Antoine de la Salle
König Ludwigs galante Chronika
Antoine de la Salle

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Die geheilte Äbtissin.

In der Normandie steht eine schöne, große Abtei für Damen, deren Oberin, ein hübsches, junges, wohlgeformtes Weiblein, eines Tages krank wurde und das Bett hüten mußte. Ihre lieben, frommen Schwestern kamen alsbald voll zarter Fürsorge zu ihr in die Zelle, trösteten sie und schleppten herbei, was sie nur auftreiben konnten, in der Hoffnung, ihr damit eine Erleichterung zu schaffen. Und als sie inne wurden, daß die Krankheit nicht die geringsten Anstalten machte, zu weichen, so beschlossen sie, daß eine von ihnen nach Rouen gehen und einen berühmten Arzt dort aufsuchen müsse, dem sie den Harn der Kranken brächte und den ganzen Fall ausführlich schildere.

Die Nonne, der dieser Auftrag zufiel, machte sich tags darauf auf den Weg. Als sie bei dem Arzt anlangte, übergab sie ihm die fragliche Flüssigkeit und beschrieb ihm gar umständlich, wie die Krankheit sich äußere und in Erscheinung trete, wie es um Schlaf, Verdauung, Essen und Trinken stehe. Der erfahrene Arzt war durch diese eingehende Beschreibung und die Harnuntersuchung alsbald völlig über die Art der Krankheit klar und wußte, was er für ärztliche Vorschriften machen mußte. Zwar pflegte er derartige Verordnungen zumeist schriftlich zu geben. Aber diesmal schien es ihm besser, sie mündlich übermitteln zu lassen, und deshalb sagte er zu dem Nönnlein:

»Schöne Schwester, damit die Frau Äbtissin ihre Gesundheit wiedererlangt, ist es dringend notwendig, daß sie mit einem Manne Umgang pflegt. Geschieht das nicht, so wird sie in kurzer Zeit so schwer darniederliegen, wird das Übel derart überhandnehmen, daß nur der Tod sie davon erlösen kann.«

Ob dieser niederschmetternden Eröffnung fiel unser Nönnlein aus allen Wolken, und angstbeklommen fragte sie: »Wehe, Meister Johann, sehet Ihr denn wirklich gar keine andere Möglichkeit, die Frau Äbtissin wieder gesundzumachen?!«

»Wahrhaftig, nein! Einen anderen Weg gibt es nicht, und ich kann Euch nur dringend einschärfen: man muß dafür sorgen, und darauf bestehen, daß alles genau so geschieht, wie ich gesagt habe! Denn wenn dem Leiden nicht solchermaßen begegnet wird, wenn man es weiter in der bisherigen Weise fortschreiten läßt, dann wird's auch für einen Mann nicht mehr möglich sein, rechtzeitig zu helfen.«

Das Nönnlein wagte kaum, ein paar Happen zu essen, so eilte sie, der Frau Äbtissin diese Botschaft zu übermitteln. In fliegender Eile trieb sie unermüdlich ihren wackeren Zelter an, und deshalb war die Äbtissin denn auch baß erstaunt, als sie jene so viel früher, als sie es hatte erwarten können, in das Kloster zurückkehren sah. Kaum trat die Nonne in die Zelle der Kranken, da rief ihr selbige bereits zu:

»Nun, Schwesterlein, was sagt der Arzt? Werde ich mit dem Leben davonkommen?«

»Wenn's Gott gefällt, werdet Ihr bald wiederhergestellt sein,« entgegnete die fromme Botengängerin. »Haltet einen guten Schmaus und fasset Mut.«

»Hat mir denn der Arzt sonst keinerlei Vorschriften für eine bestimmte Lebensweise oder ähnliches gemacht?«

»Freilich hat er das,« meinte die Schwester und berichtete zunächst ausführlich, wie der Arzt den Harn untersucht und sie über Alter, Essen, Schlaf usw. der Kranken ausgefragt habe.

»Schließlich,« beschloß sie ihren Bericht, »erklärte er und schrieb er vor: Ihr müßtet mit einem Manne Eures Fleisches Lust büßen, maßen Ihr ansonsten unwiderruflich sterben werdet – ein anderes Rettungsmittel gibt es nicht.«

»Umgang mit einem Manne!!« ächzte die Äbtissin, »Lieber will ich tausendmal sterben, als so etwas tun!« Und mit ergebungsvoller Stimme fuhr sie fort:

»Da mein Leiden unheilbar ist und zum Tode führt, wenn ich es nicht solchermaßen vertreibe, so ist mir, gottlob, der Tod willkommen. So rufet denn eilig das ganze Kloster zusammen.«

Alsbald ertönte die Glocke und in kurzer Zeit waren alle Nönnlein in der Zelle der edlen Frau vollzählig versammelt. Die Kranke litt zwar sehr, aber reden konnte sie noch wie ein Wasserfall, und so hielt sie den Schwestern eine großmächtige, schwungvolle Ansprache von nicht unwesentlicher Länge, darin sie die Zustände und die Entwicklung der Abtei schilderte und darlegte, in welcher Verfassung sie das Kloster vorgefunden habe und wie gar herrlich es alljetzo dorten ausschaue. Des weiteren kam sie auf ihre Krankheit zu sprechen, die tödlich und unheilbar sei; das fühlte sie selbst und zudem wisse sie es nun auch ganz genau, sintemalen jener treffliche Arzt, dessen sie im folgenden des längeren gedachte, sein Gutachten abgegeben und gewissermaßen ihr Todesurteil gesprochen habe.

