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Fünfzehntes Kapitel.

Als Magnus die Handlungsweise seines Vaters erfuhr, kannte seine Wut keine Grenzen. An dem Tage, wo er Thora als Leiche tot in ihrem Bette fand, hatte er sich gesagt: »Dies ist Oskars Schuld und er soll dafür büßen«. Aber es gab keine rechtsgültige Weise, den Mann, der seine Frau mit allen Spitzfindigkeiten der Heuchelei und Verstellung gemartert hatte, zu bestrafen, und gerade zu der Zeit, als sein Zorn den Höhepunkt erreicht hatte, war Oskars Übergriff auf seines Vaters Vermögen mit seiner ganzen teuflischen Versuchung ihm zu Gehör gekommen: »Nutze mich aus,« flüsterte ihre Stimme, »der verruchte Geist der Welt versteht mich besser«, und nach einem Kampfe, in dem der Teufel um seine Seele zu kämpfen schien, war er unterlegen.

Er glaubte zu wissen, welchen Preis es ihn kosten würde, und das war der Grund, weshalb er sich seiner Familie beim Begräbnis nicht angeschlossen hatte. Jedermann würde ihn dafür verabscheuen, daß er seinen Bruder der wohlverdienten Strafe überliefere, sogar seine eigne Mutter sich von ihm wenden, und sein Vater, nachdem er angesichts der ihm ins Auge starrenden Armut dem Gesetz seinen Lauf gelassen hätte, würde den Sohn, der ihn vor dem Bettelstab bewahrte, verachten und hassen.

Einerlei aber! Wenn er im Gerichtssaal aufzustehen und zu sagen hätte: »Dies ist Oskar Stephensons Handschrift und er ist ein Fälscher und ein Dieb,« würde ein Schaudern des Entsetzens durch den gedrängt vollen Raum gehen, und jedes Auge mit Verachtung auf ihn blicken, dann aber würde er im Innersten seines Herzens sich sagen können: »Er tötete sie und er mußte dafür bestraft werden, und es gab keinen andern Weg als diesen.«

So war es jedoch nicht gekommen. Sein Vater hatte Oskar vor der gerechten Strafe seines niederträchtigen Vergehens gerettet. Und um welchen Preis gerettet? Indem er ihn – Magnus – für Oskars verschwenderisches Leben auf der Reise zahlen ließ. So war die Rache, die er seinem Bruder geschworen, auf ihn selbst zurückgefallen, und während sein rechtmäßiges Erbteil ihm entzogen, während das Pachtgut, auf das er seine letzten Hoffnungen gesetzt hatte, über jede Möglichkeit, sie je zu tilgen, mit Schulden belastet und er für den Rest seines Lebens zugrunde gerichtet war, durfte der Mann, um den und durch den er in seiner Liebe sowohl wie in seinem Vermögen Schiffbruch erlitten hatte, unter dem Deckmantel einer zerrütteten Gesundheit und eines gebrochenen Herzens, umgeben von einer Mitleid und Beileid schluchzenden Menge, sich davon schleichen!

Welch eine Teufelswelt war es, in der Niederträchtigkeit als Ehre, und Heuchelei als Kummer verkleidet einhergehen konnten! Im Verfolg dieser Gedanken verdunkelte sich Magnus' Augenlicht, sein Gehör versagte ihm, und er fühlte einen kalten Schmerz am Hinterkopfe. Dann griff er wieder zu dem einzigen Heilmittel für seinen schlimmen Kopf – er fing zu trinken an.

In der dunkelsten Ecke des Rauchzimmers des Hotels Island sitzend, schien jedes gesprochene Wort – jede Unterhaltung, die durch den Rauch und durch das Geräusch und durch seine betäubten Sinne zu ihm drang – die ihn gefangen haltende Idee, daß es des Teufels eigne Welt sei, und Gott nichts mit ihr zu tun habe, noch zu bestärken.

