Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel.

Anna hatte recht mit Oskar und dem Kinde – freiwillig ließ er es weder Nacht noch Tag auch fünf Minuten nur aus den Augen. Wenn es sein Bad bekam, hielt er es für notwendig, die Verrichtung zu beaufsichtigen, und wenn es seine Nahrung erhielt, fühlte er sich verpflichtet, Wehr und Wache zu halten. Er war in tausend Ängsten, daß dem Kinde irgend etwas zustoßen möge, und es nackt an der äußersten Ecke von Tante Margrets Schoße liegen zu sehen, machte ihn allein schon schwindlig. Wenn es zu schreien begann, während er im Eßzimmer war, stürzte er, vier Stufen auf einmal nehmend, nach oben, und wenn irgend etwas im Zimmer über ihm auf den Fußboden fiel, erblaßte er und fing zu zittern an. Er schlief in dem Zimmer neben der Kinderstube und beobachtete, wenn das Kind ruhelos wurde, Tante Margret durch die offene Tür bei ihrem geschäftigen Hin- und Herlaufen so ängstlich (er selbst war viel zu nervös um das Kind zu nehmen), als ob sie eine Dosis zu viel Opium genommen hätte.

Zwei Tage vergingen auf diese Weise, ohne daß er ein einziges Mal das Haus verlassen hätte. Thora hörte ihn im Nebenzimmer Tante Margret umschmeicheln und umschelten und mit dem Kinde lachen oder sprechen, und ihr Herz floß vor Glückseligkeit über. »Wird es aber dauern?« fragte sie sich selbst.

Helga, die ausgeschlossen unterdessen von diesen Freuden einsam zu Hause saß, fühlte sich sehr vernachlässigt. Am dritten Tage erhielt Oskar eine Botschaft von ihr, worin sie sagte, daß sie ihn in einer wichtigen Angelegenheit sprechen müsse und ihn bäte, sofort herüberzukommen. Dem konnte er nicht widerstehen. Das kleine duftende Kuvert zog ihn wie ein Magnet. Er wollte, um zu überlegen, wie er handeln sollte, einen Spaziergang machen, jeder Schritt jedoch brachte ihn des Faktors Hause näher. Innerhalb einer halben Stunde fand er sich in dem kleinen, den See überschauenden Wohnzimmer, und Helga mit gesenktem Kopf, sanfter und bescheidener aber auch unwiderstehlicher als je zuvor, ihm gegenüber.

»Ich habe dir eine Beichte abzulegen,« sagte sie, »und wenn du mich schiltst, muß ich es ruhig über mich ergehen lassen.«

Sie trage die Schuld an dem plötzlichen Erkranken der armen Thora. Gereizt durch die ihr vor einigen Tagen bereitete Enttäuschung sei sie nach dem Gouvernementsgebäude hinüber gegangen, um ihre Schwester der ihr zugefügten Demütigung willen zur Rede zu stellen. Vielleicht hätte sie zu viel und mehr als wahr sei gesagt, es täte ihr aber bitter leid und sie sei tief beschämt. Sie möchte gern Thoras Verzeihung erbitten, und wenn Oskar dies für sie tun wolle –«

»Gewiß, gern, Helga,« sagte Oskar. »Aber Ende gut, alles gut, weshalb sollten wir noch Worte über diese Angelegenheit verlieren?«

»Es ist da noch etwas anderes, über das ich mit dir sprechen möchte,« sagte Helga und dann brachte sie den wahren Grund ihrer Botschaft zur Sprache.

Der armen Thora Manie hätte eine mörderische Richtung genommen, hätte das Leben ihres ungeborenen Kindes bedroht. Welch ein entsetzliches Unglück würde es sein, wenn sie vor Schwäche und im Irrwahn versuchen sollte, ihre Drohung wahr zu machen!

»Aber das ist ja alles vorüber, Helga,« sagte Oskar. »Seit das Kind da ist, ist Thora sanft wie ein Lamm und fließt vor Zärtlichkeit und Liebe über.«

»Dasselbe dachte ich bis heute morgen,« sagte Helga. »Vater aber sagt mir, daß deine Mutter noch Zeichen von Geistesstörung sieht.«

»Großer Gott!« rief Oskar.

»Jedermann, dich selbst nur ausgenommen, scheint davon zu wissen. Ich hielt es aber für unrecht, dich darüber im Dunkeln zu lassen, und deshalb habe ich es dir mitgeteilt.«

»Danke, Helga, es war recht von dir, und wenn die arme Thora noch derartige Neigungen zeigt, –«

»Darüber ist kein Zweifel, Oskar. Sie hat zu deiner Mutter gesagt, sie möchte, sie könne sterben und das Kind mit ihr.«

»Man muß sie bewachen – das Kind ebenfalls, Tag und Nacht müssen Krankenschwestern um sie sein.«

»Würde das genügen, Oskar? Du weißt wie schlau Leute sind, die an derartiger Geistesstörung leiden. Und ein kleines Kind ist ein so zartes Geschöpf, dessen Leben in einem einzigen Moment auszulöschen ist.«

»Du meinst, daß das Kind ihr genommen werden sollte?«

»Es möchte das Sicherste sein – wenigstens eine Zeitlang. Es könnte hierher gebracht werden. Ich will es treu versorgen. Es könnte seine Wärterin behalten, Tante Margret müßte ja so wieso bald nach Hause zurückkommen.«

