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Elftes Kapitel.

Die Sonne schien in das Schlafzimmer herein, als Thora mit einer leisen Röte auf den bleichen Wangen und einem glückseligen Ausdruck in den Augen erwachte und Anna hilflos sich neben ihrem Bett hin und her wiegen sah.

»Wo ist das Kind?« fragte Thora.

»Gleich, Herzchen, gleich,« sagte Anna.

»Wo ist es?«

»Liege still, Thora. Du sollst alles nachher hören.«

»Aber sag' es mir doch, wo ist meine kleine Elin, Anna?«

»Versprich mir, daß du dich nicht aufregen willst, Thora, und ich will dir alles erzählen.«

Thora richtete sich auf den Ellbogen auf und sagte fliegenden Atems: »Du meinst doch nicht, daß ihr sie mir fortgenommen habt?«

»Da! Da regst du dich schon jetzt auf, Thora!«

Thora schien einen Moment nachzudenken und sagte:

»Es tut mir leid, Anna, um das was ich gesagt habe. Es war sehr, sehr unrecht von mir. Ich weiß, du würdest mir um alles in der Welt nicht wehe tun. Aber weshalb sagst du mir nicht, wo meine Kleine ist? Sie ist in der Kinderstube, nicht wahr? Du hast sie mir während der Nacht fortgenommen, und sie schläft jetzt in ihrer Wiege, ist es so? Oder vielleicht ist Tante Margret mit ihr hinunter an die Türe gegangen. Da! Ist sie das nicht – das Kind, das ich da unten auf unserm Felde schreien höre? Oder war es irgend ein anderes Kind auf der Straße? Sprich doch, Anna! Ich weiß, du willst mich nur necken. Ja, ich weiß. Aber ich bin so schwach, so töricht, und mein Herz schlägt wie eine Trommel.«

Anna fuhr, sich hin und her wiegend, fort zu stöhnen: »Lieber Gott, lieber Gott!«

Thora beobachtete sie einen Augenblick mit entsetzten Blicken und rief dann in schriller Stimme: »Tante Margret! Tante Margret!«

»Tante Margret ist fortgegangen, Thora,« sagte Anna.

»Fort! Tante Margret fort? Und mein Kind – ist das auch fort?«

Anna wiegte sich und stöhnte: »Lieber Gott! Lieber Gott!« Thora versuchte sich im Bette aufzurichten, ihre Wangen erblaßten jedoch, und ihre Augen fingen zu rollen an, und mit einem lauten Schrei fiel sie ohnmächtig zurück.

Die Mädchen stürzten ins Zimmer und öffneten Thoras geballte Fäuste, während Anna ihr die Stirne wusch.

»Was hab'ich getan? O, diese Ärzte! Was wissen sie von den Gefühlen einer Mutter! Es wird sie ganz gewiß töten. Mein armes Kind! Mein armes Kind! Komm denn, komm!«

Thora kehrte nach einem Moment zum Bewußtsein zurück und blickte mit verstörten Augen um sich.

»Oskar!« rief sie. »Ich will Oskar sehen.«

»Das sollst du, mein Herz,« sagte Anna und schickte eines der Mädchen zum Hause des Faktors, um ihn sofort herüber zu rufen. Oskar kam, vier Stufen zugleich nehmend, nach oben gejagt und wie der Wind ins Zimmer herein.

»Meine arme Thora!« sagte er, nach Atem ringend, indem er sich, um sie zu küssen, über das Bett beugte.

Thoras trocken und starr blickende Augen schmolzen und füllten sich mit Tränen. »Oskar,« sagte sie, »deine Mutter hat unsere kleine Elin fortgeschickt – sie mir während der Nacht heimlich gestohlen – und ich bin so schwach und kraftlos, daß ich nicht aufstehen und ihr nachgehen kann.«

»Ah nein, Geliebte, nicht Mutter,« sagte Oskar. »Liege ganz still und ich will dir alles erklären.«

»Hole sie mir zurück, Oskar. Ich habe mein Töchterchen so lieb. Ich kann ohne dasselbe nicht leben.«

»Ich weiß, daß du es lieb hast, Thora, und ich gebe dir mein Wort darauf, daß du es seinerzeit zurückhaben sollst.«

»Nein, nein, Oskar, gleich!«

»Nicht gerade gleich, Thora, ich versichere dich aber, daß das Kind in guten Händen ist. Es könnte nicht besser aufgehoben sein.«

»Welches Recht haben andere für mein Kind zu sorgen?« weinte Thora. »Mir gehört es, und ich muß es zurück haben – ich will es zurück haben.«

