Iwan Andrejewitsch Krylow
Fabeln
Iwan Andrejewitsch Krylow

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29. Der Esel und die Nachtigall

Der Esel sah einst Philomelen
und sprach: »O Liebe, hör einmal,
man sagt, du singest kapital,
da will ich's nicht verhehlen,
ich möchte selber gern ein Urteil haben,
ob wirklich so vortrefflich deine Gaben?«
Die Nachtigall erweiset ihm die Gunst,
entfaltet ihre ganze Kunst,
sie flötet sanft, sie trillert mächtig,
ergeht in tausend Wechselweisen sich
gar wonniglich,
sie schleift den Ton und schwellet ihn so prächtig
und weiß des holden Sanges Reiz zu häufen
in kecken Läufen.
Jetzt schmilzt ihr Lied dahin in süßer Pein,
wie wenn von ferne klingen die Schalmein,
und plötzlich wieder schmettert's durch den Hain.
Dem Lieblinge Aurorens alles lauschet,
der Vögel Chor verstummt, kein Windhauch
rauschet,
es horcht und lagert träumend sich die Herde.
Kaum atmend schwelgt der Hirt in diesen Tönen;
nur dann und wann blickt auf mit lächelnder Gebärde
der Glückliche zu seiner Schönen.
Der letzte Ton verrann.
Langohr, die Stirn ernsthaft gesenkt zur Erde,
spricht so: »Ganz hübsch, das muß ich sagen,
man hört dich mit Behagen;
nur schade ist,
daß du mit unserm Hahn bekannt nicht bist,
es könnte dieser Hof-Rhapsode
noch wesentlich verbessern die Methode.«
Als diesen Spruch vernahm die arme Nachtigall,
schwang sie sich auf und flog weit über Berg und Tal.

Vor solchen Richtern schütze Gott auch uns zumal!


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