»Es muß geschehen, Helga. Es wäre zu entsetzlich, wenn dem Kinde etwas zustieße. Ich würde wahnsinnig werden.«

»Und dann bedenke Thora. Für sie würde es noch zehntausendmal schrecklicher sein!«

»Arme Thora! Es wird ihr das Herz brechen,« sagte Oskar. »Es scheint, als ob ich dazu ausersehen bin, Schmerz und Pein und Tod über sie zu bringen.«

»Nur Güte zwingt uns zur Grausamkeit, Oskar. Aber laß dich nicht nur von mir bestimmen und ums Himmels willen sag' nicht, daß ich es in Anregung gebracht habe. Frage sonst noch jemand.«

»Ja, das werde ich.«

»Den Gouverneur?«

Bei Nennung dieses Namens hielten beide zurück und blickten sich, als ob ein Gespenst zwischen sie getreten sei, stillschweigend an.

»Irgend welche Nachrichten von Monte – ich meine Kopenhagen?« fragte Helga.

»Bis jetzt keine, ich bin aber in beständiger Angst, daß etwas passieren könnte.«

»Was auch kommen mag, Oskar, ich werde es dir nie vergessen, daß du es meinetwegen getan hast.« –

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er nahm sie, hielt sie einen Moment in der seinen, küßte sie leidenschaftlich und floh aus dem Hause.

Später am Tage wurde ein Familienrat im Gouvernementshause gehalten, um die nötigen Schritte zu überlegen. Der Gouverneur und der Faktor, Oskar und Anna wohnten ihm bei und Tante Margret, die das Kind einem der Mädchen anvertraut hatte, kam als letzte.

»Magnus ist ebenfalls in der Kinderstube,« sagte sie. »Er kam mit Holz zum Einheizen herauf und Thora hörte seine Stimme, da unterhalten sie sich jetzt durch die offene Tür.«

Doktor Oddson war auch zur Konsultation zugezogen und gab eine sehr vorsichtige Meinung ab. Dergleichen Arten mörderischer Manien entständen meistens aus Schwäche und seien gewöhnlich vorübergehend. Er selbst habe seit der Nacht ihrer Entbindung keine darauf hindeutenden Zeichen an Thora gesehen, wenn aber Anna solche bemerkt habe, könne er die Verantwortung nicht übernehmen und sich dem von ihnen vorgeschlagenen Schritt widersetzen.

Anna stöhnte und sagte, sich hin und her wiegend, daß sie doch eigentlich ihrer Sache auch nicht ganz gewiß sei. Sie möge Thoras Äußerung ja falsch aufgefaßt haben. Vielleicht hätte das arme Kind etwas ganz anderes gemeint.

Tante Margret teilte diese Ansicht, nur viel ausgesprochener. »Ich glaube kein Wort davon,« sagte sie, »und es tut mir leid, ihr nur je mißtraut zu haben. Thora ist eine Neilsen und würde dem Kinde kein Haar krümmen.«

»Sentimentale Gefühle sind augenblicklich hier nicht am Platz,« sagte der Gouverneur. »Wenn Thora an einem Wahn, und mag es ein noch so vorübergehender sein, leidet, müssen wir sie vor den Gefahren ihrer Krankheit schützen.«

»Dem stimme ich bei, Stephen,« sagte der Faktor. »So leid es mir auch meiner Tochter wegen tut, bin ich doch derselben Meinung, ganz derselben Meinung.«

»Es ist unsere Pflicht, unsere einfache Pflicht,« fuhr der Gouverneur fort, »erstlich gegen das Kind, den Nachkömmling – gegenwärtig den einzigen wahrscheinlichen Nachkömmling zweier Familien, und zweitens gegen die arme junge Mutter selbst, die vor allen anderen uns Vorwürfe zu machen berechtigt sein würde, wenn wir irgend etwas vernachlässigten, und ein Unglück geschehen sollte.«

»Vor allen andern, Stephen, wahrlich, vor allen,« sagte der Faktor.

»Es scheint so grausam, so entsetzlich grausam,« sagte Anna.

»Es geschieht aber doch alles nur zu Thoras Bestem,« sagte Oskar.

»Ich weiß, Oskar, ich weiß es ja, grausam bleibt es aber doch.«

»Zuerst möchte ich nun aber wissen, wer es ausführen soll,« sagte Tante Margret, »ich nicht – das sage ich euch gerade heraus.«

»Dann muß Anna es selbst tun,« sagte der Gouverneur.

»Nein, nein, verlangt das nicht von mir,« sagte Anna.

»Weshalb nicht? Wer eignet sich besser für eine solche Tat der Barmherzigkeit und Liebe? Und Oskar selbst muß – Oskar muß, wenn es nötig ist, das Kind selbst hinüber zu Faktors tragen.«

Oskar erbleichte bis an die bebenden Lippen, und sein Herz zog sich krampfhaft zusammen.

Es wurde verabredet, daß das Kind seiner Mutter während derselben Nacht, sobald sie eingeschlafen und das Haus ruhig wäre, genommen werden sollte.

»Sie schläft aber stets mit dem Kind an der Brust ein und wacht immer auf, sowie es nach seiner Flasche verlangt,« sagte Anna.

»Ich werde ihr einen Schlaftrunk geben, und dann wird sie bis zum Morgen schlafen,« sagte der Doktor.

»Lieber Gott! Lieber Gott! Ich werde mir wie eine Diebin vorkommen,« seufzte Anna.

»Oder wie eine Mörderin,« sagte Tante Margret.

.


 << zurück weiter >>