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Siebentes Kapitel.

Am andern Morgen dachte Oskar er hätte überwunden und sein Gewissen hätte den Sieg davongetragen, aber der Teufel war noch nicht ganz ausgetrieben. Er hatte sich kaum im Warenhause an die Arbeit gemacht, als schon ein Brief von Helga kam, der folgendermaßen lautete: –

 

»Das Eis auf dem See ist heute morgen herrlich, und trotz aller Geschäfte und sonstiger Hindernisse mußt du dein Versprechen halten und mit mir Schlittschuh laufen. Komme pünktlich um zwei Uhr; ich werde bereit sein, dich zu begleiten.«

 

Es war der erste Brief, den er je von Helga empfangen, und er schien ihm die Hand zu verbrennen.

Das parfümierte Billetpapier, und die große energische Handschrift verursachten ihm einen physischen Schauer, den er nie empfunden hatte.

Sollte er hingehen? Eine innere Stimme sprach: »Entschieden nicht! Warum willst du dich einer Versuchung aussetzen, noch dazu, wo du so schwach bist.« Aber sein Herz sagte: »Du mußt! Wenn du jetzt dein Benehmen gegen Helga änderst, dann kommst du in Gefahr dein Geheimnis zu verraten. Und wie soll es in der Zukunft werden – du kannst doch nicht stets der Gefahr aus dem Wege laufen!« Das Herz gewann die Oberhand und zur festgesetzten Stunde ging er zum Faktorhause hinüber.

Helga stand schon vor der Haustür. Sie trug ein mattblaues Sergekleid, unter dessen kurzem Rock die hohen braunen Stiefel hervor sahen, eine Jersey-Jacke verriet die biegsamen Formen ihrer schönen Gestalt und eine weiße Wollenkappe deckte ihren Kopf wie ein Helm und war unter dem Kinn geschlossen; ihr blühendes Gesicht sah wie das einer jungen Nonne unter dieser Hülle hervor.

Oskar wurde schon wieder unsicher und fragte, wo Thora sei.

»Hier bin ich,« sagte eine fröhliche Stimme vom Flur her, und Thora trat an die Tür, strahlend und glücklich, aber im bloßen Kopf und mit einer Näharbeit in der Hand.

»Noch nicht fertig?« fragte Oskar.

»Ich komme nicht mit, ich kann ja nicht Schlittschuhlaufen,« sagte Thora.

»Dann wollen wir dafür einen Spaziergang machen,« schlug Oskar vor. Aber Thora wollte nichts davon hören. Helga hatte den brennenden Wunsch Schlittschuh zu laufen, und Thora hatte den brennenden Wunsch, etwas anderes zu tun – nämlich eine Weste mit Ärmeln für den Schiffer Hans zu nähen.

»Wenn du es wirklich wünschest.«

»Wirklich und wahrhaftig! Um fünf Uhr werde ich Tee für euch bereit halten.«

»Wir kommen schon früher zurück,« sagte Oskar, und dann schlenderte er mit Helga den Weg hinunter.

Helga schritt in ihrem kurzen Rock so elastisch dahin, wie ein junges Pferd bei Frostwetter, und der neben ihr schlendernde Oskar fühlte, wie ihm das Blut in den Adern prickelte und jeder Nerv aufs höchste gespannt war. Er erschrak ein wenig und als er zurückblickend sah, wie Thora ihnen vom Hause her nachwinkte, sagte er »Gott segne die gute kleine Seele!« Helga blickte ihn von der Seite an und lachte.

Der Frost hatte die Luft geklärt; es war scharf kalt und elektrische Strömungen durchzitterten, alle ihre Sinne erregend, die Luft. Ihre Stimmen klangen laut, und Helgas Lachen war dem Knistern und Knacken trockener Reiser in hellem Feuer vergleichbar.

»Worüber lachst du, Helga?«

»Ich weiß es nicht,« antwortete sie, und dann lachten beide zusammen.

