer großen illyrischen Karawane angeschlossen und bin mit ihr über Apameia, Epiphania und Edessa bis an die Grenze gezogen; unter mancherlei Gefahren und Mühsalen haben wir die von den Persern verlassenen Wüsten Mesopotamiens durchquert und in der Nähe des Dorfes Abuzatha, bald nach deinem Siege bei Ktesiphon, dein Lager erblickt. Und jetzt bin ich hier. – Wie ist es aber dir ergangen, Julianus?«

Er seufzte auf, ließ seinen Kopf sinken und gab keine Antwort.

Dann streifte er sie mit einem schnellen, flehenden und argwöhnischen Blick und fragte:

»Arsinoe, jetzt haßt du Ihn wohl auch? . . .«

»Nein. Wofür?« erwiderte sie leise und einfach. »Haben denn die Weisen von Hellas nicht beinahe das Gleiche gepredigt wie Er? Jene Leute, die in der Wüste ihr Fleisch und ihren Geist abtöten, haben mit dem sanften Sohne Marias nichts zu schaffen. Er liebte die Kinder, die Freiheit, die Freude der Feste und die weißen Lilien. Er liebte das Leben, Julianus! Wir haben uns aber von Ihm entfernt, haben uns verirrt, und unsere Seelen sind düster geworden. Sie nennen dich einen Apostaten; sie sind es aber alle selbst . . .«

Der Kaiser kniete vor ihr nieder und sah sie flehend an. Tränen glänzten auf seinen Wimpern und liefen langsam die Wangen herab.

»Nein, nein,« flüsterte er, »sprich nicht davon! . . . Wozu? . . . Laß mir meine Vergangenheit . . . Werde nicht wieder mein Feind! . . .«

»Nein!« rief sie mit heftiger Bewegung. »Ich muß dir alles sagen. Höre. Ich weiß, daß du Ihn liebst. Schweige, – es ist so, und das ist dein Fluch. Gegen wen hast du dich empört? Wie kannst du behaupten, daß du Sein Feind bist? Wenn auch deine Lippen den Gekreuzigten verdammen, deine Seele lechzt immer nach Ihm. Wenn du gegen seinen Namen kämpfst, so stehst du seinem Geiste immer noch näher, als die, die mit toten Lippen: ›Herr! Herr!‹ rufen. Diese sind deine Feinde, doch nicht Er! Warum quälst du dich mehr ab, als die galiläischen Mönche? . . .«

Julianus sprang blaß auf; sein Gesicht verzerrte sich, seine Augen leuchteten zornig; keuchend flüsterte er:

»Geh fort, verlasse mich! Ich kenne alle eure galiläischen Versuchungskünste! . . .«

Arsinoe sah ihn entsetzt wie einen Wahnsinnigen an.

»Julianus, Julianus! Was hast du? Hat dich denn schon der Name allein . . .?«

Er hatte aber bereits seine Fassung wieder erlangt; seine Augen erloschen, sein Gesicht nahm einen gleichgültigen, beinahe verächtlichen Ausdruck an.

»Geh fort, Arsinoe. Vergiß alles, was ich gesagt habe. Du siehst, daß wir einander fremd sind. Der Schatten des Gekreuzigten ist zwischen uns. Du hast dich von Ihm nicht losgesagt. Wer Ihn nicht haßt, kann nicht mein Freund sein.«

Sie fiel vor ihm auf die Knie.

»Warum? Warum? Was tust du? Erbarme dich doch deiner selbst, solange es noch nicht zu spät ist! Kehre um, oder du . . .«

Sie kam nicht weiter; er aber sprach mit hochmütigem Lächeln ihren Gedanken zu Ende:

»Oder ich gehe zugrunde? Und wenn auch! Ich will meinen Weg zu Ende gehen, wohin er mich auch bringen mag. Wenn ich aber, wie du es behauptest, ungerecht gegen die Lehre der Galiläer war, so bedenke, was ich alles von ihnen erdulden mußte, wie zahlreich und wie verächtlich meine Feinde waren. Einst war ich dabei, wie die römischen Soldaten in den Sümpfen Mesopotamiens einen Löwen fanden, der von giftigen Fliegen verfolgt wurde; sie drangen ihm in den Rachen, in die Ohren und in die Nüstern ein und ließen ihn nicht aufatmen, klebten an seinen Augen und besiegten langsam mit ihren Stichen die Kraft des Löwen. – So ist auch mein Untergang, so ist der Sieg, den die Galiläer über dem römischen Cäsar erringen!«

Das Mädchen streckte ihm noch immer ihre Hände schweigend und hoffnungslos, wie ein Freund einem verstorbenen Freunde, entgegen. Zwischen ihnen war aber ein Abgrund, den Lebende nicht überschreiten . . .

*

Ende Juli erreichte das römische Heer nach einem langen Marsche durch die verbrannte Steppe das Tal des kleinen Flusses Durus, wo es noch ein wenig Gras gab, das das Feuer verschont hat. Die Legionäre waren außer sich vor Freude, sie legten sich auf die Erde, atmeten den frischen Geruch ein und drückten die feuchten Grashalme an ihre entzündeten Augenlider.

In der Nähe war auch ein reifes Weizenfeld. Die Soldaten ernteten das Getreide. Drei Tage lang konnten sie in diesem angenehmen Tale der Ruhe pflegen. Am Morgen des vierten Tages bemerkten die Wachtposten, die auf den nahen Hügeln aufgestellt waren, eine Wolke, die vom Staube, oder auch vom Rauche herrühren konnte. Die einen glaubten, daß es die wilden Esel seien, die sich zu großen Herden ansammeln, um sich vor den Löwen zu schützen; andere meinten, es seien Sarazenen, die die Gerüchte von der Belagerung von Ktesiphon angelockt hätten; andere wieder äußerten den Verdacht, daß es das Hauptheer des Königs Sapores sein könne.

Der Kaiser befahl, Appell zu blasen.

Die Kohorten stellten sich am Ufer des Baches in Verteidigungsordnung auf, einen regelmäßigen Kreis unter dem Schutze der zu einer Mauer zusammengerückten, ehernen Schilde bildend.

Der Horizont war bis zum Abend von der Rauch- oder Staubwolke verhüllt, und niemand konnte erraten, was sich in ihr verbarg.

Die Nacht war still und finster; kein Stern blinkte am Himmel.

Die Römer schliefen nicht. Sie standen um die Wachtfeuer und erwarteten schweigsam und ruhig den Morgen.


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