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Zweites Kapitel.

Thora kämpfte unterdessen zu Hause mit einer großen Versuchung. Sie hatte den Friedensschluß zwischen ihrem Mann und Magnus gehört und zu sich selbst gesagt:

»Oskar wird sofort zu Doktor Oddson gehen, und der wird sagen: »Gewiß, die kleine Mutter ist vollkommen wohl genug, ihres Kindes selbst wieder zu warten, geben Sie es ihr schleunigst zurück.« Dann würde Oskar wie ein Wirbelwind und mit dem Ruf »Hurra! Hurra! Der Doktor sagt, die Kleine kann zurück« heraufgestürzt kommen, und Anna würde ihn beim Kragen nehmen und hinauswerfen, und sie würden alle lachen.

Oskar aber ließ lange auf sich warten, und als er dann kam, erwähnte er des Doktors mit keiner Silbe. Er erzählte nur von ihrer kleinen Elin und sagte, daß er gerade bei ihr gewesen sei. Sie wäre so rosig und wohl und finge schon an, von Dingen Notiz zu nehmen. Wenn man ihr den Finger hinhielte, sähe sie ihn an, als ob er der Zweig eines großen Baumes sei, und klammere sich mit der ganzen Kraft ihres kleinen Körpers an ihn an.

»Ich konnte mich nicht losreißen von ihr, Thora,« sagte er. »Es ist wunderbar, wie viel Vergnügen ein so kleines Kindchen einem schon machen kann.«

Es war merkwürdig, daß Oskar nicht sah, welch einen Schmerz ihr jedes Wort bereiten mußte, sie aber dachte nur: »Ich weiß, was es ist, er will mich überraschen. Er will es mir nicht vorher sagen, ehe die Kleine wirklich da ist. Er wird sie mir in der Nacht, während ich schlafe, ebenso wie er sie geholt hat, wiederbringen, und wenn ich am Morgen erwache, wird sie da sein.«

In dieser süßen Hoffnung schloß Thora an jenem Abend schon frühzeitig, ehe der rote Schein des Sonnenunterganges gänzlich auf den Wänden ihres Zimmers verlöscht war, die Augen. Sie sprach ein kurzes Gebet für Oskar und ein anderes kurzes für die kleine Elin, daß dieselbe, wenn sie sie am nächsten Morgen wiedersehen würde, ebenso liebreizend wie sonst sein möge, und dann schlief sie ein.

Bei ihrem Erwachen am nächsten Morgen lauschte sie auf des Kindes Atemzüge und streckte, da sie sie zu hören wähnte, ihre Hand sanft nach dem Platze aus, wo die Kleine liegen mußte, um dann lächelnd die Augen zu öffnen. Das Kind aber war nicht da, und die Sonne im Zimmer erlosch für sie.

Als der Doktor sie an dem Morgen besuchte, schaute er ernst und besorgt darein. »Ich fürchte, meine kleine Patientin sorgt sich zu viel,« sagte er. »Der Kopf brennt, und sie ist etwas fieberhaft. Sie muß sich ruhig, durchaus ruhig während der nächsten paar Tage verhalten oder ich stehe für nichts.«

Dies war alles; kein Wort über das Kind, und selbst dann noch, als der Doktor Anna in die Kinderstube führte, um ihr die nötigen Anweisungen zu geben, lauschte Thora gespannt, des Kindes wurde aber mit keiner Silbe Erwähnung getan.

Der Gouverneur war der nächste, der kam, in seiner nach Schnupftabak riechenden, goldverbrämten Uniform. Er streichelte Thoras auf der Steppdecke liegenden Arm und sagte, sie dürfe sich über nichts Gedanken machen.

»Meine liebe, kleine Tochter muß, so schnell sie nur immer kann, besser werden,« sagte er. »Sie muß mehr essen und wenn sie nach irgend etwas Verlangen hat, muß sie es sagen; was es auch sein mag, es soll ihr werden.«

Sie versuchte zu sagen, daß sie kein anderes Verlangen als nach ihrem Kinde habe, und daß sie, wenn man ihr das geben wollte, bald wieder wohl sein würde, ihr Hals aber war wie zugeschnürt, und sie konnte kein Wort herausbekommen.