Den einen Augenblick kam ein Student in das Zimmer gerannt und rief, das Lachen und Singen seiner Mitstudenten übertönend: »Jungen, was meint Ihr? Oskar Stephenson reist heute abend mit der »Laura« ab!« Und darauf antwortete ein Wirrwarr von Stimmen: »Wirklich! Nein! Das ist doch wohl nicht wahr!« »Wahr genug – für immer zusammengebrochen, und geht auf unbestimmte Zeit ins Ausland!« »O bewahre! Oskar ist nicht von der Art, so leicht zusammenzubrechen! Sechs Monate draußen und er wird ebenso frisch und vergnügt wie früher zurückkehren.«

»Das wird er,« dachte Magnus, sein Herz aber war voll Zorn und Bitterkeit.

Im nächsten Augenblick kam der Vorsitzende der Stadtverordneten außer Atem hereingestürzt und rief: »Eine Neuigkeit, meine Herren, eine Neuigkeit! Oskar Stephenson hat seinen Sitz im Parlament aufgegeben!« »Unmöglich!« »Hört!« und der dicke kleine Mann las mit raspelndem, asthmatischem Atem aus einem nach Papier und Druckerschwärze noch feucht riechenden Zeitungsblatt einen Brief von Oskar an seine Wähler vor. Gebrochen an Leib und Seele – genötigt ins Ausland zu gehen – unmöglich, das Datum seiner Rückkehr anzugeben – folglich gezwungen, seine Entlassung einzureichen – tief betrübt und enttäuscht, aber zu wohl seiner Pflichten sich bewußt, um seine Wähler warten zu lassen usw. »Das meint, er wirft uns über Bord? Nun, dem Manne ist nichts unmöglich – nichts –« »Ich wundere mich nur, daß der Gouverneur ihn gehen läßt!«

Und dann lachte Magnus in der wilden Bitterkeit seines Herzens laut heraus.

Darnach wurden die Stimmen eine Weile leiser, und als sie wieder an Magnus' Ohr drangen, sagte jemand: »Aber ein Mann kann eine Frau auch zu sehr lieben. Sich sein Leben so gänzlich zu verpfuschen, weil man seine Frau verloren hat, ist nicht tapfer, nicht männlich.« »Vielleicht nicht, aber es ist menschlich,« sagte ein anderer, »und wenn Oskar Stephenson durch den Tod von Thora Neilsen vollkommen gebrochen ist, so hat er alle Ursache dazu, meine ich.«

»Ich auch,« rief Magnus, und wild lachend ließ er sein Haupt auf seine Arme auf den Tisch sinken. Was für eine Teufelswelt es doch war!

Hierauf erfolgte ein Geflüster, und dann sagten zwei lautere Stimmen: »Der arme Bursche! So unähnlich seinem Bruder! Eilt schnell dem Untergange entgegen, sagt man!« »Sein Vater war aber auch sehr hart gegen ihn!« »Nicht härter als er es verdiente, armer Teufel!«

Das Gift in Magnus' Seele gärte mit jedem Augenblick mehr und mehr. Beim Anhören des verachtungsvollen Mitleides, das man ihm im Vergleich mit seinem Bruder – seinem Bruder, der all das Unglück herbeigeführt hatte – zollte, begannen seine Schläfen wütend zu pochen, und ein einziger wilder Gedanke verdrängte alle übrigen aus seinem Gehirn. Wenn es kein Gesetz gab Oskar zu bestrafen, wenn sein Vater sich mit Oskar verschworen hatte, ihm zu seiner Flucht zu verhelfen, und die heuchlerische Bürgerschaft sich dazu hergab, seinen Fehltritt zu vertuschen, so blieb wenigstens eines noch übrig – ehe Oskar Island den Rücken kehrte, mußte er ihn sehen. Dann, wenn dies wirklich des Teufels Welt war, nun wohl, möge der Teufel sich der Seinen annehmen!

