Dmitri Mereschkowski
Julianus Apostata
Dmitri Mereschkowski

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XVII.

In einem der belebtesten Säulengänge von Athen war die Statue »Der Sieger Octavius mit dem Kopfe des toten Brutus«, ein Werk Arsinoes, aufgestellt. Das Volk von Athen begrüßte in der Tochter des Senators Helvidius Priscus die Wiederbeleberin der alten Kunst.

Eigene Beamte, die auf die Stimmung der Bevölkerung im Reiche aufzupassen hatten, und daher die »Forscher« genannt wurden, berichteten an die vorgesetzte Behörde, daß dieses Bildwerk im Volke freiheitliche Gefühle wecken könne: im Haupte des Brutus wollten sie die Züge des Julianus erkennen und darin eine frevelhafte Anspielung auf die Hinrichtung des Gallus sehen; in Octavius entdeckten sie eine Ähnlichkeit mit Constantius.

Diese Anzeige entwickelte sich zu einer Untersuchung wegen Majestätsbeleidigung, die beinahe in die Hände des Paulus Catena geraten wäre. Glücklicherweise kam aus der Hofkanzlei vom Magister der Offizien der strenge Befehl, die anstößige Statue nicht nur von ihrem Standplatze zu entfernen, sondern auch in Gegenwart von kaiserlichen Beamten zu vernichten.

Arsinoe wollte sie verstecken. Hortensius bekam solche Angst, daß er seiner Pflegetochter drohte, sie an die Angeber auszuliefern.

Ihrer bemächtigte sich ein Ekel vor der menschlichen Gemeinheit: sie gestattete mit ihrem Werke alles zu tun, was nur Hortensius wollte. Die Statue wurde von Steinhauern zertrümmert.

Arsinoe wollte nun Athen schleunigst verlassen. Der Vormund überredete sie, ihn nach Rom zu begleiten, wo seine Freunde ihm schon längst den einträglichen Posten eines kaiserlichen Quästors in Aussicht gestellt hatten.

In Rom siedelten sie sich in der Nähe des Palatinischen Hügels an. Die Tage vergingen in Untätigkeit. Die Künstlerin hatte eingesehen, daß die frühere große und freie Kunst in der neuen Zeit unmöglich sei.

Arsinoe erinnerte sich noch an ihr Gespräch mit Julianus in Athen; dies war noch das einzige Band, das sie mit dem Leben verknüpfte. Die Erwartung und die Untätigkeit waren ihr unerträglich. In Augenblicken von Verzweiflung überkam sie oft der Wunsch, mit allem schnell ein Ende zu machen, alles im Stich zu lassen und ohne Aufschub nach Gallien zum jungen Cäsar zu reisen; mit ihm wollte sie die Macht erringen, oder untergehen.

Zu dieser Zeit erkrankte sie aber an einem schweren Leiden. In den langen, stillen Tagen der Rekonvaleszenz wurde sie von Anatolius, dem launischsten und zugleich treuesten ihrer Verehrer, getröstet. Er war Centurio bei den kaiserlichen Schildträgern und Sohn eines reichen Kaufmannes aus Rhodus.

Wie er selbst sagte, war er römischer Centurio nur ganz zufällig geworden; er wählte diesen Beruf seinem alten Vater zuliebe, dessen höchstes Lebensglück es war, seinen Sohn in der goldstrotzenden Uniform eines kaiserlichen Schildträgers zu sehen. Er befreite sich vom Dienste durch Bestechungen und verbrachte seine Tage in elegantem Müßiggang, unter seltenen Kunstwerken und Büchern, bei Trinkgelagen und auf planlosen, üppigen Reisen. Die tiefe Heiterkeit der alten Epikureer ging ihm aber ab, und er pflegte seinen Freunden vorzujammern:

»Ich leide an einer tödlichen Krankheit.«

»An welcher?« fragten sie ihn mit ungläubigem Lächeln.

»Daran, was ihr meinen Geist nennt, und was mir selbst zuweilen als ein beklagenswerter und seltsamer Wahnsinn erscheint.«

Seine weichen, mädchenhaften Gesichtszüge drückten Müdigkeit und Trägheit aus.

