Antoine de la Salle
König Ludwigs galante Chronika
Antoine de la Salle

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Das Schneekindelein.

War da einst ein Kaufmann zu London in Engelland, ein guter Kerl und reicher Mann, den sein kühnes Herz und sein kecker Mut zu Taten drängten. Immer beseelte ihn der glühende Wunsch, fremde Länder zu sehen und Erfahrungen zu sammeln, wie die Welt sie tagtäglich denen bietet, die da lernen wollen; und so ließ er eines Tages sein schönes, liebevolles Weib, seine Kinder, Verwandten, Freunde und was sonst seinem Hause nahe stand, seinen Reichtum und seine Bequemlichkeiten, und kehrte seinem Heimatlande den Rücken. Wohl versehen mit barem Gelde und vielen Handelswaren, wie Engelland sie andern Ländern liefern kann, als da sind: Zinn, Reis und eine Menge anderer Dinge, die ich hier nicht im einzelnen aufzählen mag, segelte er davon und blieb gleich das erstemal fünf Jahre unterwegs. Derweilen lebte sein Weib in Züchten und Ehren und setzte den Handel ihres Mannes mit gleichem Erfolge fort, wie dieser ihm bis dahin obgelegen hatte. Und als selbiger nach vermeldeten fünf Jahren heimkam, da war er natürlich ihres Lobes voll und liebte sie noch mehr denn zuvor. Aber obgleich er doch nun schon so viele fremdartige und wundersame Dinge erschaut und einen gewaltigen Haufen Geldes eingeheimst hatte, mochte sein ruheloses Herz sich nicht zufrieden geben, und schon im fünften oder sechsten Monat nach seiner Heimkehr stach er von neuem in See. Abenteuerlustig besuchte er nicht nur alle Länder der Christenheit – auch die Länder der Sarazenen lernte er eingehend kennen, und so vergingen mehr denn zehn Jahre, ehe sein Weib ihn wiedersah.

Dem hatte er reichlich oft und fleißig geschrieben, damit sie immer Lebenszeichen von ihm hätte und nie im Zweifel wäre, ob er etwa gar derweil dem Erdendasein Lebewohl gesagt habe. Nun war besagte Frau ein junges, lebensfrohes Ding, gesund und mit allen Dingen gar wohl versehen, damit der liebe Gott eines Weibleins Dasein zu dessen Glücke auszustatten weiß. Einzig ihr Ehegemahl fehlte ihr, und als der immer und immer weiter von ihr ferne blieb, da kam es, daß er am Ende einen Stellvertreter fand, der sie kurzerhand mit einem gar wohlgeratenen Söhnlein beschenkte. Dies Kindelein ward mit den andern Geschwistern aufgezogen und wohl gepflegt, und als der Kaufmann endlich heimkam, da war es bereits sieben Jahr alt.

Die Rückkehr ward von dem Ehepaar wie ein großes Freudenfest gefeiert: lustig plauderten sie und erzählten sich mit Scherzen und Lachen ihre Erlebnisse, bis der Mann sich nach seinen Kindern erkundigte und die wackere Hausfrau selbige herbeiholte – auch den Jüngsten, der zwar des Kaufmannes Namen trug, im übrigen aber just dessen Abwesenheit sein Leben verdankte.

Der glückstrahlende Vater labte alsbald sein Auge an dem Anblick dieser prächtigen Kinderschar; aber er erinnerte sich noch recht wohl, wie viele es bei seiner Abfahrt gewesen waren, und als er nun eines mehr vorfand, da war sein Staunen groß und er riß sämtliche Augen auf. Endlich fragte er sein Weib, was das für ein hübscher Bengel sei, der da als Jüngster bei den andern Kindern stände. »Wer das ist?« meinte sie. »Ei, liebster Herr, das ist doch natürlich unser Sohn. Was sollte er denn sonst sein?!«

»Ich weiß nicht,« verwunderte sich der Herr Papa. »Aber da ich ihn bisher noch nicht gesehen hatte, so ist doch meine Frage nicht so merkwürdig.«

»Das ist sie auch nicht, weiß Gott,« sagte die Frau. »Also das ist mein Sohn.«

»Aber sage mir nur, wie ist das möglich?« erkundigte sich der Ehemann. »Als ich abreiste, warst du doch nicht in anderen Umständen.«

»Ganz recht – das war ich nicht. Und dennoch lüge ich nicht, wenn ich sage: daß es euer Kind ist und ich niemandem angehört habe, denn euch allein.«

»Dem will ich auch gar nicht widersprechen. Immerhin erinnere dich, daß ich zehn Jahre lang weg war; das Kind ist offenbar nur sieben Jahre alt. Wie kann es da meines sein?«

»Ich weiß selbst nicht recht, aber das beschwöre ich Euch: alles was ich Euch sage, ist die lautere Wahrheit. Ich weiß auch nicht, daß ich etwa länger damit schwanger gewesen wäre; aber wenn Ihr mich nicht vor Eurer Abreise damit beschenkt habt, dann kann ich mir gar nicht denken, wie ich dazu gekommen sein sollte. Höchstens könnte es dann davon stammen, daß ich lange Zeit nach Eurer Abreise eines Morgens in unserm großen Garten lustwandelte. Da überkam mich plötzlich der Wunsch, ein Blatt von dem Ampfer zu essen, der damals noch ganz mit Schnee bedeckt war. Ich suchte mir also ein schönes, breites Blatt aus und wollte es schlucken; aber es war nur ein wenig weißer, fester Schnee. Und kaum hatte ich den im Magen, da verspürte ich, was ich immer verspürte, wenn ich mit einem Kindlein schwanger ging; und als die Zeit gekommen war, brachte ich diesen wunderschönen Knaben zur Welt!«