Während Magnus' Geist bei dieser Vorstellung wie in einer siedenden Schwefelgrube schwelgte, trat der Kapitän der »Laura« mit dem Geschäftsführer der Dampfschiffahrtsgesellschaft in das Rauchzimmer, beide begannen, sich in seine Nähe setzend, eine Unterhaltung. »Dann wird er sich mit einem Bett im Schiffsraum begnügen müssen, denn alle Kajüten sind besetzt,« sagte der Kapitän. »Aber weshalb kann er nicht auf das nächste Dampfboot warten?« »Das will ich Ihnen sagen,« flüsterte der Agent, »weil des Faktors Tochter mit der »Vesta« gehen wird, und es scheinen Gründe vorzuliegen, weshalb sie sich nicht treffen sollen.« »So, deshalb, so so! Aber ihre Väter müssen rechte Toren sein, sich nicht zu sagen, daß sie sich an der andern Seite treffen können, wenn ihr Sinn darauf steht.«

Nachdem er diese Unterhaltung überhört hatte, hob Magnus seinen Kopf von den Armen empor, trank ein großes Glas Kognak und Wasser bis auf den letzten Tropfen, und ging schweren Schrittes aus dem Hause hinaus. Er war sich des Verlaufes der Zeit nicht bewußt gewesen, aber die Dunkelheit begann jetzt anzubrechen, Kofferträger eilten mit Gepäck dem Hafendamm zu, und die Schiffsglocke der »Laura« ließ das erste ihres dreimaligen Geläutes erschallen.

Magnus war wie einem Menschen zumute, der nicht ordentlich sehen oder hören kann. Mehr als einmal prallte er auf dem Brückengange gegen Leute an und schob sie, da er groß und stark war, aus dem Wege. Einige derselben schimpften auf ihn, er ließ sich jedoch nicht aufhalten. Seine umnachteten Sinne waren sich nur eines Gedankens bewußt – daß er nach dem Gouvernementshause gehen müsse, um Oskar, ehe er abfuhr, von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.

Als er sein ehemaliges Heim erreichte, fand er, wie gewöhnlich an Herbstabenden, die Türe aufstehend und niemand unter dem Tor oder in der Vorhalle. Seines Vaters Türe vermeidend, ging er nach oben und wandte sich mechanisch den von Oskar kürzlich bewohnten Räumen zu. Dieselben aber lagen in einem Teile des Hauses, der durch das Andenken an Thora geheiligt war, und selbst in dieser Stunde der Leidenschaft und Qual flüsterte etwas seinem gemarterten Gewissen zu, und er kehrte sich ab. Einen Augenblick später befand er sich in Oskars Schlafzimmer im oberen Stockwerk.

Die Möbel waren in Unordnung, der Teppich war verschoben, und Kleidungsstücke lagen, als ob jemand gepackt hätte, zerstreut umher. Die Koffer aber waren schon fort, und niemand befand sich im Zimmer.

Magnus wollte gerade die Stube wieder verlassen, als sein Auge durch einige auf dem Pult liegende Papiere angezogen wurde. Zwischen Notenpapier und Zeitungsausschnitten sah er die Überbleibsel eines zerknitterten mittendurchgerissenen Briefes.

Magnus erkannte die Handschrift, es war Helgas – und ohne sich ein Gewissen daraus zu machen – fügte er die Stücke aneinander und las den Brief.

 

»Oskar – Sobald ich hörte, daß der Gouverneur mit dir über die unglückselige Angelegenheit gesprochen hatte, habe ich meinem Vater alles gestanden und meinen Anteil der Schuld auf mich genommen. Er war natürlich wütend und gelobt, daß ich unverzüglich zu meiner Mutter nach Kopenhagen zurückkehren solle. Das ist mir einerlei, da ich höre, daß Du Island verlassest; ich muß Dich jedoch vor Deiner Abreise sehen. Trotz allem was Du sagst, und ungeachtet des Versprechens, das Du irgend jemand gegeben haben magst, ist es unmöglich, daß wir so voneinander scheiden sollten. Es würde zu selbstsüchtig und zu feige von Dir sein mir die Gelegenheit zu versagen Dich zum letzten Male noch zu sehen. Dein Boot geht um neun Uhr, komme um halb neun Uhr zu uns. Solltest Du nicht kommen, mag ich Dir sogar nach London folgen. Ich werde es tun, wenn –«

 

Magnus las nicht weiter, sondern stürzte, die Stücke in seine Tasche stopfend, hinunter und auf die Straße hinaus. Wenn irgend jemand ihn in diesem Augenblicke gesehen hätte, müßte sein Anblick Entsetzen erregt haben, denn seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Adern traten hoch und dunkel auf seiner Stirne heraus; es war nun aber dunkel und die zweite, die Halb-Neun-Uhr-Glocke, läutete im Hafen.

