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Sechstes Kapitel.

Oskar Stephenson eroberte alle Herzen im Sturm. Während seiner sechsjährigen Abwesenheit in England war er schlank wie eine Pappel und schön wie ein junger Gott geworden. In Kleidung und Haltung erschien er den isländischen Augen untadelhaft, und beide trugen den Stempel der Individualität, dem niemand widerstehen konnte. Seine Laune war ebenso übersprudelnd und knabenhaft wie vordem, und seine herzgewinnende Fröhlichkeit nahm jeden gefangen.

Daß seine Karriere fast ein Fehlschlag zu nennen war, daß sein Vater, um ihn an seine Studien zu binden, eine frühere Rückkehr verboten und er dessenungeachtet vor bestandener Prüfung Oxford verlassen und seit seiner, auf inständiges, eigenes Bitten erfolgten Übersiedlung nach London bisher nichts auf der musikalischen Hochschule geleistet hatte, wurde ihm von keinem Menschen verdacht. Er brauchte nur zu wollen, dann würde er schon können, war das allgemeine Urteil über ihn; und sobald er einmal begonnen hätte, würde er die Welt im Sturm erobern.

Nach seiner Landung lief er, nach allen Seiten hin Grüße rufend, leichtfüßig wie ein Renntier die Straße hinauf, stürzte ins Gouvernementshaus, drückte seine Mutter wohl fünf Minuten lang wieder und wieder ans Herz, sprach so schnell, daß sie seinen Worten nicht folgen konnte, stürmte in seines Vater Bureau, küßte ihn wie er als Knabe zu tun pflegte, erzählte zehn Minuten lang, setzte ihm auseinander, daß er nur einfach deshalb seine Rückkehr verschwiegen habe, um alle zu überraschen und sagte dann: »Nun muß ich aber meinen Paten begrüßen,« und war, seine beiden sich vor entzückter Überraschung anlächelnden Eltern im Zimmer zurücklassend, wie ein Aprilsonnenstrahl verschwunden.

»Ja, Oskar verstand sich immer auf Überraschungen,« sagte der Gouverneur, indem er, um ihm zu folgen, seinen Hut aufnahm.

Als Oskar beim Faktor anlangte, kam er zuerst auf Tante Margret zu und hielt sie, seine Arme um ihren Hals schlingend, so lange an sich gepreßt, daß sie, um Atem zu holen und ihre Locken zu schonen, sich genötigt sah, ihn mit den Fäusten zurückzustoßen. Und dann stand Thora in ihrer Schnürtaille, ihrem niedergeklappten Kragen, ihrer Hufa mit Troddel und geflochtenem Haar da, ihn aus ihren sanften blauen Augen von der Seite anschauend und ihn mit ihren beiden Reihen milchweißer Zähne anlächelnd. Sie erschien ihm wie das Bild bezaubernder Einfachheit, er nahm ihre beiden Hände in die seinen und so blieben sie, während Thora mit jedem Moment tiefer errötete und zu entfliehen versuchte, einige Augenblicke stehen.

»Ist es möglich?« fragte er. »Und dies soll Thora sein! Als wir Kinder waren, pflegte sie mich zu küssen, aber jetzt –«

»Jetzt wird sie sich verheiraten, Oskar. Hast du es noch nicht gehört? Thora wird Magnus' Frau werden.«

»Dann gehört sie also zur Familie, und ich darf ihr jedenfalls einen Kuß geben,« sagte Oskar.

Thora riß sich endlich los, und darauf kam der Faktor hinzu, und Oskar mußte sich wie ein Kreisel rund herumdrehen, damit sein Pate sich überzeuge, was die Welt aus ihm gemacht habe. Er lachte und lachte, erkundigte sich nach dem Geschäft und den Leuten, ging durch das ganze Haus, fragte was aus diesem Stück Möbel geworden sei und aus jenem.

»Alles scheint zu mir zu reden,« sagte er, »und in meiner Bude in Oxford hörte ich jene alte Bornholmer Uhr gerade so deutlich ticken, wie ich es jetzt tue.«

Darauf kam der Gouverneur mit Anna im Gefolge, und während die alten Herren rauchten und Tante Margret die Wirtin machte, berichtete Oskar in einer sich überstürzenden Flut von Worten die Neuigkeiten des Auslandes und erkundigte sich darauf, was zu Hause passiert sei. Sie erzählten ihm von Magnus' Plänen und Ideen, er stimmte ihnen jedoch nicht bei.

»Island wird nicht länger Island sein, wenn ihr ein kleines Amerika aus ihm macht,« sagte er. »Es ist das Land der Lieder, der Märchen, des Feuers, des Frostes, der Eisberge, Vulkane und der patriarchalischen Regierungs- und Handelsmethoden.