Zuweilen schien er aus einem Schlafe zu erwachen: dann pflegte er während eines Sturmes eine zwecklose und gefährliche Bootfahrt im offenen Meere in Gesellschaft von Fischern zu unternehmen, oder in die Wälder von Calabrien zu reisen, um da auf Eber und Bären zu jagen; oft hegte er den Wunsch, an einer Verschwörung gegen den Kaiser teilnehmen zu können, oder im Kriege Ruhm zu suchen; oder er wollte in die Mysterien des Mithra und des Adonis eingeweiht werden. In solchen Augenblicken setzte er selbst solche Leute, die ihn in seinem alltäglichen Leben nicht kannten, durch seine Unermüdlichkeit und Verwegenheit in Erstaunen.

Seine Erregung war aber gewöhnlich bald wieder verpufft, und er kehrte noch matter und schläfriger, noch trauriger und skeptischer zu seinem Müßiggang zurück.

»Man kann mit dir wirklich nichts anfangen, Anatolius,« sagte Arsinoe oft mit vorwurfsvollem Lächeln zu ihm: »du bist so weich, als hättest du keine Knochen im Leibe.«

Sie spürte aber im ganzen Wesen dieses letzten Epikureers einen Hauch von hellenischer Schönheit; sie liebte das traurige und spöttische Lächeln seiner müden Augen über das Leben und über sich selbst, mit dem er zu sagen pflegte:

»Der Weise findet eine gewisse Süße selbst in seinen traurigsten Gedanken, gleich den Bienen des Hymettos, die auch aus den bittersten Gräsern Honig saugen.«

Die stillen Gespräche mit ihm trösteten und beruhigten Arsinoe. Sie nannte ihn im Scherz ihren Arzt.

Arsinoe genas von ihrer Krankheit, doch kehrte sie nie wieder in ihre Werkstatt zurück; selbst der Anblick des Marmors rief bei ihr traurige Empfindungen wach.

Hortensius war in dieser Zeit mit den Vorbereitungen zu den Festspielen beschäftigt, die er zur Feier seiner Ankunft in Rom dem Volke im Amphitheater des Flavius geben wollte. Er war immer unterwegs und hatte alle Hände voll zu tun; täglich trafen für ihn Pferde, Löwen, iberische Bären, schottische Hunde, Nilkrokodile, auch kühne Jäger, kunstfertige Reiter, Mimen und auserlesene Gladiatoren ein, die er sich aus allen Enden der Welt kommen ließ.

Der Tag des Festes nahte heran, doch waren die Löwen noch immer nicht aus Tarent, wohin man sie auf dem Seewege gebracht hatte, eingetroffen. Die Bären waren in einem ganz elenden Zustande angelangt und waren daher fromm wie Lämmer, Hortensius konnte vor Aufregung weder essen, noch schlafen.

Vor zwei Tagen hatten sich die Gladiatoren, Kriegsgefangene aus Sachsen, stolze und furchtlose Männer, die ihm viel Geld gekostet hatten, gegenseitig im Gefängnisse erdrosselt, da sie es für eine Schmach hielten, dem römischen Pöbel zur Belustigung zu dienen. Diese unerwartete Nachricht machte auf Hortensius einen so niederschmetternden Eindruck, daß er beinahe in Ohnmacht fiel.

Jetzt mußte er seine ganze Hoffnung auf die Krokodile setzen.

»Hast du versucht, sie mit kleingehacktem Ferkelfleisch zu füttern?« fragte er den Sklaven, der die kostbaren Krokodile zu bewachen hatte.

»Ich habe es versucht. Sie fressen es nicht.«

»Und rohes Kalbfleisch?«

»Auch Kalbfleisch fressen sie nicht.«

»Und in Rahm eingeweichtes Weizenbrot?«

»Sie wollen nicht einmal daran riechen, sie wenden ihre Schnauzen ab und schlafen, wahrscheinlich sind sie krank oder sehr müde, wir haben schon versucht, ihnen die Schnauzen mit Stangen aufzureißen und die Nahrung mit Gewalt hinein zu stopfen, doch spucken sie sie immer wieder aus.«

»Bei Jupiter, diese gemeinen Geschöpfe werden mich noch ins Grab bringen! Man muß sie gleich am ersten Tage in die Arena herauslassen, solange sie noch nicht vor Hunger krepiert sind,« stöhnte der arme Hortensius auf, in einen Sessel fallend.

