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An Christian Gottlob Heyne

London, den 17. April 1770

Wohlgeborner Herr
Hochzuehrender Herr Hofrat

Heute vor 8 Tagen bin ich endlich nach einer sehr beschwerlichen Reise von 15 Tagen gesunder als ich vermutete hier in dieser ungeheuern Stadt angelangt. Es ist unglaublich was die Menge von neuen Gegenständen, die ich nicht sogleich immer in meinem Kopf unterzubringen wußte, für eine Würkung auf mich gehabt hat. Ich vergaß immer über das letzte das erste völlig und lebe noch jetzo würklich in einer solchen Verwirrung, daß ich mich, da ich sonst mit kleinen Stadtneuigkeiten Bogen anfüllen könnte, in großer Verlegenheit befinde, aus London und aus dem Wust von Dingen die ich sagen könnte, so viel klar zu bekommen, als zu einem kleinen Brief nötig ist. Ich habe die See, etliche Kriegsschiffe von 74 Kanonen, den König von Engelland in seiner ganzen Herrlichkeit mit der Krone auf dem Haupt im Parlamentshaus, Westmünsters Abtei mit den berühmten Gräbern, die Pauls-Kirche, den Lord Mayor in einem großen Aufzug und unter dem Gedränge von vielen Tausenden, die alle huzza, God bless him, Wilkes and Liberty schrien, gesehen, und zwar alles in einer Woche. Euer Wohlgeboren werden mir gerne glauben, daß dieses alles auf einmal für eine so eingezogene Seele wie die meinige eben das sein muß, was für meinen Körper eine Woche von Doktorschmäusen und Hochzeitfesten ohne Ruhe und ohne Schlaf sein würden. Außerdem lebe ich hier in einem Hause, wo ich keine Zeit und Ruhe habe mich zu sammeln, und wie an einem Hofe, ich muß mich des Tags zweimal ankleiden, speise um halb fünfe zu Mittag und oft um halb zwölfe zu Nacht, gewöhnlich in großen Gesellschaften. Geht man aus, so ist die Zerstreuung auf der Straße noch größer, das ungeheure Getöse überall und die Menge von neuen Dingen wohin man nur sieht, das Gedränge von Chaisen und von Menschen sind Ursache, daß man gemeiniglich spat oder wohl gar nicht dahin kommt, wo man hin will. Mir ist es neulich so gegangen, ich ging aus mit dem festen Entschluß nach Herrn Dietrichs Korrespondenten auf dem Strand zu gehen, allein ich blieb, ehe ich hinkommen konnte, an Silberboutiquen, Boutiquen von indianischen Waren, Instrumenten und dergleichen hängen, daß ich kaum Zeit hatte noch zu rechter Zeit zum Ankleiden nach Haus zu kommen, und Herrn Elmsleys Haus wurde bei dieser Expedition nicht erreicht. Die Plätze, die ich besehen habe, habe ich in der Chaise des Lord Boston und in seiner Gesellschaft besucht, sonst läge ich vielleicht noch jetzo in einer Herberge zwischen hier und St. Pauls. Weil ich vermutlich mit den jungen Adams und eher, als ich glaubte, wieder zurück nach Göttingen kommen werde, so verspare ich alle Beschreibungen von dem, was ich gesehen habe, bis dahin. Ich wünschte gerne hier zu bleiben, es müßte aber notwendig in andern Umständen sein als jetzo. Man hat mich hier so aufgenommen und begegnet mir mit einer Achtung, die ich auf keine Art erwarten konnte, aber ich muß mich dafür zu einer Lebensart gewöhnen, die ich im künftigen nie brauchen kann, und wozu es überhaupt mit mir zu spät ist, und die ich äußerst hasse. Sollte ich gar anfangen ein Vergnügen daran zu finden, so wäre ich völlig verloren. Desto angenehmer sollte es mir aber sein, wenn ich mehr für mich und niedriger leben könnte; wenn ich gleich dieses Glück mit Verrichtungen erkaufen sollte, denen ich mich zu Hause nicht unterziehen würde. Ich habe schon einige sehr vornehme Freunde hier, worunter ich auch den Lord Marchmont zählen kann, der neulich öffentlich im Parlamentshaus mit mir sprach und des Tags darauf mich auf meiner Stube ganz allein besuchte, aber ich getraue mir keinen solchen Vorschlag zu tun, weil ich gewiß dadurch den alten ehrlichen Lord Boston äußerst beleidigen würde.