Ihr eigner Vater, nach Frühstück und starkem Tabak riechend, kam als letzter und neckte sie mit lauter Stimme:

»Pah! Pah! Dies geht nicht länger so! Wir werden dich wieder unter Helgas Beaufsichtigung fortzuschicken haben. Und laß dir gesagt sein, junge Frau, du wirst bald besser werden und herüberkommen müssen, um uns von dem Kinde zu befreien. Es stellt unser ganzes Haus auf den Kopf. Das kleine Ding verdunkelt da drüben die Sonne, und Tante Margret und Tantchen Helga haben für niemand sonst einen Gedanken.«

Allmählich war Thora zu der Überzeugung gelangt, daß die ganze Familie dahin übereingekommen sei ihr das Kind vorzuenthalten, und daß Helga für diesen grausamen Beschluß die Verantwortung treffe. Es bemächtigte sich ihrer eine wilde, nie vorher gekannte Leidenschaft. Sie haßte ihre Schwester in schreckenerregender Weise. Helga, die sie erst ihres Gatten und nun ihres Kindes beraubt hatte, nutzte ihre Schwäche und Gebrechlichkeit als einen Vorwand und einen Deckmantel aus, um den Ihren Sand in die Augen zu streuen. Sie wollte sie aber überlisten und sich ihr Kind zurückholen, was auch immer die Folgen sein mochten, keine Macht des Himmels oder der Hölle sollte es ihr dann wieder entreißen.

Wenn die sie Umgebenden die Heftigkeit ihrer Empfindung hätten wahrnehmen können, würden sie Thoras sanfte, süße Seele kaum wiedererkannt haben. Sie war wie ein pantherartiges, seiner Jungen beraubtes und auf ihre Wiedererlangung ausgehendes wildes Tier. Alle übrigen ihr jemals eignen Leidenschaften und Empfindungen, Liebe zu ihrem Gatten, Zuneigung zu Tante Margret, ihrem Vater und dem Gouverneur, Mitleid für Magnus, und ihr warmes Herz für alle lebenden Wesen wurden durch das eine verzehrende Verlangen, das Verlangen nach ihrem Kinde erstickt. Es machte sie schrecklich, es machte sie grausam, es machte sie hinterlistig.

Thora beschloß sich ihr Kind zurückzustehlen.

Der folgende Tag, der Tag der Proklamation, sollte ihr Gelegenheit dazu geben.

Fast jedermann würde dann in Thingvellir sein, und sie würde freiere Hand haben. Nur Anna würde zu ihrer, und Tante Margret zu des Kindes Pflege zu Hause bleiben. Ihre einzige, fieberhafte Angst war die, daß auch Oskar zurückbleiben möchte, denn wenn er das täte, würde auch Helga bleiben, und damit würde ihr ganzer Plan scheitern.

Thora lag die ganze Nacht hindurch wach. Vor Tagesanbruch hörte sie die Leute in der Dunkelheit sich zurufen; beim Tagesgrauen hörte sie den Gouverneur fortreiten, und als Oskar ihr nach dem Fenster hinauf zurief, wußte sie, daß Helga ihn begleitete, denn sie hörte die Hufe von zwei Pferden.

Nachdem alle fort waren, legte sie sich mit einem Erleichterungsseufzer auf ihr Kissen zurück.

»Wann werden sie zurückkommen, Anna?« fragte sie.

»Nicht viel vor Mitternacht, fürchte ich. Du mußt dir aber die Zeit nicht lang werden lassen, Kind, es soll dir an nichts fehlen,« sagte Anna.

Dann begann die lichte, junge Seele in dem wilden Feuer ihrer Versuchung Pläne zu schmieden, wie sie Anna täuschen und aus dem Wege räumen könne. Auf einmal sagte sie:

»Hast du heute morgen keine Besorgungen in der Stadt zu machen, Liebste, ich meine, da du ganz allein bist und sogar die Dienstboten fort sind, weißt du?«

»Besorgungen? Der Himmel verhüte, was denkst du nur? Es ist wie Sonntag heute in der Stadt und nirgends ein Laden auf,« sagte Anna.

Im andern Augenblick sagte Thora:

»Anna, wenn du zum Kochen in die Küche hinunter möchtest, denke nicht an mich.«

»Das Kochen ist fertig, Liebling. Maria hat es gestern getan, und ich brauche nur die Schüsseln in dem Kinderstubenofen wieder aufzuwärmen. So brauche ich dich also, wie du siehst, keinen Augenblick zu verlassen.«

Thora begann vor Besorgnis ruhelos zu werden, plötzlich aber dachte sie: »Ich weiß wohl! Ich werde sie dazu bewegen, sich nach dem Mittagessen niederzulegen, und dann werde ich aufstehen, mich anziehen und fortgehen.«

Dies brachte ihre Gedanken auf ihre Kleider, die ihr am Abend ihres Anfalles ausgezogen und irgendwo weggepackt worden waren. Es würde viel Kästen zu öffnen und zu durchsuchen bedingen und Zeit nehmen und Geräusch verursachen. So sagte sie also:

»Mutter, Liebste, glaubst du nicht, daß meine Kleider vom langen Unbenutztliegen feucht geworden sind?«

»Feucht? In fünf Tagen und mitten im Sommer dazu?« rief Anna.