Nunmehr ging dem Kaufmann ein Licht darüber auf, daß er hineingelegt war; aber er ließ sich nichts merken. Vielmehr beschwichtigte er sein Weib, als ob er an den riesengroßen Bären glaubte, den sie ihm da aufzubinden suchte, und versicherte ihr mit dem seligsten Lächeln der Welt:

»Liebster Schatz, was du mir da erzählst, ist durchaus möglich, und dürfte auch anderen als dir begegnet sein. Gott sei gelobt für das, womit er uns beschenkt hat. Hat er uns durch ein Wunder mit einem Kindlein beglückt oder durch geheimnisvolle Fügung, die wir nimmer ergründen können, so hat er auch nicht vergessen, uns die Mittel zu spenden, damit wir es aufziehen.«

Als die wackere Frau inne ward, daß ihr Teuerster mit größter Bereitwilligkeit glaubte, was sie ihm vorerzählt hatte, da ward sie von einer Freude erfüllt, die den Durchschnitt irdischer Fröhlichkeit bei weitem übertraf. Der Herr Papa aber blieb nun voll Weisheit und Vorbedacht ganze zehn Jahre daheim, machte keine weiten Reisen mehr und ließ weder durch Worte noch durch sein Verhalten etwas davon merken, daß er die Sache durchschaut hatte. War er aber in diesem Punkt die Geduld selbst, so hatte er deshalb das Reisen noch keineswegs satt. Und darum erklärte er seinem Weibe eines Tages mit dem traurigsten Gesicht der Welt, daß er noch eine Reise unternehmen wolle.

»Rege dich darüber nicht auf,« tröstete er sie. »Wenn es Gott und meinem Schutzpatron, dem heiligen Georg, gefällt, dann werde ich in Bälde zurückkehren. Und da unser Sohn, mit dem du mich in meiner Abwesenheit beschenkt hast, nun schon erwachsen ist und recht gewandt, einen offenen Kopf hat und recht gelehrig scheint, so will ich ihn mitnehmen, wenn's dir recht ist.« »Weiß Gott, das wäre schön!« rief sie. »Bitte, nehmt ihn mit.«

»Also gut,« entgegnete er.

Und so reiste er wieder ab und nahm den Jüngling mit, der sein Sohn war, obgleich er auf die Vaterschaft doch gar keinen Anspruch hatte. Aber er hatte für diesen eine schöne Überraschung erdacht. So kamen sie bei gutem Winde bald nach Alexandria, wo der Kaufmann im Hafen anlegte und in kurzer Zeit fast alle seine Waren absetzte. Und da er nicht auf den Kopf gefallen war und deshalb nicht die geringste Absicht hatte, ein Kind auf dem Halse zu behalten, das sein Weib sich von einem andern hatte schenken lassen und das doch nicht mit den andern Geschwistern nach des Vaters Tode zu gleichen Teilen erben sollte, so verkaufte er den Jüngling für eine hübsche runde Summe als Sklaven – da der Bengel nämlich jung und kräftig war, so bekam der Alte seine hundert Dukaten dafür.

Nachdem er so alles gut und glatt erledigt hatte, fuhr er wieder heim und kam Gott sei Dank gesund und wohlbehalten nach Engelland zurück. Als seine bessere Hälfte ihn so blühend und wohl wiederkehren sah, da hatte sie eine Freude, die sich schwer beschreiben läßt. Aber als sie dann ihren Sohn nicht erblickte, da wußte sie doch nicht so recht, was sie davon denken sollte. Am Ende konnte sie nicht mehr an sich halten und fragte ihn, was er mit ihrem Sohn gemacht habe.

»Ach mein Schatz,« sagte der Ehemann, »leider kann ich es dir ja doch nicht verheimlichen: Die Reise ist ihm nicht über die Maßen gut bekommen!«

»Weh mir! Wieso?« klagte die Frau. »Ist er ertrunken?« »Nein, das ist er nicht,« meinte er. »Vielmehr fügte es sich, daß uns des Meeres Wogen zu einem Lande verschlugen, allwo es so heiß war, daß wir alle unter der Sonne Strahlenglut zu sterben vermeinten. Wie wir nun eines Tages ans Land gingen, um uns zum Schutze vor der Sonne in die Erde einzugraben, da geschah es, daß unser Sohn, der doch aus Schnee entstanden war, wie du dich noch erinnern wirst, vor unsern Augen auf dem Sande durch der Sonne Gewalt plötzlich dahinschmolz und sich in Wasser auflöste. Das ging eins, zwei, drei – und schon war nichts mehr von ihm zu sehen. So plötzlich, wie er zur Welt gekommen war, so plötzlich war er auch wieder von hinnen geschieden. Du kannst dir denken, wie mir die Sache naheging; und so viel Wundersames ich auch in meinem Leben erlebt habe – niemals war ich so überrascht, wie bei diesem Geschehnis.«

»Wenn es denn Gott gefallen hat, ihn uns zu nehmen, so wie er ihn uns gegeben hatte, so wollen wir ihn deshalb nicht minder loben und preisen!« sagte die Frau. Ihr war freilich klar, daß die Sache in Wirklichkeit wesentlich anders verlaufen sein dürfte; aber sie hielt den Mund darüber und kam nie wieder darauf zurück, sintemalen er ihr doch nur zurückbezahlt hatte, was sie ihm einst einzubrocken beliebte, ohne daß er ihr ansonsten je das Geringste nachtrug.


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