»Oskar hat recht,« sagte der Faktor, »der junge Bursche hat mich um fünfzehn Jahre jünger gemacht. Ich werde doch ein Auge auf Magnus zu werfen haben. Er ist kein Tölpel, reicht Oskar aber nicht das Wasser. Oskar das ist ein Junge!«

»Er ist ein Herzensjunge,« sagte Tante Margret, indem sie ihre Locken zurecht zupfte.

Thora wußte kaum, was sie von ihm dachte, nur daß sie sich sehr unglücklich nach seinem Fortgehen fühlte.

Als sie am Abend zu Bette ging, mußte sie unwillkürlich an Magnus denken und ihn zu seinem Nachteil mit seinem Bruder vergleichen – wobei ihr kleine Nebensachen, wie seine Hände und Nägel und die scheckigen Flecken auf seinen Wangen, wenn er sich zu rasieren versäumt hatte, einfielen.

Am nächsten Tage verteilte Oskar die Geschenke, die er aus England mitgebracht hatte – eine Brosche, die eine Kapsel für sein eigenes Bild enthielt, an Anna, eine Vorstecknadel an Tante Margret, einen silbernen Gürtel an Thora und eine Kleinigkeit fast an jedermann. Seine Selbstlosigkeit war der Gegenstand allgemeiner Lobeserhebung, und niemand dachte nur einen Moment daran, daß jedes Stück vom Gelde des Gouverneurs bezahlt worden sei.

Am Nachmittage kehrte er nochmals zum Faktor zurück und erzählte Thora und Tante Margret wohl eine Stunde lang von London und seinen Herrlichkeiten. »Du mußt das alles eines Tages selbst sehen, Thora,« sagte er. Aber der alte Magnus, denke ich mir, wird unter keinen Umständen Island je verlassen.«

Thora war unglücklicher denn je, als sie den zweiten Abend zu Bette ging und dachte über den Unterschied nach, den es in einem Menschen mache, ob er weit gereist sei oder nicht, und welch ein herrliches Leben die Frau einmal führen müsse, die Oskar heiraten würde. Sie besah sich Oskars neuen Gürtel im Spiegel und war gerade einen Schritt zurückgetreten, um ihre geschmückte Taille zu bewundern, als Silvertop im Stall zu wiehern begann, und darauf fühlte sie sich unglücklich und ein ganz klein wenig beschämt.

Oskar kam auch den nächsten Tag und saß, da er Tante Margret auf einem Armenbesuch aus fand, bis es ganz dunkel war, allein bei Thora und erzählte ihr von den Theaterstücken, die er gesehen hatte. Sie enthielten eine Menge über Liebe, und eines handelte von einem Mädchen, das von zwei Brüdern geliebt wurde. Ihr Vater hatte sie, als sie noch ein Kind war, an den älteren Bruder verheiratet, sobald ihr Herz aber zu sprechen begann, liebte sie den jüngeren, und ihr Gatte Lötete sie beide. Thora weinte den beiden Kindern, die getreu zu bleiben versuchten, es aber nicht fertig gebracht hatten, eine Träne nach und träumte in der folgenden Nacht, daß sie Franceska und Oskar Paolo und Magnus Giovanni sei. So schmerzlich der Traum auch gewesen sein mochte, das Erwachen war schmerzlicher noch.

Auch den folgenden Tag kam Oskar und spielte eine Menge Lieder, die er selbst aus der Saga komponiert hatte. Thora meinte, nie ein ähnliches Spiel gehört zu haben und so sehr sie es auch zurückzudrängen versuchte, konnte sie bei der Erinnerung an Magnus' Flötenspiel ein leises Lachen nicht unterdrücken. »Ich bin ganz sicher, er wird noch einmal ein großer Komponist werden,« sagte sie als Oskar fortgegangen war.

»Vielleicht, aber von der Ehre allein kann niemand leben,« sagte Tante Margret.

Hierauf sah Thora täglich nach Oskar aus, und als er das nächste Mal kam, überredete er sie, ihre Gitarre hervorzuholen. Sie spielte ein paar isländische Liebeslieder und sang mit süßer Stimme dazu. Thora war wie eine Blume, die unter dem Schnee gewachsen war und nun ihre Blüten der Sonne entfaltete.

»Ich möchte wohl wissen, wen Oskar einmal heiraten wird?« sagte sie, und Tante Margret antwortete:

»Irgend eine englische Miß mit reichlichen Schätzen dieser, aber mit keinen der künftigen Welt.«

Und dann fühlte Thora einen stechenden Schmerz in der Brust.