Das Eis auf dem See war herrlich – ein großer tiefschwarzer Spiegel, denn es war noch kein Schnee gefallen, und so konnte man fünf Klafter tief die Steine und Kiesel auf dem Grunde erkennen.

»Wie schade, daß Thora nicht mitgekommen ist,« sagte Oskar.

»Ja, nicht wahr?« antwortete Helga und sah ihn wieder lachend von der Seite an.

Sie setzten sich an das Ufer, um ihre Schlittschuhe anzulegen, und während Helga mit ihren Riemen beschäftigt war, dachte Oskar, »ich darf es nicht, und ich tue es nicht!« Aber Helga warf ihm nur einen lächelnden, bittenden Blick zu und sofort kniete er vor ihr nieder und hielt einen Schlittschuh und einen ihrer langen braunen Stiefel in seinen zitternden Händen.

Oskar war entzückt von Helgas Schlittschuhlaufen. Es war göttlich und teuflisch zugleich und berauschte ihn so, daß er nicht wagte, sich diesem Zauber allein hinzugeben, und da er an der anderen Seite des Sees, wo sich eine Insel von Lavafelsen befand, mehrere Schlittschuhläufer entdeckte, forderte er Helga auf mit hinüber zu kommen.

Die Stunden flogen dahin, die Bewegung in der frischen Luft erwärmte sein Blut, alle sorgenden Gedanken schwanden und er dachte nicht mehr an Thora. Als endlich die Sonne in goldener Pracht über dem See unterging, sagte Oskar, »es ist Zeit nach Hause zu gehen.«

»Noch nicht,« erwiderte Helga, und sie liefen wieder und immer wieder um die Insel herum, bald einzeln, bald Hand in Hand, bald nebeneinander, die Arme auf der Brust gekreuzt.

Die Sonne ging unter; See und Ufer wurden grau und matt, aber die Höhen der Berge leuchteten noch goldig.

»Der Tee wartet auf uns,« sagte Oskar.

»Noch ein wenig länger!« sagte Helga, und Oskar war durchaus nicht abgeneigt immer wieder die Runde mit ihr zu machen.

Die Dunkelheit nahm rasch zu und auf der Insel wurde ein Feuer angezündet.

»Nun ist es zu spät zum Tee,« sagte Helga und noch einmal flog Oskar mit ihr rund um den See herum. Es kam ihm vor, als ob Helgas Gesicht, wenn sie aus der Dunkelheit in den roten Feuerschein und wieder in die Dunkelheit hineinglitt, elektrische Funken sprühte.

Einer der Schlittschuhläufer begann das Elfenlied zu singen; andere stimmten ein und nun war man in ein Zauberland versetzt. Der Frost hatte seine eisige Hand auf die Wasserfälle gelegt, die den See speisten, und sie schwiegen still; er hatte die Ströme angerührt, und sie ruhten; aber statt der Stimmen des Wassers erhoben sich die Stimmen der Menschen und rauschten und klangen durch die frische Nachtluft:

»Tanze bei Tag und tanze bei Nacht,
Leben und Zeit entfliehen uns sacht;
Liebe allein ist von ewiger Macht.«

Oskar war hingerissen. Das Summen der Schlittschuhe, das Schwanken des Eises, die Stimmen der Sänger, die Hitze, die Glut, die schlängelnde Bewegung, und vor allem das strahlende schöne Mädchen an seiner Seite, so voll lachenden Lebens, alles berauschte seine Sinne, und das Blut tobte feurig durch seine Adern.

Nun stieg noch hell leuchtend der Mond empor und spiegelte sich rund und weiß in dem schwarzen Eisspiegel, der seine Lichtstrahlen ausbreitete, als ob ein Komet auf die Erde gefallen wäre und ihnen zu Füßen läge.

