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Sechstes Kapitel.

Oskar fand wenig Ruhe in dieser Nacht. Zwei Monate lang hatte er sich in einem Traumgarten bewegt, wo süßer Blumenduft seine Sinne gefangen hielt, nun aber war er endlich erwacht und fühlte sich vor einen Richterstuhl geschleift, den seine eigne Phantasie sich erschaffen. Bei diesem Gerichtshof des Gewissens war er gerechter Richter und schuldiger Gefangener zugleich, und während der langen Stunden des Halbschlafes und des bewußten Wachens sah er sein Leben und seine Ziele wie von Blitzstrahlen beleuchtet vor sich und fragte und beantwortete sich eine Reihe schrecklicher Fragen.

»Ist Thoras Eifersucht berechtigt?

Nein, ja! Das heißt – ich habe sie vielleicht vernachlässigt – gedankenlos vernachlässigt.

Liebst du Helga?

Das braucht man nicht gleich zu denken. Ich bewundere sie – bewundere ihre Schönheit und ihren Geist, aber –

Dann liebst du sie also nicht?

Ich liebe ihre Gesellschaft – ich bin gern mit ihr zusammen, sie ist lebhaft und klug; wir haben viele gemeinsame Interessen.

Wenn du also Helga nicht liebst, warum brichst du nicht lieber den Verkehr mit ihr ab, als daß du Thora leiden siehst?

Das kann ich nicht! Das kann ich nicht!

Dann liebst du Helga doch?

Ja! ja! ich liebe sie.

Was soll dann aus Thora werden?

Thora tut mir sehr leid, aufrichtig leid.

Hast du aufgehört, sie zu lieben?

Das kann ich nicht sagen. Mein Gefühl für Thora ist immer das gleiche geblieben.

Dann hast du sie nie geliebt?

Ich glaubte sie zu lieben – war fest davon überzeugt.

Dann war dein Gefühl für Thora eine Täuschung?

Eine unglückselige Täuschung; es geht mir ihretwegen sehr nahe – wird mir immer sehr nahe gehen.

Aber du bist mit ihr verlobt?

Gott helfe mir, so ist es.

Was wirst du jetzt tun?

Was ich tun werde? Ich werde – ja, ich werde dem Naturgebot folgen. Aus Zufall, Irrtum und Täuschung habe ich mich mit dem falschen Weibe verlobt; aber muß ich an ihm festhalten, nachdem ich erkannt habe, daß ich es nicht liebe? Nein! Sie ist sanft und liebevoll; ich finde nichts an ihr auszusetzen, aber ich muß dem Gebot meines Herzens folgen, und wer kann mich deswegen verurteilen?

Wie steht es jedoch mit den Gesetzen des Landes – du hast doch einen Kontrakt unterschrieben Thora zu heiraten?

Das wohl, aber Heirat ist doch nicht dasselbe wie irgendein weltliches Geschäft! Ist man etwa gezwungen, eine Sache fortzusetzen, nur weil man sie begonnen hat? Kann man mit Menschenherzen wie mit Handelswaren umgehen?

Dann ist es also deine Absicht, Thora nicht zu heiraten?

Ich kann es nicht – es ist mir unmöglich – nun ich ihre Schwester gesehen habe, ist es mir nur zu klar geworden, daß ich sie nicht liebe.

Aber sie liebt dich!

Das ist ja eben der Jammer. Arme Thora! Sie sieht wohl ein, daß du ihr entschlüpfest?

Es ist zu traurig – ich weiß, welchen Kummer ich ihr bereite.

Was wird geschehen, wenn du dich ganz von ihr abwendest?

Ihr Herz wird brechen, – ihr weiches, zärtliches Kinderherz wird brechen.

Kannst du es über dich bringen, Thoras Herz zu brechen?

Nein, nein, nein! Lieber soll mein eigenes brechen!

Was willst du dann aber tun?

Die Heirat muß stattfinden. Ich sehe ein, daß es meine Pflicht ist – es gibt keinen andern Ausweg.

Halt! Es gibt noch etwas, woran du nicht gedacht hast. Wenn du deinen Kontrakt erfüllst und Thora heiratest, dann mußt du auch darauf vorbereitet sein, ihr Leben mit ihr zu teilen.

Ich weiß, ich weiß! und ich bin nicht dazu geschaffen! Wohl oder übel, ich tauge nicht dazu!

Aber wenn du deinen Kontrakt brichst und Thora nicht heiratest, dann kannst du Helgas Leben mit ihr teilen.

Ja, ja, und das ist das Leben, für das ich geschaffen bin. Es durchdringt mich, begeistert und erhebt mich.

Das eine ist das niedrigere Leben, das andere das höhere.

Ich ertrage es nicht daran zu denken.