Arsinoe betrachtete ihn nicht ohne Neid: er langweilte sich wenigstens nicht.

Sie ging in ein einsames Gemach, dessen Fenster in den Garten gingen, hier traf sie ihre Schwester Myrrha. Das schmächtige, schlanke Mädchen spielte, vom stillen Mondscheine übergossen, ganz leise auf der Leier, und die Töne fielen in der Stille der Mondnacht wie Tränen. Arsinoe umarmte sie schweigend. Myrrha lächelte ihr zu, ohne das Spiel zu unterbrechen.

Hinter der Gartenmauer ertönte ein leiser Pfiff.

»Er ist's!« sagte Myrrha sich erhebend und hinhorchend, »Wollen wir schneller gehen.«

Sie drückte mit ihrer kindlichen und doch kräftigen Hand die Hand Arsinoes.

Beide Mädchen warfen sich dunkle Mäntel über und traten ins Freie. Der Wind jagte die Wolken, zwischen denen der Mond bald hervorlugte, bald wieder verschwand.

Arsinoe öffnete die kleine Gartenpforte.

Ein Jüngling in einer wollenen Mönchskutte erwartete sie draußen.

»Kommen wir zu spät, Juventinus?« fragte Myrrha. »Ich fürchtete schon, daß du heute nicht kommst . . .«

Sie gingen lange durch eine schmale und finstere Gasse, dann durch einen Weingarten und gelangten schließlich aufs freie Feld, wo die römische Campagna beginnt. Unter ihren Füßen raschelte trockenes Gras. In der mondbeschienenen Ferne sah man die Bogen des aus Backsteinen erbauten Aquäduktes aus den Zeiten des Servius Tullius.

Juventinus sah sich um und sagte:

»Jemand folgt uns.«

Die beiden Mädchen wandten sich auch um. Das Mondlicht fiel auf ihre Gesichter, und der Mann, der ihnen folgte, rief freudig aus:

»Arsinoe! Myrrha! Endlich finde ich euch! wohin des Weges?«

»Zu den Christen,« antwortete Arsinoe. »Komme mit uns, Anatolius. Du wirst viel Interessantes sehen.«

»Zu den Christen? Ist es denn möglich . . . Du hast sie doch immer gehaßt?« fragte der Centurio erstaunt.

»Mit den Jahren wird man besser und gleichgültiger gegen alles,« entgegnete das Mädchen. »Dieser Aberglauben ist nicht besser und nicht schlechter als alle anderen. Und was fängt man nicht alles vor lauter Langeweile an? Ich gehe nur Myrrha zuliebe hin. Ihr gefällt es . . .«

»Wo ist denn die Kirche? wir sind doch mitten im freien Feld?« fragte Anatolius, sich erstaunt umblickend.

»Die Kirchen der Christen sind von ihren eigenen Brüdern, den Arianern, die an Christus anders als sie glauben, zerstört und entweiht. Am Hofe hast du ja genug Gelegenheit gehabt, von ihren Streitigkeiten über die Wesenseinheit und Wesensähnlichkeit zu hören. Jetzt beten die Gegner der Arianer in geheimen, unterirdischen Gängen, wie in der Zeit der ersten Christenverfolgungen.«

Myrrha und Juventinus waren etwas zurückgeblieben, so daß Arsinoe und Anatolius ungestört sprechen konnten.

»Wer ist das?« fragte der Centurio, auf Juventinus zeigend.

»Ein Nachkomme des alten Patriziergeschlechtes der Furier,« antwortete Arsinoe. »Seine Mutter will gerne, daß er Konsul wird; er will aber gegen ihren Willen in die Wüste fliehen, um da Gott anzubeten; obwohl er seine Mutter liebt, flieht er vor ihr, wie vor einem Feind . . .«

»Ein Nachkomme der Furier – ein Mönch! Das sind Zeiten!« seufzte der Epikureer auf.