Eines Tages kam ein Briefchen von Oskar, in dem er sagte: »Herrlicher Morgen! Was meinst du zu ein paar Stunden auf dem Fjord? Werde dich sogleich abholen.«

Sie nahmen ein dem Faktor gehöriges Boot und richteten seinen Lauf der von zehntausend Eidergänsen bewohnten Insel Engey zu. Beide ruderten beim Verlassen der Landungsbrücke, sobald sie jedoch außer Seh- und Hörweite waren, ließen sie die Ruder sanft nachschleifen und sich treiben. Die See und der Himmel waren blau und regungslos wie zwei sich zugekehrte Spiegel, jeder warf den anderen zurück, und das Boot schwankte wie eine große Hummel surrend dazwischen.

Oskar gebärdete sich wie ein Knabe. Er lachte und schwatzte ununterbrochen und erzählte, was sie als Kinder alles zu tun pflegten. Damals sei er nicht sehr ritterlich gewesen, erinnere er sich, wenn sie ihn aber sehr flehentlich gebeten hätte, pflegte er ihr zu erlauben, auf seinem Schlitten zu sitzen, und dann war es krachend und knackend durch den gefrorenen Schnee gegangen. Sie hatten in jenen Tagen auch kleine Zwistigkeiten gehabt, und die Leute pflegten dann zu sagen: »Kinder, die sich zanken, werden oft ein Paar.« Sehr weise waren die Leute gewesen, nicht wahr?

Sie landeten auf Engey und streiften dort auf Suche nach Eidergänsen umher. Die Vögel hatten die Insel jedoch schon verlassen und sie fanden weiter nichts in ihren Nestern als ein paar verblichene und ausgebrütete Eier.

»Wir sind zu spät hierher gekommen,« sagte Oskar. »Sind wir nicht zu spät hierher gekommen, Thora?« fragte er, sich niederbeugend und ihr von der Seite ins Gesicht blickend, von neuem. Und Thora, die leise vor sich hin gesummt hatte, wurde feuerrot. Ihre beiden Augen sprühten und sie bebte vor Erregung.

»O, daß wir noch einmal Kinder sein könnten!« sagte Oskar. »Möchtest du das nicht auch, Thora?«

Ehe sie sich dessen versah, hatte Thora mit »Ja« geantwortet und wandte sich dann verlegen der Richtung des Bootes zu. Der Erdboden war von engen Furchen durchzogen, die der Winterfrost in das Gras gerissen hatte, und Oskar sagte:

»Wir können nicht miteinander in einer Furche gehen.«

»Dann hasche du mich,« antwortete Thora und lief lachend davon.

Oskar lief hinter ihr her und ergriff und hielt sie beim Gürtel; darauf wurde sie ernsthaft und fing nach einer Weile zu weinen an.

»Hab' ich dir weh getan?« fragte Oskar.

»Nein, nein! es ist gar nichts. Ich bin töricht! Fang mich noch einmal!« sagte Thora ihm die Mütze vom Kopfe reißend und über die Furchen dahinfliegend, und war, ehe er sie eingeholt hatte, in das Boot zurückgesprungen.

Als sie beim Faktor wieder anlangten, händigte Tante Margret, die gemessen und nachdenklich erschien, Oskar einen Brief ein, den seine Mutter für ihn gebracht hatte. Er war von Magnus und lautete:

 

»Lieber Oskar – ich freue mich von Deiner Heimkehr zu hören und ich wünsche, ich hätte zu Deiner Bewillkommnung dort sein können. Du bist gerade zu einer guten Stunde angelangt, denn man wird Dir von meinem Glück mit Thora erzählt haben. Es hat lange gewährt, bis ich selbst mein Glück fassen konnte. Sie war ein so fröhliches, kleines Mädchen, daß es mir selbstsüchtig vorkam, sie aus ihres Vaters Hause, wo jeder sie so liebt, herauszureißen. Nun da sie aber einmal mein ist, fühle ich neue Kräfte in meinen Adern und arbeite für drei. Ich bin so glücklich, daß mir alles gelingt und komme mir wie der Amboß vor, den selbst die heftigsten Schläge nicht schlecht machen können. Ich sehne mich aber Dich wiederzusehen und schreibe, um Dich zu bitten, ob Du nicht zum Schafeintreiben kommen und Thora mitbringen willst. Nun muß ich aber schließen, denn wir lagern draußen in den Bergen, und es wird schwer halten, Dir diesen Brief überhaupt zur rechten Zeit zukommen zu lassen. – Dein Dich liebender Bruder

Magnus Stephenson.«

 

Oskar las den Brief laut vor, und als er damit fertig war, vermochte Thora durch den Flor, der ihr wie eine am hellen Wintertage sich auf das Tal herabsenkende und die schimmernden Berge verhüllende, naßkalte Nebelwolke vor Augen schwebte, ihn kaum zu erkennen. Im nächsten Augenblick jedoch lachte Oskar – ein wenig nervös – und sagte:

»Laß uns jedenfalls gehen. Ich werde Silvertop bereit halten und ihn dir morgen früh um fünf Uhr herumbringen.«

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