»So empfehle ich denn,« schloß sie ihre Rede, »unser Kloster eurer Fürsorge an, meine lieben Schwestern, und bitte euch, meine arme Seele in eure frommen Gebete mit einzuschließen.« Bei diesen Worten ergoß sich ein wahrer Sturzbach von heißen Zähren aus ihren holden Augen, und hierzu gesellten sich alsbald zahllose andere Tränenbächlein, die aus dem Herzensborn des guten Klosters sprudelnd emporquollen. Lange Zeit dauerte dieser Erguß, und während dieser langen Zeit vermochte keines der schluchzenden Weiblein ein Sterbenswörtchen vorzubringen. Endlich aber vermochte sich die Frau Priorin etwas zu fassen; und diese gute, kluge Frau ergriff für das gesamte Kloster das Wort und sprach:

»Edle Herrin: Gott, dem man nichts verbergen kann, weiß am besten, wie sehr uns Eure Krankheit zu Herzen geht, und es gibt keine unter uns, die sich nicht gern zur Verfügung stellen und opfern würde, soviel nur irgendein lebendes Wesen das könnte, um Euch Eure Gesundheit wiederzugeben. Und darum bitten wir Euch insgesamt: schonet nichts, was zu dem Besitze des Klosters gehört; seid nicht sparsam damit, denn viel lieber wollen wir all unsere irdische Habe darangeben, lieber unseren irdischen Besitz verlieren, als die Vorzüge einbüßen, die Eure Gegenwart unseren Seelen verleiht.«

»Meine teure Schwester,« entgegnete die Äbtissin, »was Ihr mir da anbietet, habe ich keineswegs verdient; immerhin danke ich Euch von ganzem Herzen und bitte Euch nochmals und eindringlichst: denket an alles, was ich Euch über die Lage unseres Klosters gesagt habe, denn das steht mir, weiß Gott, nah zum Herzen; und weiter: schließet meine arme Seele mit in Eure Gebete ein, denn sie ist Eurer Fürsprache gar bedürftig.«

»Wehe, edle Frau!« jammerte die Priorin, »ist es denn gar nicht möglich, durch sorgliche Pflege und richtige Heilmittel Eure Gesundheit wiederherzustellen?«

»Nein, meine Liebe, es ist nicht möglich! Ihr müßt mich hinfüro zu den Toten rechnen, denn ich bin keinen Pfifferling mehr wert, und all mein Reden macht die Sache nicht anders.«

Nunmehr aber trat aus den Reihen ihrer Schwestern jenes Nönnlein, das nach Rouen gepilgert war, und sprach: »Verzeihet, edle Frau, aber Ihr wißt: es gibt doch ein Heilmittel!«

»Eines, das mir nicht behagt,« fuhr die Äbtissin auf, und erklärte weiter: »Schwester Johanna kommt nämlich von Rouen zurück, allwo sie dem Arzte meinen Harn zur Untersuchung gegeben und meinen Fall erzählt hat. Der aber hat meine Krankheit für tödlich erklärt, sintemalen ich mich keinem Manne hingeben, noch mit ihm Umgang pflegen mag. Dieses war nämlich seine Verordnung, wie er sie in seinen Büchern gelesen hatte, und durch die er mich vom Tode zu erretten hoffte. Folge ich der Verordnung nicht, so ist mein Tod unausbleiblich. Und ich lobpreise Gott, der mich solchermaßen zu sich rufen und vor allen Sünden bewahren will. Ihm empfehle ich mich an und freudig überantworte ich meinen Leib dem Tode; mag er mich denn dahinraffen, wann es ihm gefällt!«

»Wie denn!« rief die Beschließerin. »Ihr wollt aus freien Stücken Selbstmord begehen?! Wird Euch ein Mittel angegeben, durch das Ihr Euch heilen und retten könnt, so müßt Ihr doch eiligst danach greifen und die Hilfe heischen! Man wird alles dafür tun, daß Ihr nicht lange darauf zu warten braucht. Wahrlich, Ihr tut nicht recht, und ich wage zu behaupten, daß Eure Seele keineswegs so sicher ins Paradies eingehen wird, wenn Ihr solchermaßen Euren Tod herbeiführt.«