Du weißt wohl, daß du bei einer Heirat mit Thora dich für immer zu dem niederen Leben verurteilst und alle Hoffnung und jeden Gedanken an ein höheres Leben aufgeben mußt.

Martere mich nicht! Martere mich nicht! Aber das höhere Leben wird ein Leben der Selbstsucht sein, während das niedere Leben ein Leben der Selbstverleugnung sein wird – welches erwählst du dir?

Hiermit ist alles gesagt – ich muß den Kontrakt einhalten, was auch die Folgen sein werden.«

Als Oskar am andern Morgen nach unruhigem Schlafe erwachte, glaubte er seinen Weg deutlich vor sich zu sehen. Es gab nur eine Lösung des schweren Problems, das sein Geschick ihm auferlegt hatte – er mußte sich opfern! Er war mit Thora verlobt, und die Heirat mußte stattfinden. Er liebte Helga, mußte sie aber aus seinem Herzen reißen. Er wünschte, Musiker zu werden und ein höheres Leben zu führen, mußte sich aber mit dem niederen Leben begnügen und seine Pflicht erfüllen.

Noch ein Rückblick schmerzlichen Verzichtens und ein paar Tränen, und dann leidlich befriedigt und gewissermaßen stolz auf das von ihm gebrachte Opfer ging Oskar früh ins Geschäft.

Es war die Zeit der Herbst-Messe, wo die Pachtbauern den letzten Talg und die letzte Wolle des Jahres brachten und ihre Rechnungen aufstellen und abschließen ließen. Die Kontore und Warenhäuser sahen wie Märkte aus, und es gab alle Hände voll zu tun. Oskar machte sich mit erstaunlicher Energie ans Werk, und als der Faktor vom Frühstück zurückkehrte, hänselte er ihn mit seinem Fleiß.

»Besser spät als garnicht,« sagte der Faktor, »und ein guter Herbsttag ist besser als zwei gute Frühlingstage.«

Oskar half den ganzen Morgen im Kontor bei den Rechnungen. Seine Aufgabe bestand darin, die Pachtbauern über ihre Bilanzen zu beruhigen, denn die meisten von ihnen waren unzufrieden, und fast alle dem Faktor verschuldet. Einige murrten über die Bezahlung, die sie für ihre Produkte erhielten, andere über die Preise, die sie für ausländische Waren bezahlten. Oskar mußte sie überzeugen, beschwatzen und trösten und schließlich die Wechsel für die Bankiers aufsetzen, mit denen sie ihre Schulden beglichen. Er kam sich gemein und nichtswürdig vor.

Gegen Mittag schickte Helga herüber und ließ fragen, ob Oskar am Nachmittag nicht mit ihr in die Kathedrale kommen wolle, um etwas von den neuen Kompositionen zu wiederholen. Er antwortete aber, er könne wegen dringender Geschäfte nicht abkommen. Es kostete ihm große Überwindung, diesen Bescheid zu senden, aber er hatte sich sein Lager bereitet und mußte darauf liegen.

Er brachte den Nachmittag im Warenhause zu, wo die von den Pächtern gebrachten Produkte gewogen und für den Winter aufgestapelt wurden. Der Geruch des Talgs und der Wolle brachte im Verein mit der Ausdünstung der Männer und ihrer Kleider eine erstickende Atmosphäre hervor, und Oskar ließ die großen Türen öffnen, damit frische Luft herein kam.

Mit der frischen klaren Winterluft strömte zugleich der Klang der Orgel herein, die in der Kathedrale gespielt wurde, und das war der letzte Tropfen in seinen übervollen Becher. Eine Stimme schien ihn aus der niederen Welt, in der er lebte, in die höhere zu rufen, nach der er sich sehnte. Helga winkte in seine unbehagliche Umgebung hinein, und er glaubte beim Tönen der Musik ihr Gesicht zu sehen.

Zum ersten Male regte sich in Oskar ein bitteres Gefühl gegen Thora; er kam sich wie ein Gefangener vor und erblickte in ihr seinen Kerkermeister. In diesem Augenblick ritt ein Mann auf einem hellen Fuchspony mit einer Reihe von Lastpferden hinter sich vor die Tür des Warenhauses. Es war Magnus, und als er ihn so vor dem Ladentisch stehen sah, hinter dem früher sein Platz gewesen war, empfand er ein Gefühl von Scham und rief ihn in das Kontor herein.

Die Unterredung zwischen den Brüdern war kurz und alltäglich, aber jedes Wort brannte auf ihren Lippen. Oskar fragte, ob Magnus auf der Farm vorwärts käme und ob er gute Dienstleute habe, was Magnus bejahte. Er war immer gern auf dem Lande gewesen und hatte die alten Dienstboten behalten, sodaß nichts verändert war. Oskar fragte, ob der Gouverneur ihn gut eingesetzt habe, und Magnus sagte, er sei zufrieden, er hätte das Gut jetzt als Pachtung und nach dem Tode der alten Leute würde es sein Eigentum.