Sie näherten sich den »Arenarien«, alten Gruben, in denen einst bröckeliger Tuff gewonnen wurde, und stiegen auf einer schmalen Stiege auf den Grund des Steinbruches herab. Der Mond beleuchtete die großen Stücke rötlicher, vulkanischer Erde. Juventinus holte aus einer runden Wandnische eine kleine, tönerne Lampe hervor, schlug Feuer und zündete sie an. Aus dem schlanken Halse der Lampe schlug eine lange, flackernde Flammenzunge empor, sie gingen in die Tiefe eines der Seitengänge des Arenariums. Der noch von den alten Römern gegrabene Stollen war sehr breit und führte ziemlich steil in die Tiefe hinab. Er wurde von anderen Stollen, die den Arbeitern zum Transport des Gesteins dienten, durchkreuzt. Juventius führte seine Begleiter durch ein Labyrinth. Endlich blieb er vor einer Schachtmündung stehen und hob den Holzdeckel ab. Dem Loche entstieg ein Geruch von Feuchtigkeit, sie stiegen vorsichtig die steilen Stufen hinab.

Unten in der Tiefe fanden sie eine kleine Türe. Juventinus klopfte an.

Die Türe wurde aufgemacht, und der Pförtner, ein greiser Mönch, ließ sie in einen engen und hohen Stollen eintreten, der nicht mehr durch bröckeliges, sondern durch körniges Gestein ging, das sich gut zum Graben neuer Gänge eignete.

Beide Wände waren vom Boden bis an die Decke teils mit Marmorplatten, teils mit flachen, dünnen Backsteinen bedeckt, die die zahllosen Gräber abschlossen.

Hier und da begegneten ihnen Menschen mit Lampen in der Hand. Anatolius konnte im flackernden Lampenscheine die Inschrift auf einer der Grabplatten entziffern: »Dorotheus, Sohn des Felix, ruht hier an einem kühlen Ort, an einem lichten Ort, an einem friedlichen Ort.« Auf einer anderen Steinplatte las er: »Brüder, störet mich nicht in meinem süßesten Schlafe.«

Alle diese Inschriften drückten Liebe und Freudigkeit aus. So lautete die eine: »süße Sophronia, lebe ewig in Gott« – »Sophronia, dulcis, semper vivis Deo.« Etwas weiter las man: »Sophronia vivis« – »Sophronia, du lebst,« – als hätte der Verfasser der Inschrift endgültig begriffen, daß es keinen Tod gäbe.

Nirgends hieß es: »Er ist begraben,« sondern nur: »Er ist hier niedergelegt« – »depositus«. Tausende und Abertausende von Menschen, ganze Geschlechter schienen hier nicht tot, sondern von einem leichten Schlaf umfangen und von einer geheimnisvollen Erwartung erfüllt, zu ruhen.

In den Wandnischen standen Lampen, die in der dumpfen Luft mit unbeweglicher, schlanker Flamme brannten, und schöne Amphoren mit Wohlgerüchen. Nur der Geruch von faulenden Gebeinen, der aus den Spalten in den Särgen drang, erinnerte an den Tod.

Die unterirdischen Gänge waren in mehreren Stockwerken übereinander angeordnet; hier und da sah man in der Decke ein »Luminarium«, – ein rundes Loch, das zur Lüftung und Beleuchtung diente und bis zur Oberfläche der Campagna aufstieg.

Schwache Mondstrahlen fielen durch das Luminarium und streiften einzelne Marmorplatten mit Inschriften.

Am Ende einer dieser Galerien sahen sie einen Totengräber bei der Arbeit. Ein lustiges Liedchen vor sich her summend, schlug er mit einer eisernen Hacke in das körnige Gestein, das sich über seinem Kopfe zu einer runden Kuppel wölbte.

Um den Oberaufseher über die Totengräber, den »Fossor«, einen reich gekleideten Mann mit schlauen Augen und feistem Gesicht, drängten sich mehrere Christen. Der Fossor hatte von jemand eine ganze Galerie von Katakomben geerbt und verkaufte in diesen einzelne freie Beerdigungsplätze; seine Abteilung war besonders einträglich, denn in ihr ruhten die Gebeine des heiligen Laurentius. Der Totengräber war dadurch ein reicher Mann geworden. Jetzt verhandelte er mit dem reichen und geizigen Gerber Simon. Arsinoe blieb für einen Augenblick stehen und lauschte dem Gespräch der beiden.