Ich habe mich mit Lord Marchmont über allerlei Gegenstände unterredet. Man hält ihn hier für einen der größten Staatsmänner und Köpfe in Engelland, er ist dabei ein großer Liebhaber der Mathematik und Physik und hält außerordentlich viel auf Göttingen und die Deutschen. Mit der hiesigen Königlichen Sozietät ist er gar nicht zufrieden und sagt, daß gemeiniglich die unbeträchtlichsten Sachen abgelesen würden, er wollte nicht einmal, daß ich hinein gehen sollte. Als ich ihn nach der Ursache dieses Verfalls fragte, so antwortete er mir mit einem Achselzucken.

Göttingen steht hier in einer allgemeinen Achtung, ich werde überall nach der Einrichtung gefragt, und jedermann wundert sich, daß man keine englische oder französische Beschreibung davon habe. Ich dächte, man könnte mit leichter Mühe diesem Verlangen willfahren. Es brauchte ja keine völlige Übersetzung der Pütterischen Beschreibung zu sein, denn ich zweifele, ob diese ihr Glück hier bei dem Frauenzimmer machen würde, das sich doch vorzüglich darum bekümmert. Wenn Göttingen daran gelegen ist, daß es von Engelländern besucht wird, so ist dieses unumgänglich nötig, denn sonst werden nur immer junge Offiziers dahin geschickt, größtenteils der deutschen Sprache wegen, die sie doch zugleich mit Deutschland in ihrem allem Studieren gerade entgegen laufenden Dienst und Lebensart wieder vergessen, da, wenn diese Universität von andern besucht würde, die Aufnahme der ganzen deutschen Literatur in Engelland befördert werden könnte, es dürften nur noch einige Lords Marchmonts sein, und doch versteht dieser nicht einmal deutsch, sondern kennt nur die lateinischen Deutschen und die übrigen aus den Beschreibungen seines Sohnes. Ich kenne hier einige vornehme Frauenzimmer, die eine Beschreibung von Göttingen beim Tee so begierig lesen würden als den Public Advertiser.

Es kommt seit einiger Zeit hier ein Blatt heraus The whisperer, das wieder voller Schmähungen gegen die Regierung und den König ist, man macht sich aber hier nicht viel daraus, und wie man mir die Sachen erklärt hat, ist alles nicht so gefährlich, als man es in der Ferne halten muß. Morgen wird Wilkes losgelassen, jedermann ist voller Erwartung was es geben wird, einige glauben, die ganze Stadt werde müssen illuminiert werden, die meisten versprechen sich eine größere Stille als bei andern Gelegenheiten. Nun weiß ich, was englischer Pöbel ist. Wir kamen am zweiten Feiertage bei Ludgate Hill just mitten unter den Trupp, der sich durch viele Straßen durch erstreckte, sie wollten den Lord Mayor, den großen Freund von Wilkes, der mit großem Pomp nach der Kirche fuhr, empfangen. Wir saßen in Lord Bostons Chaise, das sicherste war für eine Chaise mit Wappen, stille zu halten und zu tun, als wäre man aus gleicher Absicht mit dem Trupp hieher gekommen. Dieses gefiel dem Trupp, der sich freute, gleichsam eine Hof-Kutsche auf seiner Seite zu sehen, ich hatte das Glas herunter gelassen und sah mit einem sehr neugierigen Gesicht heraus, alle die vorbei gingen, beguckten die Wappen an der Kutsche, sahen mir freundlich ins Gesicht und etliche schrien, indem sie auf die prächtige Livree und die Chaise wiesen, there is Wilkes for you, damn me! Wilkes and Liberty, huzza und gingen ohne uns nur das mindeste zu Leide zu tun weiter. Was für Gesichter ich da gesehn habe, läßt sich unmöglich beschreiben, halbnackende Männer und Weiber, Kinder, Kaminfeger, Kesselflicker, Mohren und Gelehrte, Fischweiber und Frauenzimmer in großem Staat, alles war in sich selbst vergnügt und jedes mit seiner eigenen Grille berauscht und schrie und lachte ohne jemanden zu kränken. Ich denke, ein Trupp mutwilliger Studenten ist viel gefährlicher als 10 000 solcher Leute, gegen jenen kann oft keine Art von List schützen, da ein englischer Anzug und ein bißgen Verstellung hier jedermann sicher stellt. Ich werde ehestens mehr schreiben und erwarte Ew. Wohlgeboren Befehle. Ich werde, wenn mich der Brief noch antrifft, alles mit der größten Genauigkeit besorgen. Herr von Irby sowohl als Herr von Swanton empfehlen sich Ihnen und ich verharre zeitlebens

Ew. Wohlgeboren ergebenster Diener
G. C. Lichtenberg

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