»Und wie kommst du hier vorwärts?« fragte Magnus.

»Ich? O – ganz gut, wie mir scheint.«

»Gefällt dir die Arbeit?«

»Ja – das kann ich wohl nicht gerade sagen; ich hatte ja nie auf solche Arbeit gerechnet, aber es macht sich ganz gut.«

Sie mußten eine Pause machen, denn der Lärm im Warenhause war noch lauter als gewöhnlich – ein paar von den Pächtern zankten sich mit den Abwägern.

»Und wie geht es Thora?« sagte Magnus einen Augenblick später.

»Thora? O, Thora geht es sehr gut, wie mir scheint. Ja, Thora geht es sehr gut.«

»Mutter sagt, sie sieht blaß aus.«

»Blaß? Wirklich? Es ist mir nicht aufgefallen. Aber es ist möglich, es wird ja auch schon kalt.«

Eine peinliche Pause entstand in ihrer Unterhaltung, und Oskar konnte deutlich hören, wie die Orgel in der Kathedrale die Anfangstöne seiner Hymne erschallen ließ.

»Ich höre, Helga ist nach Hause gekommen.«

»Ja, Helga ist nach Hause gekommen.«

»Man sagt, sie ist sehr hübsch geworden.«

»Hübsch? Ja, sie ist recht hübsch, wirklich auffallend hübsch – und musikalisch – hervorragend musikalisch. Sie hat sich zu einem sehr anziehenden Mädchen entwickelt – das ist wahr.«

Es entstand wieder eine peinliche Stille, in der der Orgelklang die zankenden Stimmen im Warenhause übertönte.

»Die Hochzeit wird wohl bald stattfinden?« fragte Magnus.

»Die Hochzeit? Ja, weißt du, Magnus, es ist noch nichts darüber bestimmt.«

»Noch immer nicht?«

»Ich meine, noch nichts Bestimmtes – es ist noch kein Tag festgesetzt. Ich weiß nicht warum, aber –«

Oskar blickte seinen Bruder an, und die Sprache versagte ihm.

Magnus war sehr gelassen, seine Augen hatten einen ruhigen Ausdruck und seine Stimme klang sanft, aber es lag etwas in seinem Antlitz, was eine schreckliche Erinnerung wach rief. Die Erinnerung an die Verlobungsnacht, als Magnus gesagt hatte, »wenn du sie jemals vernachlässigst oder verlässest, oder sie um einer anderen Frau willen aufgibst, dann nehme ich sie zurück – hörst du wohl? – dann nehme ich sie zurück, und dann töte ich dich, so wahr mir Gott helfe!«

Oskar speiste an diesem Abend in der Familie des Faktors. Er war ernster als gewöhnlich und Tante Margret neckte ihn während der Mahlzeit mehrmals wegen seiner Schweigsamkeit, aber als er sich schließlich eine Zigarette angesteckt hatte, sagte er –

»Pate, ich hoffe du willigst ein, daß wir bald heiraten können?«

Thora, die blaß und angegriffen ausgesehen hatte, errötete, heiter aufblickend, während Helga, die rosig und erregt gewesen war, blaß und ernst wurde.

»Was verstehst du unter bald, Oskar, – Ostern vielleicht?« sagte der Faktor.

»Nein früher, viel früher, spätestens Mitte Januar,« sagte Oskar.

»Was sagt denn Thora dazu?«

Diese erhob sich; strahlenden Auges und hoch aufatmend ging sie zu Oskar hinüber und küßte ihn.

»So, das ist also was Thora sagt?« lachte der Faktor hell auf. »Nun schön. Ich bin damit einverstanden! Sagen wir Mitte Januar und bestimmt ihr beide den Tag.«

Helgas blasses Gesicht zuckte. »So, das ist also glücklich bestimmt!« rief sie aus, ging ans Klavier hinüber und begann mit großer Kraft zu spielen. Sie hatte den wilden »Walkürenritt« gewählt und spielte von Minute zu Minute rascher und lauter.

Oskar durchlebte Qualen und ging früh nach Hause. »Welch ein Segen, daß Helga nichts ahnt!« dachte er. »Wenn sie etwas wüßte, dann wäre ich meiner selbst jetzt noch nicht sicher! Und liebte sie mich gar, wie ich sie liebe – großer Gott, was dann!«

Thora dagegen war sehr glücklich. Als sie diesen Abend zu Bett ging, dachte sie, »wie unrecht habe ich Oskar in Gedanken getan, wie schmählich unrecht!«

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