»Wie weit liegt der Platz vom heiligen Laurentius?« fragte Simon mißtrauisch, an die hohe Summe denkend, die der Fossor von ihm verlangte.

»Es ist nicht weit: nur sechs Ellen.«

»Oben oder unten?« fuhr der Käufer fort.

»Zur Rechten, zur Rechten, etwas schräg. Ich sage dir, es ist ein ausgezeichneter Platz, und ich übervorteile dich nicht. Wieviel du auch gesündigt hast, alles wird dir vergeben werden! Du wirst mit dem Heiligen zugleich direkt in den Himmel eintreten.«

Der Fossor nahm dem Besteller mit seinen geübten Händen Maß für das Grab, wie es ein Schneider bei Kleidern tut. Der Gerber bat ihn inständig, das Grab möglichst geräumig zu machen, damit er nicht eng zu liegen habe.

Nun kam zum Totengräber ein ärmlich gekleidetes, altes Mütterchen.

»Was willst du, Großmutter?«

»Ich bringe Geld, die Draufzahlung.«

»Was für eine Draufzahlung?«

»Für ein gerades Grab.«

»Ach ja, ich weiß schon. Das krumme willst du also nicht?«

»Nein, mein Lieber, meine Knochen tun mir schon so weh . . .«

In den Katakomben, besonders in der Nähe von Heiligengräbern, waren die Plätze so sehr gesucht, daß man jeden freien Winkel ausnützte und auch hier und da, wo es die Lage der Wände nicht anders gestattete, leicht gekrümmte Gräber einrichtete; solche krumme Gräber wurden aber nur von den Ärmsten gekauft.

»Ich denke mir, Gott weiß, wie lange ich da bis zum jüngsten Tage liegen müssen werde,« erklärte die Alte. »Wenn ich in ein krummes zu liegen komme, werde ich es in der ersten Zeit vielleicht noch ertragen können; wenn ich aber später müde werde, wird es mir schlecht gehen . . .«

Anatolius hörte belustigt zu.

»Das ist viel interessanter, als die Mysterien des Mithra,« sagte er mit leichtsinnigem Lächeln zu Arsinoe. »Schade, daß ich es nicht schon früher gewußt habe. Noch nie im Leben habe ich einen so lustigen Friedhof gesehen!«

Sie betraten ein ziemlich großes Mausoleum. Hier brannten zahllose Lampen. Ein Presbyter zelebrierte die Messe. Als Altar diente der Deckel eines Märtyrergrabes, das unter einer Bogenwölbung stand.

Es waren hier viele Betende in langen, weißen Gewändern versammelt. Alle Gesichter schienen freudig.

Myrrha kniete nieder und blickte mit Tränen kindlicher Liebe in den Augen auf das Bild des Guten Hirten, das an der Decke des Mausoleums angebracht war.

In diesen Katakomben war eine längst von der Kirche abgeschaffte frühchristliche Sitte wieder erneuert worden: nach Schluß des Gottesdienstes begrüßten die Brüder und die Schwestern einander mit dem »Friedenskusse«. Arsinoe folgte dem allgemeinen Beispiele und küßte Anatolius.

Dann verließen die vier die unteren Stockwerke und begaben sich durch die oberen zu dem geheimen Versteck des Juventinus; es war ein verlassenes, heidnisches Grab, ein »Columbarium«, das seitwärts der Via Appia lag.

In Erwartung eines Schiffes, das ihn nach Ägypten bringen sollte, hielt sich hier Juventinus vor seiner Mutter, die die Beamten des Präfekten auf ihn gehetzt hatte, verborgen; hier lebte er mit dem frommen Greise Didymos aus der Thebaïde zusammen, dem er als Novize diente.

Didymos kauerte im Columbarium und flocht gerade einen Korb aus Weidenruten. Ein Mondstrahl, der durch das enge Luftloch fiel, beleuchtete seine silberweißen, weichen Locken und seinen langen Bart.

