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Neuntes Kapitel.

Während der wenigen, dem Begräbnis voraufgehenden Tage herrschte eine Öde und Leere im Gouvernementshause, wie wenn man in einem Zimmer die Uhr hat stehen lassen. Hinter den herabgelassenen Jalousien sprach jeder in so leisem Flüsterton, als ob die Tote schlafe und nicht erweckt werden dürfe. Die Schweigsamkeit des Hauses gipfelte in dem weißen, nach frischem, reinem Leinenzeug und wilden Blumen duftenden Zimmer, in dem Thora lag. Das durch die gelben Jalousien durchsickernde, gedämpfte Sonnenlicht ließ das wächserne Gesicht der Toten wie von einem Heiligenschein umgeben erscheinen und verbreitete Feierlichkeit über alle Umstehenden.

Anna gestattete sich keine lange Abwesenheit aus dem Zimmer, ihre Furcht vor demselben war, nun der Tod seinen Einzug gehalten hatte, verschwunden. Früh oder spät, beim Tageslicht oder im Finstern ging sie leise in dem stillen Raum ab und zu, wie wenn sie die Stunden zähle, während der sie ihr teures Kind noch über der Erde haben würde.

Der Gouverneur ließ von Thoras Sterbetage an bis zum Tage nach der Beerdigung alle Geschäfte ruhen. In seine Amtsuniform gekleidet, saß er in seinem Bureau, empfing aber niemand. Er schrieb keine Briefe und las keine Bücher und sprach selten während der Mahlzeiten. Stundenlang saß er mit gekreuzten Armen und starrte auf das Muster des Teppichs. Ein Schatten war auf ihn gefallen – ein Schatten der Scham – und in der geheimsten Kammer seiner stolzen Seele suchte er, ohne daß es ihm gelingen wollte, sein Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen.

Der Faktor arbeitete wie gewöhnlich, denn es lag in dem Gesetze seiner Pflicht kein Umstand vor, der Geschäftliches verbot. Verschiedentlich jedoch mußte er beim Umschlagen seines Hauptbuches lange auf dasselbe niederblicken, um schließlich doch nichts zu sehen. Einmal, während er die Zahlen seines Bankbuches aufsummte, traf ihn, einem wuchtigen Schlage über den Schädel gleich, der Gedanke, daß nun vielleicht die Natur begänne, eine Bilanz gegen die Summe seines Erfolges zu ziehen, und daß der ihn jetzt betroffene schwere Verlust vielleicht der erste Schlag einer der Erwerbung seines Vermögens folgenden Nemesis sei.

Tante Margret und Helga verließen das Haus nicht, die eine war mit dem zu Faktors zurückgebrachten Kinde, die andere mit dem Trauerzeug, das für alle bestellt werden mußte, beschäftigt.

Von Magnus wußte man, außer daß er noch in der Stadt und mit dem Kreisrichter und den beiden Fremden gesehen worden war, nur wenig. Trotz des über seine Familie hereingebrochenen Kummers sollte er den größten Teil seiner Zeit in dem düstern Rauchzimmer des Gasthauses übermäßig trinkend, wie man sagte, verbringen.

Oskars Schmerz dagegen rührte alle und leistete allen Genüge. Er aß wenig und schloß kein Auge. Manchmal sah man ihn still vor sich hin weinend, abseits sitzen; manchmal durchschritt er, einen nach dem andern die Räume, als ob jeder Gegenstand, auf den sein Auge fiel, ihm eine Erinnerung an glückliche, vergangene Zeiten gewähre; manchmal hörte man ihn in dem weißen Zimmer, in das man Thora gebettet hatte, in dem Zimmer, wo sie so heiter und traurig, so fieberwild und glückselig mit ihrem Kinde gewesen war, seiner wilden Reue in den erstickten Schreien: »Vergib mir! Vergib mir!« Ausdruck geben. Einmal hatte man ihn mitten in der Nacht am Harmonium im Zimmer unter der Toten ein schmerzliches Klagelied leise spielen hören, das seinen Vater und seine Mutter erweckt und zu bitteren Tränen gerührt hatte.

Seine verzweifelte Seele erniedrigte sich während dieser geisterhaften Stunden bis zum Staube. Der Tod ist ein grausamer Züchtiger, und Oskar klagte sich in seiner demütigen Zerknirschung jedes Verbrechens an. Er war es, der Thora getötet hatte – nicht nur ihren Körper, sondern ihr Herz, ihr getreues Herz, das ihn so tief, so zärtlich, so leidenschaftlich geliebt hatte.

In dieser durch Gewissensbisse gemarterten Verfassung blickte er auf seinen, mit Thora vereinten Lebenspfad zurück, und jeder Schritt desselben schien ihm in seiner jetzigen Auffassung dicht von den Stoppeln der Sünde und dem Unkraut der Selbsttäuschung überwuchert zu sein. Bei seiner Rückkehr von England hatte er Thora, obgleich er sie nicht liebte, Magnus entrissen. Er hatte sich freilich eingebildet, sie zu lieben, rechtschaffen und brüderlich gehandelt würde es jedoch gewesen sein stillschweigend zurückzutreten, und wenn er dies nur getan hätte, die Zeit allein würde ihm bald genug die Augen geöffnet haben.

