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An Joel Paul Kaltenhofer

Osnabrück, den 12ten November schon! [1772]

Wertester Freund,

Kleinigkeiten, die Sie mir schreiben, sind mir allemal, des Schreibers wegen, äußerst angenehm und wichtig, so wie überhaupt alles, was mir bei den Vorstellungen Ihres angenehmen Umgangs Handreichung tut, und die tun mir Ihre Briefe allemal vortrefflich, sie enthalten auch was sie wollen.

Der Henker hole es, ich bin nun 27 Meilen von Göttingen, die, wenn wir noch etwas weiter hinaus sind, so beschwerlich sein werden als sonst 70 in England. Einspinnen muß ich mich diesen Winter irgendwo allerdings, sonst kriegen meine Verwandten etwas wegzuwerfen künftigen März, aber über den Winkel, wo ich mein Gespinst anhängen soll, kann ich noch nicht recht eins mit mir selbst werden. Ich habe gnau einerlei Weg, wenn ich im Dezember meine Schuhe zu Helvoet in die See oder in der Speckstraße in den Dreck stecken will, einige Meilen mehr oder weniger das tut nichts. Aber da liegt der Unterschied, in diesem Fall habe ich nur 30 Schritte bis in Ihre Stube, wo ich gewiß willkommen bin, und in jenem noch 20 deutsche Meilen bis zu Leuten, denen ich vielleicht auf dem Hals sitze; und wahrlich, lieber wollte ich in ein paar engen Schuhen mit 3 paar Hühneraugen an den Zehen in London herum laufen, als mit einer solchen Überzeugung. Indem ich dieses schreibe, führt der Wind eine ganze Ladung gelber Blätter, die er irgendein paar Bäumen in der Nähe gestohlen hat, vor meinem Fenster vorbei, und ein Schauder, weder von der febrilischen noch poetischen Art, überläuft mich dabei und erinnert mich an das Einspinnen. Aber hier kann ich doch nicht bleiben – – Aber weggehen auch nicht – – Aber was dann tun; Mein Gott, das war ein schweres paar Zeilen, es wird wohl am besten sein, daß ich mich zu ein paar leichten wende, nach meiner Waage versteht sich.

Ich wohne ganz am Ende der Stadt (und zwar an dem Ende nach der Speckstraße zu), in einem königlichen Gebäude von einer Etage, also an der Erde. Ich habe zwei Fenster in meiner Stube, wovon das eine so ziemlich gegen Mittag und das andere ebenso ziemlich gegen Morgen liegt. Diese von mir bewohnte Ecke steht in einen Bleichplatz hinein, der dem hiesigen Dom-Kapitul gehört, das hier sein geist- und weltliches Linnen, ich meine seine Altar- und Tafeltücher bleicht und trocknet. Alle Nacht halten sich in einer 30 Schritte von meiner Stube belegenen Hütte, aus der meine beiden Fenster bestrichen werden können, alte Waschweiber auf, die alle im Fegfeuer unsrer Kirche, zwischen Himmel und Erde, ich meine zwischen 60 und 75 sind, unsern Göttingischen Tobaksraucherinnen so ähnlich als ein Ei pp, nicht doch, als eine Elster der andern. Diese Geschöpfe haben neulich öffentlich und mit hundert Umständen ausgesagt, es wäre in der Nacht vom 3 auf den 4ten November um ein Uhr ein Mädchen zu meinem mittäglichen Fenster hinein gestiegen und gegen 2 Uhr wieder heraus. Sie waren so bescheiden es unentschieden zu lassen, ob es in Herzens-Angelegenheiten oder in Geld-Angelegenheiten, oder in Geld- und Herzensangelegenheiten zugleich geschehen wäre, und zeigten es meinem Bedienten, der die nordöstliche Ecke bewohnt, am folgenden Morgen an. Weil nun dieses Einsteigen durchs Fenster, wenn es auch die Muse Uranie selbst gewesen wäre, nicht mit zur Bestimmung der Polhöhe gehört, und ich unter den Augen eines geizigen Ministerii nichts tun darf was nicht einige Beziehung auf Latitudinem et Longitudinem geographicam dieser Stadt hat, so frappierte es mich nicht wenig, zu sehen, daß die alten Weiber ein Lauffeuer angefangen hatten, in welches gewiß noch vor Abend die Minister, Subalterne und Damen ihre Büchsen, Pistolen und Buffertgen mischen würden. Geh er hin, sagte ich also zu meinem Bedienten, und sage er dem Gesindel, sie sollten nicht träumen, wo sie wachen sollten, sonst würde ich auf Mittel sinnen sie wach zu halten. Mein Heinrich, der sich für die Ehre seines Herrn beschneiden ließe, wenn es darauf ankäme, brachte ihnen diese Pille, mit einem bitteren Zusatz aus seinem eignen Kram, so daß es zu einem förmlichen Gackern kam, das dem Lauffeuer noch mehr Geschwindigkeit erteilte, und nun ist es ausgemacht, daß in der Nacht vom 3ten auf den 4ten November ein Wicht zu dem lüttchen Professor gestiegen sei. Weil ich seit Menschen Gedenken, glaube ich, der erste Fremde bin, der sich 8 Wochen hier aufgehalten hat, und lange, wegen meiner unbegreiflichen Geschäfte allhier, das einzige Gespräch beim Lhombre-Tische und beim Spinnrade gewesen bin, auch viele Osnabrücker in Göttingen studieren, denen ihre Eltern solche Instanzen unserer verdorbenen Natur lieber zuschicken mögen als Geld, so fürchte ich, daß das Märchen schon die Weser passiert hat und seinen öffentlichen Einzug auf dem Masche zu Göttingen ehestens halten wird. Ich habe also für nötig erachtet ihm diesen Steckbrief nachzuschicken, damit Sie, wenn es Ihnen begegnen sollte, es gleich erkennen und anhalten können. In Göttingen wäre so etwas gleich vergessen, allein hier, wo die Pfaffen und Domherrn allein das Recht haben Huren zu halten, weil sie das Gelübde der Keuschheit ablegen, wird so etwas schon höher angesehen. Das Betrübteste ist, daß ich bei Personen, die ich gerne eines Besseren belehrte, meine Unschuld nicht verteidigen darf (denn ich kann doch mit dem Könige nicht von Hosenlätzen sprechen) und hingegen diejenigen, wo ich es ungescheut tun könnte, mir ohnehin verzeihen würden, wenn auch die Geschichte wahr wäre. Das sind die infamsten Splitter im Fleisch, die man nicht stecken lassen mag und auch nicht herausziehen kann. Verzeihen Sie mir, wertester Freund, daß ich Sie mit solchen Histörchen unterhalte, wenn Sie nur ein einzigesmal dabei gelächelt haben, so bin ich zufrieden. Meine Unschuld verteidige ich gegen Sie nur allein mit der Betrachtung, daß ich zuverlässig das Maul gehalten haben würde, wenn es wahr gewesen wäre. Das Gerücht hat mir die Person noch nicht genennt, die es gewesen sein soll, und ich muß also durch diesen Paß ohne alle Bedeckung marschieren.