»Ja, es wäre aber doch so nett, sie lüften zu sehen, weißt du, und es würde einen an das Aufstehen erinnern.«

»Dann soll es nach deinem Wunsch gehen, Herzblatt, ja, das soll es,« sagte Anna, und mit der Scherzhaftigkeit, mit der man einem Kinde zu Willen handelt, entnahm die gute Seele Thoras Schrank nacheinander deren Kleidungsstücke, hielt sie vor ihrem Bette in die Höhe und hing sie dann über die Stuhllehnen vor den Kinderstubenofen, ihr dabei von dem Tage, an dem sie sie wieder anziehen und in Schals und Umschlagetücher gehüllt und von Oskar unterstützt, nach unten gehen würde, vorplappernd.

Thora beobachtete sie gespannt und sagte:

»Ich habe aber meinen Mantel noch nicht gesehen, Anna!«

»Deinen Mantel! Deinen Ausgehmantel! Himmel, das nenne ich aber guten Mutes sein, gewiß und wahrhaftig! Aber nein, nein! Wir wollen alle einen Luftsprung machen, wenn du den vor drei Wochen gebrauchen wirst, Thora!«

Die Stunden schlichen vor dem Essen entsetzlich langsam dahin, und nach demselben schienen die Sonnenreflexe an der Wand sich gar nicht von Thoras Bett trennen zu können; endlich aber schlug die Bornholmer Uhr unten drei, und dann sagte Thora:

»Mama, du mußt sicher sehr müde sein. Ich wollte du gingest in dein Zimmer und ruhtest ein wenig.«

»Und ich sollte mein Zuckerkind allein lassen? Fällt mir nicht ein,« antwortete Anna.

»Aber ich selbst möchte etwas ruhen, und das kann ich nicht, wenn du es nicht auch tust.«

»Wenn du wirklich meinst, daß du schlafen kannst –«

»Ganz gewiß, das werde ich.«

»Nun, in Anbetracht, daß du vorige Nacht so wenig geschlafen hast –« sagte Anna, und Thora fing zu gähnen und zu seufzen an.

»Ich werde beide Türen dann offen lassen. Und hier, Thora – ich stelle die kleine Handglocke auf diesen Tisch, und wenn du aufwachst und mich gebrauchst, – ich schlafe, wie du ja weißt, wie eine Katze, das geringste Geräusch erweckt mich –«

»Gute Nacht, Mama,« sagte Thora schläfriger Stimme, und Anna schlich, über Thoras Irrtum vor sich hin lächelnd und nickend, auf den Zehen aus dem Zimmer.«

Thora lauschte, bis daß der letzte Fußtritt im Korridor verhallt war, und richtete sich dann im Bett auf. Endlich war sie allein und die Zeit gekommen, da sie die durch Eifersucht und Neid hervorgerufene Verschwörung der Liebe und Güte, die sie ihres Kindes beraubt hatte, zunichte machen würde. Ihres Kindes! Ihres Kindes! Sie mußte sich ihres Kindes, was es auch kosten möchte, wieder versichern!

Sie ließ sich auf den Fußboden hinab und riß dabei die Handglocke vom Tisch. Sie fiel mit gedämpftem Klang auf den Teppich, und Thora hielt einen Moment horchend den Atem an. Nichts rührte sich indes in Annas Zimmer, so hielt sie sich krampfhaft an den Betttüchern an und richtete sich dann gerade auf. Darauf begannen die Wände sich wie um sie zu drehen, und sie schien zum ersten Male zu fühlen, wie kraftlos sie war. Wie schwach ihre Glieder jedoch auch waren, ihr Herz war stark, und sie tastete sich nach der Kinderstube hin, wo ihre Kleidungsstücke über den Stuhllehnen hingen. Sie anzuziehen war eine ermüdende Aufgabe, ihr Vorsatz aber wankte nicht, und nachdem sie endlich fertig war, besah sie sich im Spiegel. Ihre Augen waren rot, ihre Lippen bleich und ihre Wangen eingefallen und farblos. Niemand, der ihr auf der Straße begegnete, würde sie erkennen; aber doch, wenn sie nur ihren Mantel finden könnte –

Die Bornholmer Uhr schlug halb vier, und Thora begann, sich den Korridor entlang zu stehlen. Sie mußte an Annas Schlafzimmer vorüber, und die Türe zu demselben stand offen. Annas Schal lag auf einem Stuhl, sie riß ihn an sich und bedeckte Schultern und Kopf mit demselben. Dann ging sie hinunter. Ihre Glieder zitterten unter ihr, nicht aber vor Furcht; wenn irgend jemand sie jetzt aufzuhalten versucht hätte, würde sie wie ein Dämon gefochten haben.

»Mein Kind gehört mir,« dachte sie bei sich. »Welches Recht haben sie es mir vorzuenthalten?«

Im nächsten Moment war sie auf der Straße.

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