Er stürmte in der Richtung des Faktorhauses dahin, als jemand vor ihm die Straße kreuzte. Es war Oskar, und er ging einer andern Richtung zu. Magnus war wie ein Mensch, dem der Verstand still steht, er sah jedoch alles in seinem eignen Lichte. Sein Bruder war, nachdem er sein Gepäck an Bord gebracht hatte, zu einem letzten Vorhaben vom Hafendamm zurückgekommen.

Magnus wußte, welch Vorhaben es war – es war um Helga zu sehen, und sie würden nun an einem Platz, wo sie unbeobachtet waren, sich treffen.

Der Mond war unterdessen aufgegangen, und Magnus konnte seinen Bruder, während er ihm wie ein Hund folgte, im Auge behalten. Er sah außer ihm überhaupt nichts anderes und war sich sogar der Straßen, die sie durcheilten, nicht bewußt, ausgenommen, daß sie dem oberen Stadtteil zugingen, nahe am See vorbei, den neben ihm herlaufenden Weg hinab.

Er gab sich Mühe, leise aufzutreten und kein Geräusch zu machen, manchmal jedoch entfuhr ein hartes Lachen seiner trocknen Kehle, dem ein- oder zweimal ein tiefer Seufzer folgte. Er dachte an Thora und redete sich vor, was er zu Oskar und Helga, wenn er sie treffen und ihnen entgegentreten würde, sagen wollte. »Ich liebte dein Weib,« würde er sagen, »ich schäme mich nicht, es einzugestehen, ich liebte sie und trat sie dir ab, und du gelobtest sie hoch zu halten, du aber hast sie vernachlässigt und ihr Kind ihr stehlen lassen. Ich würde mein Herzblut hingegeben haben, sie glücklich zu machen, du aber hast sie unglücklich gemacht, und nun sie tot ist, bist du mit diesem Frauenzimmer, das dir half sie zu martern, hier. Du bist ein Meineidiger und ein Fälscher und ein Schurke, und du bist dies – und das – und das wert – und kannst das Zeichen meiner Hand auf deinem Gesichte dort mitnehmen, wohin diese liederliche Person dir zu folgen gedenkt.«

Er war nun außerhalb der Stadt, konnte aber nicht wie andere Christenmenschen sehen, hören oder denken, sondern jagte nur wie ein wildes Tier die Straße entlang. Dann ganz plötzlich hörte er in der stillen Luft und in dem ihn umgebenden Schweigen die Stimme eines Menschen in leisen, zitternden, flehenden Tönen: »Mein Liebling! Mein Liebling!« rufen.

Magnus wußte, wessen Stimme es war. Er dachte, er wüßte auch welch ein Anblick sich ihm im nächsten Augenblick bieten würde. Oskar und Helga würden es sein, sich wie damals, als er sie zuletzt beim Tanze in dem Pachthof sah, erhitzt, heiß und aufgeregt im Arm haltend.

Mit geballten Fäusten und fest aufeinander gebissenen Zähnen stürzte er durch ein Tor, das wie die Eingangstüre zu einem Garten aussah, und rannte einige Schritte vorwärts. Plötzlich aber hielt er, als ob eine unsichtbare Hand seinen Arm ergriffen hätte, inne. Er sah, wo er sich befand, und sein Atem schien ihm zu versagen – er war auf dem Kirchhof, und einige zwanzig Meter weiter den Pfad hinunter kniete Oskar an der Seite eines Grabes und schluchzte, als ob das Herz ihm brechen wollte.

Magnus stolperte ernüchtert, beschämt und gänzlich gebrochen auf die Straße zurück.

Es mochte des Teufels eigne Welt sein, aber Gott war ebenfalls noch darin.

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