»Sieh nur! wir wollen darüber fortlaufen,« rief Helga, und dahin schossen sie in der Dunkelheit, den Mondreflex weit hinter sich lassend, bis sie die Grenze des Sees erreicht hatten, und die Schlittschuhläufer mit Gesang und Feuer weit zurück blieben.

»Was für ein Irrwisch der Mond ist! Ich könnte dich leichter fangen, als ihn,« sagte Oskar.

»Du kannst es nicht!«

»Ich könnte es schon!«

»Nun, dann tu es!« rief Helga und flog lachend davon; bald aber wurde sie still, atmete laut und schließlich hörbar keuchend, während sie sich drehte und wendete, um ihm zu entgehen, bis er schließlich mit ausgestreckten Armen und dem Rufe: »Erreicht!« sie erfaßte. Und ohne zu wissen, was er tat, schloß er sie fest an die Brust, und sie hielt sich krampfhaft fest, um nicht zu fallen, während er Kuß auf Kuß auf ihre Lippen drückte.

Aber im nächsten Moment kam ihm das Bewußtsein zurück, wie ein eisiger Windhauch, der in einen Hochofen fährt. Seine Arme ließen Helga los und er sagte kalten Tones: –

»Ich bitte dich um Verzeihung, Helga; es war sehr unrecht von mir. Es tut mir sehr leid.«

Helga lachte; ein nervöses kurzes Lachen, als ob sie sagen wollte, »bin ich wirklich diejenige, an die du in diesem Augenblick denkst?«

»Ich bin mit deiner Schwester verlobt und in kaum zwei Monaten werde ich heiraten. Ich hatte kein Recht meinen Gefühlen in dieser Weise Ausdruck zu geben,« sagte Oskar.

Das nervöse Lachen ertönte von neuem und sagte so deutlich wie möglich, »weißt du wirklich, was du da sprichst, Oskar?«

Oskar zitterte wie ein welkes Blatt. Er glich einem Manne, der auf dem heißen Boden der Geister steht, wo die Erdkruste dünn ist und unter seinen Füßen kracht.

»Wir wollen nach Hause gehen,« sagte er.

»Dann schnalle mir die Schlittschuhe ab.«

Sie setzte sich an das mondbeglänzte Ufer, und während er ihr zu Füßen kniete und mit den Riemen handhabte, redete er abgebrochene Sätze vor sich hin, aber jedes Wort schien wie an einer zerbrochenen Sehne zu reißen.

»Wenn ein Mann sich mit einem guten Weibe verlobt hat, dann muß er ihr treu bleiben. Es ist seine Pflicht, was auch für ihn daraus entstehen mag. Wenn er dabei zu leiden hat, so muß er eben leiden, Helga, und wenn er sich aufopfern muß –«

Ein leiser Laut unterbrach ihn, Helga weinte. Ihre Tränen schienen seine innersten Gedanken zu erforschen und zu sagen, »aber hast du das Recht, auch mich aufzuopfern?«

»Helga! Helga!« schrie er, aber sie schien es nicht zu hören. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und weinte laut und trostlos vor sich hin.

Er hätte sie gern getröstet, wagte es aber nicht. Thora und Magnus fielen ihm ein, der Faktor und sein Vater und die Gedanken umtanzten seine offen vor ihm liegende Seele wie böse Geister.

»Helga! Helga!« rief er von neuem, aber Helga hörte nicht auf zu weinen. Hätte es noch einen Augenblick länger gedauert, dann würde er sie wieder in die Arme geschlossen und ihr gesagt haben, daß er sie liebte; daß diese Liebe ein Naturgesetz sei, dem er gehorchen müsse, und daß sie von Island entfliehen und nie zurückkehren müßten, mochte auch noch soviel zerstörtes Lebensglück dort zurückbleiben.

