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Viertes Kapitel.

Bald darauf wurden die Kinder getrennt. Helga war die erste, die fortging. Der Faktor war reich geworden, und seine Frau, die nur so lange gewartet hatte, bis sie einen eignen Haushalt würde beanspruchen können, verließ ihren Mann und ging, ihre jüngste Tochter mit sich nehmend, nach Dänemark zurück. Helga war damals fünfzehn Jahre alt und freute sich fortzukommen; es war jedoch eine der Trennungsbedingungen, daß sie mit einundzwanzig Jahren, auf ihres Vaters Wunsch, nach Island zurückkehren oder aller ihrer Anrechte an sein Testament verlustig gehen sollte.

Der kleine Neils Finsen folgte als nächster, sein Vater hatte wieder geheiratet und seine Stiefmutter überredete den Kreisrichter, den Jungen nach London zu schicken, da er ein ausgesprochenes Talent für die Violine habe.

Oskar blieb einige Jahre länger und versuchte, sich über den Beruf, der ihm als der wünschenswerteste erschien, klar zu werden, wobei er sich bald zugunsten der Rechtwissenschaft, bald zugunsten der Kirche, öfter aber noch zugunsten der Musik (die in aller Augen für eine brotlose Kunst galt) entschied, bis er schließlich zur Erklimmung der ersten Stufe auf der Leiter der englischen Rechtswissenschaft und zum Verfolg einer öffentlichen Laufbahn in Island einem alten Universitätsfreunde des Gouverneurs in Oxford anvertraut wurde.

So kam es denn, daß innerhalb vier Jahren nach ihrer Konfirmation nur zwei der Kinder noch zu Hause waren, und es hatte sich so gefügt, daß diese beiden – Magnus und Thora – unter einem Dach miteinander lebten.

Magnus hatte sein Examen auf dem Gymnasium nicht bestanden, und da der Rektor zu der Überzeugung gekommen war, daß es Zeitverschwendung sein würde, ihn noch länger dort zu lassen, hatte der Gouverneur sich gerade entschieden, ihn auf das Erbpachtgut zu schicken, als der Faktor sich erbot, den Jungen als Lehrling in sein Geschäft und als Mitgenossen in sein Haus aufzunehmen.

Des Faktors Haus hatte sich unterdessen sehr verändert; der Platz seiner Frau war von seiner Schwester, einer schlauen kleinen Person mit scharfer Zunge aber liebevollem Herzen, die jedermann in Zaum hielt und alles nach Regeln festsetzte, ausgefüllt. Unter Tante Margrets Regiment trat Magnus als einer der vier Lehrlinge, die mit ihrem Herrn und seiner Familie am selben Tische aßen, außerdem aber nichts von ihnen sahen, seine Lehrzeit an.

Es wurde ihm schwer, sich in seines Herrn Geschäft hineinzuarbeiten. Es war ein Tauschhandelgeschäft, in dem die Pachtbauern ihre Wolle gegen fremde Produkte vertauschten und in welchem Handelsabschlüsse auf Papier gemacht wurden. Magnus machte anfänglich viele Versehen und wurde unausgesetzt gerügt. Im Verlauf der Zeit wuchs er zu einem Menschen von großem, gewaltigem Körperbau heran, und seine Mitgenossen tauften ihn »Jumbo«. Der Name blieb an ihm haften und jedermann behandelte ihn wie einen Einfaltspinsel.

Mit Ausnahme von zwei Malen täglich – beim Mittag- und Abendessen – sah er jetzt nichts von Thora. Tante Margret schickte sie auf die höhere Töchterschule, und wenn er ihr auf ihrem Hin- oder Heimwege auf der Straße begegnete, senkte sie den Kopf, lächelte und rannte davon. Magnus wäre am liebsten ebenfalls davongelaufen und zwar in der entgegengesetzten Richtung; denn das Geheimnis des Geschlechts hatte angefangen beiden ins Ohr zu flüstern.

Einmal jeden Monat trafen sie sich im Winter in einer Tanzstundenklasse, die im Gewerbeinstitut abgehalten wurde. Weshalb Magnus, in der Überzeugung, daß er doch nie tanzen lernen würde, dieselbe besuchte, war jedem ein Geheimnis, bis eines Abends die Wahrheit sich allen offenbarte, und darauf hielt kein Mensch ihn mehr für einen Einfaltspinsel oder wagte auch nur im Flüsterton ihn »Jumbo« zu nennen.