»Ach, liebe Schwester,« entgegnete die Äbtissin, »wie oft doch habet Ihr in den Predigten gehört, daß es besser ist, sich dem Tod in die Arme zu werfen als eine solche Todsünde zu begehen. Und Ihr sehet doch nun, daß ich dem Tode nur entgehen kann, wenn ich solchermaßen in den Pfuhl der Todsünde hinabsteige. Und was noch schlimmer ist und mein Herz bedrückt, ist dieses: nehmen wir an, ich hätte die Vorschrift befolgt und mein Leben verlängert – werde ich nicht für alle Zeit entehrt sein? Werde ich nicht unter quälendsten Selbstvorwürfen mein Leben weiter verbringen? Wird man nicht mit Fingern auf mich weisen und sagen: ›Diese Frau dort hat ...‹ usw.? Auch ihr alle, die ihr mir jetzt so dringend ratet und zusprechet, auch ihr werdet eure Achtung, eure Liebe zu mir verlieren. Täte ich so, dann würdet ihr, und mit Recht, gar bald zu der Erkenntnis kommen, daß ich unwert bin, euer Oberhaupt zu sein und euch zu leiten.«

»Sprechet so etwas nicht aus, noch lasset je dergleichen Gedanken in Euch aufkommen!« rief die Schatzmeisterin. »Man soll stets alles nur Erdenkliche tun, um dem Tode zu entgehen. Sagt nicht auch unser edler Kirchenvater, der heilige Augustinus, daß kein Mensch das Recht hat, sich das Leben zu nehmen, ja, selbst nicht einmal sich eines Gliedes zu berauben?! Heißt es nicht, dieser seiner Entscheidung geradezu entgegenhandeln, wenn Ihr etwas unterlasset, das Euch vor dem Tode bewahren könnte?«

»Wohlgesprochen! Sie hat recht!« rief das ganze Kloster einstimmig. »Bei Gott, edle Frau, gehorchet dem Arzt, verharret nicht so eigensinnig auf Eurem Vorhaben, dessen Durchführung Euch mit Leib und Seele dem Verderben ausliefern würde, und Euer armes Kloster, das Euch in so heißer Liebe anhängt, in tiefste Verzweiflung stürzen und Eurer weisen Leitung berauben würde!«

»Meine liebe Schwestern, lieber will ich freiwillig dem Tode meine Arme öffnen, freiwillig ihm meinen Nacken bieten und ihm in Ehren zur Beute werden, als ihn fliehen und dadurch für mein ganzes Leben entehrt werden. Bedenket nur: was werden die Leute sagen?!«

»Kümmert Euch nicht darum, was die Leute sagen werden! Anständige Menschen werden Euch niemals daraus einen Vorwurf machen.«

»Man wird, man wird!« ächzte die Äbtissin.

Das ganze Kloster war in der fürchterlichsten Erregung. Die guten Nönnlein verließen tiefbewegt die Zelle und hielten untereinander eine lange, lange Beratung ab. Und als sie zu einem endgültigen Entschlusse gekommen waren, da übernahm es die Priorin, im Namen der anderen diesen Beschluß der Äbtissin zu eröffnen, und sie sprach zu ihr:

»Edle Frau, sehet hier das versammelte Kloster, das so schmerzbeklommen ist, wie wohl nie ein anderes Kloster gleichermaßen gramumfangen und verzweifelt war. Und daran seid Ihr schuld! Denn wisset: wenn Ihr den unglückseligen Gedanken durchführen würdet, Euch dem Tode zu überantworten, dem Ihr entgehen könntet, so wäre das Selbstmord, – davon bin ich fest überzeugt! Damit Ihr aber sehet, in wie herzlicher, aufrichtiger Liebe wir an Euch hängen, so haben wir uns dahin geeinigt und beschlossen (und zwar einstimmig!): wir wollen Euer Leben und damit auch uns erretten; und darum, wenn es denn sein muß, daß Ihr Euch im geheimen einem edlen Manne hingebet, wollen wir, dafern es Euch so gefällt, das gleiche tun wie Ihr, auf daß Ihr niemals den Gedanken oder die Vorstellung haben könntet, es könnte Euch eines Tages eine von uns aus solcher Handlung einen Vorwurf machen. Ist es nicht so, meine Schwestern?«

»So ist's!« rufen sie alle aus vollem Herzen. Als die Äbtissin solche Wort hörte, da sank schwerer Gram auf ihr Herze; aber ob der Liebe zu ihren Schwestern ließ sie sich überreden und gab, wenn auch voll tiefen Bedauerns, nach. So gestattete sie, daß die Vorschrift des Arztes zur Ausführung kommen dürfe, vorausgesetzt, daß ihre Schwestern sich der gleichen Vorschrift unterwürfen. Und darum rief man alsbald Mönche, Pfarrer und andere Geistliche herbei, die jene ärztliche Verordnung durchführten, also daß die Frau Äbtissin in Bälde ihre Gesundheit wiedererlangt hatte. Darob herrschte denn auch eitel Freude im ganzen Kloster. Aber leider – was aus so gar ehrenhaften Gründen geschehen war, davon mochte man fortan aus recht schmählichen Gründen nicht mehr lassen.


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