Aber Helgas Weinen stockte plötzlich, und sie sagte, den Kopf zurückwerfend, heftig: »Gut, wenn du damit zufrieden bist; ich bin es auch!«

Dann sprang sie auf, wischte sich energisch die Tränen ab und lachte – ein kurzes, hartes, bitteres Lachen; das gewann auch Oskar seine Selbstbeherrschung wieder.

»Laß uns gehen,« sagte sie.

Sie nahmen ihren Rückweg am Ufer des Sees entlang, gingen nebeneinander her, aber keiner streifte den andern oder sprach ein Wort. Oskar dachte, »großer Gott, da bin ich noch mit einem blauen Auge davon gekommen! Einen Augenblick länger, und wer weiß, was geschehen wäre! Wie konnte ich mich auch in solche Gefahr begeben! Mein einziger Schutz liegt in einer baldigen Heirat. Thora und ich müssen fort. Wenn wir heimkehren, ist Helga wieder in Dänemark, dann kann so etwas nie wieder vorfallen!«

Als sie endlich zu Hause anlangten, kam er sich wie ein Ehebrecher vor, der zum ersten Male von Abwegen heimkehrt. Thora sah glücklich aus und empfing sie mit den Worten:

»Ich habe mir gleich gedacht, ihr würdet euch vom Schlittschuhlaufen nicht losreißen können; ich räumte daher den Tee ab, und nun gibt es gleich Abendbrot.«

Nach dem Abendessen sagte Oskar: »Pate, willst du mir wohl erlauben, die gestern abend getroffene Bestimmung noch einmal zu ändern?«

»Du möchtest es wohl lieber wieder auf Ostern verschieben, heh?« sagte dieser.

»Nein, sondern lieber gleich Weihnachten heiraten,« sagte Oskar und führte seine Gründe dafür an. Thora sähe so blaß aus – wie alle fänden – sie brauchte einen Luftwechsel – er würde mit ihr nach England gehen, vielleicht auch nach Frankreich oder sogar Italien. Sie könnten den Frühling über fort bleiben und Anfang Sommer zurückkommen, wenn die Session im Althing begänne; dann würde Thora frisch und munter sein, und er könnte sich ernstlich an die Arbeit machen.

»Aber Weihnachten, du meine Güte!« rief Tante Margret, »da bleibt ja kaum Zeit für das Aufgebot! Und wie wird es mit Thoras Brautkleid?« Aber Thora selbst war ganz entzückt, und Tante Margrets Bedenken wurden niedergeschlagen.

»Nun gut, dann soll es also Weihnachten sein,« sagte der Faktor, worauf Thora einen Freudenschrei ausstieß, und Helga, deren Züge immer blasser geworden waren, während sie sich im Kreise umgeblickt hatte, aufsprang und rief:

»Nun wollen wir aber ein Tänzchen machen, um das frohe Ereignis zu feiern!«

»Nein, nein, nein,« sagte Oskar.

»Ja, ja,« sagte Helga, setzte sich ans Klavier und spielte eine rasche und leidenschaftliche Tanzweise. »Tanze mit ihm, Thora,« rief sie mit unheimlich funkelnden Blicken.

Thora ergriff Oskar am Arm, zog ihn von seinem Sitz in die Höhe und sagte lachend: »Warum denn auch nicht, Oskar?«

Tische und Stühle wurden beiseite geschoben, der Faktor zog sich zum Rauchen zurück und Oskar und Thora tanzten, während Helga spielte und ihnen immerfort lachend zurief.

»Helga, Helga, nicht so schnell! Du machst uns ja tot,« rief Thora.

Aber Helga lachte immer lauter und spielte immer schneller, von einer Heftigkeit beseelt, die sie wie ein Feuer zu verzehren schien.

Oskar ging an diesem Abend mit schwerem Herzen nach Hause, aber Thora legte sich beglückt zu Bett.

»Wie unrecht ich doch der guten Helga getan habe,« dachte sie noch, dann holte sie tief Atem und sank in ruhigen Schlummer.

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