Thoras funkelnde Augen, die ihren ganzen Gesichtsausdruck veränderten, und ihre vor Wut und Haß heisere Stimme erinnerten an ein seiner Jungen beraubtes wildes Tier. Oskar schauderte beim Anblick des krampfhaft verzogenen, aschfarbenen Gesichtes, antwortete jedoch mit sanfter Stimme:

»Thora, wenn du dich derartigen Gefühlsausbrüchen hingibst, wirst du dich wieder krank machen, und dann wird das Kind nie wieder zu dir zurückkommen. Wenn du mir nur zuhören willst, will ich dir alles erklären. Du warst sehr krank, ehe das Kind kam, und der Doktor fürchtete sogar, du möchtest demselben etwas zuleide tun. Deshalb und um dir Schmerz und Schande zu ersparen, habe ich es auf eine kleine Weile von dir genommen – nur auf eine kleine Weile – bis du wieder besser und ganz dein altes Selbst bist, Thora.«

Thoras Gewimmere folgte ein tiefes Schweigen, und dann flüsterte sie heiserer Stimme:

»So warst du es, Oskar?«

»Nun – ja, mein Lieb, ich war es – es war aber zu deinem Besten, was ich tat, zu deinem und unserer kleinen Elins Besten. Und wenn du nur warten, nur Geduld haben willst, sollst du dein Kind zurückhaben, und wir alle werden glücklich sein.«

Thoras feuchte Augen schienen von selbst zu trocknen, ein glasiges, freudloses Licht leuchtete in ihnen auf.

»Wo ist mein Kind jetzt?« fragte sie.

»Nicht weit von dir – bei deinem Vater. Tante Margret hatte es in einen Schal gewickelt, und ich selbst trug es hinüber.«

»Dann hast du mein Kind Helga gegeben?« fragte Thora.

»Nun – ja, ich gab es Helga. Aber Tante Margret ist nun auch dort. Und außerdem beabsichtige ich den ganzen Tag ab und zu zu gehen – so daß du dich mn nichts zu quälen oder ängstigen brauchst – um gar nichts. Nun verstehst du die ganze Sache doch, mein Lieb, nicht wahr?«

»Ja, nun verstehe ich alles,« sagte Thora.

Die glasigen, freudlosen Augen sahen immer noch zu ihm auf, er mißdeutete jedoch das Licht, das ihnen den Glanz verlieh.

»Das ist ein gutes Kind,« sagte er. »Alle werden hoch erfreut darüber sein, daß du so vernünftig und fügsam bist; sie glaubten, du würdest dich nicht trösten lassen, alle glaubten sie es, außer Helga.«

»Helga?«

»Ja, Helga sagte, du würdest innerhalb einer Stunde ganz die alte wieder sein, und sie hatte recht. Helga kannte dich besser als irgend sonst jemand von uns.«

»Ja, Helga kannte mich besser als irgend sonst jemand von euch,« sagte Thora.

Dann blieb er auf dem Rande des Bettes sitzen und plauderte heiter von mancherlei, während Anna, Freudentränen über Thoras veränderte Stimmung vergießend, nach deren Frühstück rief und sie schmeichelnd überredete ein wenig davon hinunterzuwürgen. Oskar erzählte Thora von seiner Tätigkeit – von alle dem was er tun würde, wenn er erst einmal begonnen hätte, was bald – sehr bald jetzt geschehen solle. Dann sprach er von seinen ehrgeizigen, parlamentarischen Plänen und schließlich von der Proklamation. Sie sei auf übermorgen angesetzt, und jedermann würde ihr beiwohnen, und die Stadt ganz ausgestorben sein. Was ihn selbst beträfe, wäre er fest entschlossen, zu Hause bei Thora zu bleiben, nur, da die Feier von Thingvellir seine Idee gewesen sei und er eine so hervorragende Rolle in der Sache gespielt habe, meinten die Leute, es wäre jammerschade, wenn er nicht zugegen sein könnte.

»Und dann, weißt du, ist da ja auch noch der Chor zu bedenken,« sagte Oskar. »Ich habe Probe mit ihm gehalten und er ist durchaus unsicher; wenn ich mich jedoch auf den Organisten verlassen könnte, daß der ihn zusammenzuhalten vermöchte, würde ich auf keinen Fall gehen.«

»Was sagt Helga dazu?« fragte Thora.

»Helga? O, Helga? Helga sagt, ich müsse gehen,« erwiderte Oskar.

»Das tue ich ebenfalls,« sagte Thora.

»Du ebenfalls? Wirklich? Welch eine süße, selbstlose Seele du bist, das muß ich sagen!« sagte Oskar und rannte, nachdem er Thora auf die Stirne geküßt hatte, hinüber um nach Elin zu sehen.

Die glasigen, freudlosen Augen auf dem Kissen folgten ihm bis er zum Zimmer hinaus war, das in ihnen leuchtende Licht aber war das Licht der Verzweiflung.

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