An den Wänden der Grabkammer waren von oben bis unten kleine Vertiefungen angebracht, die den Nestern in einem Taubenschlage glichen; in einem jeden dieser Nester stand eine Urne mit der Asche eines Verstorbenen.

Myrrha, die der Greis besonders liebte, küßte ehrfürchtig seine runzelige Hand und bat ihn, er möchte doch etwas von den frommen Vätern und Anachoreten erzählen.

Diese seltsamen und wunderbaren Geschichten liebte sie über alles in der Welt. Mit zärtlichem Lächeln streichelte ihr der Greis die Haare. Alle nahmen um ihn Platz.

Er erzählte ihnen Legenden von den großen Einsiedlern der Thebaïde, von Nitrien und Mesopotamien. Myrrha sah ihn unverwandt mit ihren leuchtenden Augen an, ihre feinen Hände an die Brust gedrückt. Das Lächeln des blinden Greises war von einer kindlichen Zärtlichkeit erfüllt, das seidenweiche, silberweiße Haar umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein.

Alle schwiegen. Aus der Ferne hörte man das nie verstummende Getöse Roms.

Plötzlich wurde an die innere Türe, die das Columbarium mit den Katakomben verband, leise gepocht. Juventinus erhob sich, ging zu der Türe und fragte, ohne zu öffnen:

»Wer ist da?«

Er bekam keine Antwort; das Pochen ließ sich aber wieder vernehmen, wenn auch etwas schwächer; es klang wie ein Flehen.

Er machte vorsichtig die Türe auf und taumelte zurück: eine hochgewachsene Frau trat in das Columbarium. Sie war von Kopf bis zu den Füßen in ein langes, weißes Gewand gehüllt, das ihr auch auf das Gesicht herabfiel. Sie bewegte sich so, als ob sie krank oder eine Greisin wäre. Alle starrten stumm auf die Eintretende.

Mit einer raschen Handbewegung warf sie die langen Falten, die ihr das Gesicht verdeckten, zurück, und Juventinus schrie auf:

»Mutter!«

Das Weib stürzte dem Sohne zu Füßen und umklammerte sie mit ihren Armen.

Strähnen grauer Haare fielen ihr in das blasse, traurige, hagere, doch immer noch stolze Gesicht.

Juventinus umarmte die Mutter und küßte sie.

»Juventinus!« rief ihn der Greis.

Der Jüngling antwortete ihm nicht.

Die Mutter flüsterte ihm rasch und freudig zu, als ob sie allein wären:

»Ich dachte schon, daß ich dich nie wiedersehen werde, mein Sohn! Ich wollte schon nach Alexandria reisen; ich hätte dich sicher auch dort, selbst in einer Wüste, gefunden; nun ist aber alles vorbei, nicht wahr? Sage mir, daß du mich nie wieder verläßt. Warte, bis ich tot bin. Dann kannst du machen, was du willst . . .«

Der Greis wiederholte seinen Anruf:

»Juventinus, hörst du mich?«

»Alter,« sagte die Frau, den Blinden anblickend, »du wirst doch nicht einer Mutter ihren Sohn nehmen? Höre, wenn es nötig ist, will ich mich von dem Glauben meiner Väter lossagen, an den Gekreuzigten glauben und den Schleier nehmen . . .«

»Weib, du verstehst nichts von dem Gebote Christi! Eine Mutter kann nie Nonne werden, eine Nonne darf nie Mutter sein.«

»Ich habe ihn in Schmerzen geboren! . . .«

»Du liebst nur seinen Leib, und nicht seine Seele.«

Die Frau warf Didymos einen Blick zu, der von unendlichem Haß erfüllt war, und rief aus:

»Ich verfluche euch und eure listigen, lügnerischen Worte! Ich verfluche euch, die ihr den Müttern die Kinder raubt, die Unschuldigen verführt; euch, schwarzgekleidete Menschen, die ihr das Tageslicht flieht, dem Gekreuzigten dient, das Leben haßt und alles Heilige und Erhabene, was es in der Welt nur gibt, zerstört! . . .«

Ihre Gesichtszüge verzerrten sich. Sie drückte sich noch fester mit ihrem ganzen Körper an die Füße ihres Sohnes und sagte, um Atem ringend:

»Ich weiß, mein Kind . . . Du verläßt mich nicht . . . Du kannst es nicht . . .«

Der alte Didymos stand mit seinem Stock in der Hand an der offenen Türe, die aus dem Columbarium in die Katakomben führte, und sprach laut und feierlich:

»Im Namen des lebendigen Gottes befehle ich dir, mein Sohn, sie zu verlassen und mir zu folgen!«

Nun ließ die Frau selbst den Sohn aus ihren Armen los und flüsterte kaum hörbar:

»Also verlasse mich . . . Geh . . . wenn du es kannst . . .«

Sie weinte nicht mehr, und ihre Arme fielen ihr hilflos herab.

Sie wartete.

»Gott helfe mir!« flüsterte Juventinus ganz blaß, die Augen gen Himmel richtend.

»So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein,« sagte Didymos. Er trat tastend in die Türe und wandte sich zum letzten Male um:

»Bleibe in der Welt, mein Sohn, und wisse: du hast dich von Christo losgesagt.«

»Vater! Ich gehe ja mit dir . . . Herr, da bin ich!« rief Juventinus und folgte dem Meister.

Die Mutter machte keine Bewegung, um ihn zurückzuhalten, und in ihrem Gesicht zuckte keine Muskel.

Als aber die Schritte in der Ferne verhallt waren, fiel sie, ohne einen Schrei, ohne einen Laut von sich zu geben, wie tot zur Erde.

»Macht auf! Im Namen des frömmsten Kaisers Constantius, – macht auf!«

Es waren Soldaten, die der Präfekt auf eine Anzeige der Mutter des Juventinus geschickt hatte, um die aufrührerischen Sabellianer, die Bekenner der Wesenseinheit und folglich Feinde des Kaisers, aufzusuchen und zu ergreifen.

Die Soldaten bearbeiteten die Türe des Columbariums mit einem Brecheisen. Der ganze Bau erzitterte. Die gläsernen und silbernen Urnen mit der Asche der Toten klirrten, gleichsam klagend. Die Soldaten hatten bereits eine Hälfte der Türe zertrümmert.

Anatolius, Myrrha und Arsinoe liefen durch die engen, unterirdischen Gänge, wie die Ameisen in einem zerstörten Ameisenhaufen.

Arsinoe und Myrrha kannten die Lage der Katakomben nicht. Sie verirrten sich und gerieten in das unterste Stockwerk, das sich fünfzig Ellen tief unter der Erdoberfläche befand. Die Luft war hier so stickig, daß sie nur mit Mühe atmen konnten. Unter ihren Schritten trat Sumpfwasser hervor. Die Flammen brannten trübe, gleichsam um Atem ringend. Die Luft war von einem entsetzlichen Gestank verpestet. Myrrha schwindelte es, und sie verlor das Bewußtsein.

Anatolius nahm sie in seine Arme. Sie fürchteten jeden Augenblick in die Hände der Soldaten zu geraten. Es gab noch eine andere Gefahr: die Feinde konnten sämtliche Ausgänge verschütten, und so wären sie alle lebendig begraben.

Endlich hörten sie Juventinus' Stimme:

»Hierher! Hierher!«

Er trug auf seinem Rücken, ganz zusammengebückt, den alten Didymos.

Nach wenigen Minuten erreichten sie einen geheimen Ausgang, der in die Steinbrüche führte, und gelangten von da aus in die Campagna.

Nach Hause zurückgekehrt, beeilte sich Arsinoe, Myrrha auszuziehen und ins Bett zu bringen; das Mädchen war noch immer nicht zur Besinnung gekommen.

Im schwachen Morgendämmerlicht kniete die ältere Schwester vor dem Bette der jüngeren und küßte die unbeweglichen, hageren, wachsgelben Hände des Kindes. Das Gesicht der Schlafenden hatte einen seltsamen Ausdruck. Noch nie strahlte es in so unschuldiger Schönheit. Der ganze kleine Körper schien durchsichtig und zerbrechlich, wie die allzu dünnen Wände einer alabasternen Amphora, die von innen erleuchtet wird. – Dieses Feuer sollte nur zugleich mit dem Leben Myrrhas verlöschen.


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