Iwan Andrejewitsch Krylow
Fabeln
Iwan Andrejewitsch Krylow

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36. Der Baum

Ein junges Bäumchen stand im Waldesdüster,
und sah den Bauer mit der Axt sich nahn.
Da bat es ihn mit klagendem Geflüster:
»Oh, ebne mir die Lebensbahn,
indem du lichtest ringsum das Revier.
Ich kann ja nicht gedeihen hier,
wo ich nicht seh' der Sonne Licht;
für meine Wurzeln wird der Raum zu klein.
Die Lüfte selber wehen nicht
zu mir heran, dieweil der Wald so dicht
hoch über mir sein Laubgewölbe flicht.
Wenn der mir nicht verkürzte das Gedeihn,
was bitter mich verdrießt,
so würd' ich binnen kurzer Frist
des Ortes Zierde sein.
Mein Schatten würde weit die Täler decken,
indes ich jetzt so dünn bin wie ein Stecken.«
Der Bauer, der dem Bäumchen hold,
greift auch sofort zum Eisen,
ihm den Gefallen zu erweisen.
Ums Bäumchen her wird plötzlich Raum,
ganz wie es hat gewollt.
Doch lange dauert nicht der schöne Traum.
Es wird jetzt von der Sonne bald gesengt
und bald durch Hagelschlag gekränkt,
und endlich bricht ein Sturm es in der Mitten.
»Du töricht Ding«, ruft ihm die Schlange zu,
»verschuldest du nicht selbst, was du erlitten?
Wärst du im Wald gewachsen nur in Ruh,
so konnten schaden dir nicht Glut noch Winde.
Die alten Bäume hätten Schutz verliehn,
und wenn dereinst dann morsch ward ihre Rinde,
und sie, der Zeit erliegend, bald
verschwanden aus dem Wald,
so wärest du gediehn
und stark genug geworden,
zu trotzen selbst dem Sturm vom Norden.«


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