Aus England höre ich, daß vermutlich Sir Francis eine außerordentlich gute Partie tun wird. Der Ausdruck heißt: eine von den reichsten Erbinnen des Königsreichs würde er heiraten. Er hat mir selbst geschrieben, aber nichts davon erwähnt.

Also ist Ahlborn vermutlich schon über den halben Weg zum Galgen. Ich habe mir ihn gestern einmal so lebhaft gedacht, daß ich glaubte, ich würde ihn zeichnen können, es war aber vergeblich, ich konnte mir kein Gnüge tun.

Bei Ihrer Erzählung der Neuigkeit von Herrn Lemon mußte ich recht lachen. Die Sache ist vorigen November passiert, und ich bin deswegen 2mal beim Prorektor gewesen, und Riemenschneider hätte beinah den Lemon auf meiner Stube angepackt. Lemon ist jetzt in Florenz. Ich hätte fast Neigung Ihnen wieder mit einer Neuigkeit zu dienen und zu sagen, daß der Schneider Sachs tot ist.

Ich habe die Polhöhe hier 8 Minuten geringer gefunden, als sie auf den Karten angegeben ist. Die Sonnenfinsternis habe ich nicht gesehen und selbigen ganzen Tag aus Verdruß, der Astronomie zum Trotz, in Bakers Geschichte der Inquisition gelesen. Das war ein betrübter Vorfall. Das Wetter ist jetzt hier abscheulich, es regnet, stürmt und blättert entsetzlich. Wenn ich dann bedenke, daß ich im Herzen von Westfalen bin, so frage ich mich immer wieder: Aber was dann anfangen?

Grüßen Sie mir Ihr wertestes Haus und den Herrn Professor Meister. Ich will doch hoffen, daß die Engländer bei ihm die Fortifikation und Taktik hören. Haben auch welche bei Ihnen Zeichenstunde? Oder wollen Sie auch welche haben? Sonst werde ich Herrn Boie mit seinen Dichtergaben einmal in den Zügel fallen und auf die Heerstraße zurück führen. Kästner schreibt nicht mehr An mich, also vermutlich bald Wider mich, so wie gewisse Hunde gewöhnlich bald beißen, wenn sie während dem Spielen den Schwanz fallen lassen. Adieu, ich bin der Ihrige

G. C. Lichtenberg

Zusatz am 14ten des Morgends: vergangene Nacht habe ich für die Länge eine und für die Breite mehrere entscheidende Observationen gemacht. Ich bin also heute viel vergnügter, als ich seit 14 Tagen gewesen bin, und weil ich nichts gern allein genieße, so habe ich diesen Zusatz für nötig erachtet.

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