Ein flotter junger, kürzlich von einer Reise heimgekehrter Seemann, Hans Thomsen mit Namen, erlaubte sich außergewöhnliche Freiheiten. Er war witzig, schlagfertig und gewandt, und teils seiner Verdienste als Tänzer, hauptsächlich aber des Ruhmes wegen »weit gereist« zu sein, erschien er den Augen der jungen Mädchen hoch anziehend. Dies gewahrend, tat er sein Bestes, sie zu amüsieren und schaute sich, nachdem alle übrigen Hilfsmittel erschöpft waren, nach einer Zielscheibe für seinen Spott um. Magnus erschien ihm hierfür die geeignete Persönlichkeit. Er nannte ihn verschiedentlich »Jumbo«, und nachdem diese Anzüglichkeit nicht mehr verschlug, machte er einen Knittelverschor, den er als Begleitung zu einer lächerlichen Karikatur von Magnus' Elephantenschritten zum besten gab:

Langsam wälzt das Untier sich
Stampfe fort, doch lache nicht.

Ein schallendes Gelächter ertönte, Magnus jedoch blieb stumm, und die Mädchen hielten ihn für einen Dummkopf. Ermutigt durch seinen Erfolg, rühmte sich Hans einem Kreis von Freunden gegenüber, daß ihm die Wahl unter allen Mädchen im Saal freistände und schritt, um diese Behauptung zu bewahrheiten, auf Thora, die als reichste Erbin Islands galt, zu und forderte sie zum Tanze auf. Thora jedoch, der bei der voraufgehenden Szene das Blut heiß zu Kopf gestiegen war, antwortete äußerlich ruhig, doch mit zornbebender Stimme: »Nein, ich danke,« und reichte, sich kurz abwendend, Magnus die Hand zum Tanz.

Hans war im ersten Moment sprachlos vor Erstaunen; ein Mann muß jedoch schon sehr hungrig sein, um seine eigenen Worte zu verschlucken, und so flüsterte er nach einigen Augenblicken seinen Freunden unter Augenplinken ein: »Wartet nur!« zu.

Der nächste Tanz war ein Cotillon, und in einer seiner ersten Touren mußte ein Mädchen mit verbundenen Augen an einem Ende des Saales auf einem Stuhl sitzen, während die Jungens vom andern Ende auf sie zustürzten und sie zu erhaschen versuchten. Derjenige, der sie zuerst erreichte, führte sie in die Mitte des Saales, küßte sie und tanzte mit ihr (sie noch immer mit verbundenen Augen) durch den Saal.

Hans flüsterte mit dem Tanzordner, worauf Thora für den Stuhl gewählt wurde und alle anwesenden Burschen, mit Ausnahme von Magnus, auf sie losstürmten. Selbstredend war Hans der Gewinner, und sich seines Preises versichernd, führte er Thora auf den bestimmten Platz – machte, während alle erwartungsvoll zusahen, was er tun würde, als ob er auf die Ehre sie zu küssen verzichte, eine spöttische Verbeugung vor ihrem verbundenen Gesicht und ließ sie mitten im Saale stehen.

Unterdessen hatten die Mädchen zu kichern angefangen, und Thora, in dem Gefühl, daß irgend etwas nicht in Ordnung sei, nahm die Binde von den Augen und fand sich verlassen dastehend und den Seemann ruhig auf seinem Platz sitzend. Die Röte stieg ihr ins Gesicht, aber dreimal dunkler und heißer als zuvor, und in höchster Verlegenheit schlich sie nach ihrem Stuhl zurück.

Einen Moment darauf, als Hans, höher als eines großen Mannes Kopf mit den Füßen hintenausschlagend in der Mitte des Fußbodens stand, trat Magnus bleich wie ein Geist aus der Reihe heraus und bemächtigte sich seiner.

»Jetzt tanzst du mit mir,« sagte er, und der Seemann, sich mit Löwengriff in der Taille umspannt fühlend, rief halb scherzend, halb ernsthaft:

»Mit einem Stier zu tanzen, hat keinen Zweck. Laß mich los, sag' ich dir.«

»Nicht eher bis ich dir gezeigt habe, wie ein Stier mit dir umspringen würde,« sagte Magnus, und ehe irgend jemand es sich versah, hatte der Matrose den Deckenbalken des Saales berührt und war, den Raum mit Staub erfüllend mit einem Krach auf dem Boden gelandet.

Hans ging nie wieder zur See, und der Kreisrichter, der ein lebenslänglicher Feind des Gouverneurs war, verurteilte diesen, nachdem er ihm eine lange Rede über den Jähzorn und über die Pflicht der Eltern ihn ihren Kindern auszutreiben, gehalten hatte, zu hundert Kronen. Der Faktor bezahlte das Geld und zog es dann zehn Monate lang je zehn Kronen monatlich von Magnus' Gehalt ab. Dasselbe belief sich zu damaliger Zeit überhaupt nur auf zwanzig Kronen den Monat, und Magnus selbst trug die übrigen zehn heimlich Hans zu. Solange der Seemann am Leben war, zahlte Magnus ihm monatlich zehn Kronen aus, wie hoch oder gering sein Einkommen immer sein mochte. Hans wurde ein Wasserträger und ein Trunkenbold.

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