Das war das erste seiner Vergehen und das nächste war nicht weniger verabscheuenswert. Als ihm als Thoras Bräutigam die Erkenntnis gekommen war, daß sein Herz Helga gehöre, hatte er an seiner Vereinbarung festgehalten und das Mädchen, das ihn liebte, in eine liebeleere Heirat gelockt. Es war richtig, er glaubte seine Pflicht zu tun, hinter der Pflicht aber stand die Furcht, die Furcht vor der Welt, die Furcht vor Magnus, während das Mutige, das Männliche, sogar das Barmherzige gewesen wäre, an der Kirchentüre, wenn nötig, noch inne zu halten und den Tatsachen und ihren Folgen die Stirne zu bieten.

Nachdem er Thora also um ihre Liebe betrogen hatte, war er, um das Maß seiner Sünden voll zu machen, der Versuchung der Untreue nicht ausgewichen. Es ist freilich wahr, Thora hatte in ihrer unschuldigen Liebe den Weg zur Versuchung selbst für ihn gebahnt, ebenfalls war es wahr, daß seine Ehe keine vollkommene Gemeinschaft gewesen war; trotz alledem hatte ihm die Wahl freigestanden, und er hätte sofort und für immer sich von Helga lossagen müssen. Daß er dies nicht getan, daß er in der Versuchung geschwankt hatte, war die entscheidende Ursache dieses entsetzlichen Unglücks. Thora war gestorben, weil ihr Herz in ihr tot war, und er selbst hatte es getötet.

Auf diese Weise legte die trostlose Seele des unglücklichen Mannes ihre Missetaten, nichts verhehlend, nichts beschönigend und alles im nackten Licht der Wahrheit vor Gottes Füße nieder. Wenn Reue über begangene Sünden gleichbedeutend mit Schuldlosigkeit ist, so erlöschte Oskars Schuld in seiner mitleiderregenden aber nutzlosen Reue. In den betäubenden Stunden des Schmerzes und der Scham, in denen der Rundlauf des Lebens sich schnell abspiegelt, legte Oskar sich die Frage vor, was Thoras Tod herbeigeführt habe, und eine Stimme antwortete flüsternd: »Helga« und wieder und immer wieder lautete die geflüsterte Antwort »Helga«; sein Herz lieh dieser Anschuldigung jedoch kein Ohr. Helga war nicht zu tadeln. Er allein trug die Schuld. Er hatte Thora seinen ehrgeizigen Träumen geopfert – seinen Träumen von Größe und Ruhm. Helga war einfach nur das Symbol jener Träume gewesen, und Thora war tot, weil er gestrebt hatte, ein großer Musiker zu werden.

Verloren jedoch ist verloren, und Oskar hörte auf seine Fragen, welcher Strafe er in der Zukunft sich unterziehen könne, nur eine Antwort. Wenn sein Ehrgeiz die Ursache seiner Schuld war, würde er seiner Reue dadurch am wahrsten Ausdruck geben, daß er ihn begrübe. Ja, begraben wollte er ihn. Er wollte sein Genie – und seinen Herzenswunsch, ein Komponist zu werden, in dem Grab des süßen, durch ihn dahin geopferten Mädchens begraben und den Rest seines Lebens in dem Einerlei der Pflichterfüllung verbringen und unerkannt und reumütig das Brot der Trübsal essen.

Den ersten Versuch diesem Entschluß gemäß zu handeln, führte Oskar während einer Szene von so tragischer Schönheit aus, daß keiner der ihr Beiwohnenden sie je wieder aus dem Gedächtnis verlor. Die Familie hatte sich zum letzten Liebesdienst, dem vielleicht ergreifendsten Moment aller menschlichen Erfahrungen, ergreifender als der Moment der Trennung von dem frischbedeckten Hügel, ergreifender selbst als der Moment der Rückkehr in das öde und leere Haus – zu dem Moment, wo der Sargdeckel geschlossen und das geliebte Antlitz uns auf immer entzogen wird, versammelt.

Das Totenzimmer war dasselbe, das zu glücklicheren Zeiten als Brautgemach gedient hatte. Die Luft aber, die damals alle auserlesensten Gedanken des Lebens erfüllt hatten, bedrückte nun die Stille des Todes. Es war Abendzeit, und dieselbe Lampe wie damals brannte unter demselben Lampenschirm, während ein mit goldenen Ecken versehenes Gebetbuch von einem Kranz Lichtern umgeben auf dem kleinen Tische neben dem Bette stand. Außer den Familienangehörigen waren nur zwei Personen anwesend – das Nähmädchen, das Thoras Hochzeitskleid für die Kirche hatte anfertigen helfen und das nun gerade den letzten Stich an dem für ein dunkleres Gemach bestimmten Gewande getan hatte, und ein Schreiner in Hemdsärmeln.

Einer nach dem anderen traten die Familienangehörigen an das Bett heran, um einen letzten Blick auf die darauf liegende Bürde zu werfen – der Gouverneur im feierlichen Schritt, als ob er sich dem Throne eines Königs nähere, der Faktor steifen Schrittes und scheuen Blickes, und Helga mit ängstlichem Schritt und flüchtigem Blick, als ob sie einer unangenehmen Pflicht genüge. Anna und Tante Margret jedoch bewegten sich furchtlos und ohne Förmlichkeit um die Leiche herum, hier eine Blume auf ihre Brust legend, dort ihr das Weiche über die Schläfe gekämmte Haar glatt streichend, als ob die teure Tote von Rechts wegen ihnen gehöre, und sie, bis unser aller Mutter, die Erde, sie als ihr Eigentum für sich beanspruchen würde, niemand anderem abtreten wollten.

Der Mann in Hemdsärmeln war vorgetreten, um seine Aufgabe zu vollenden, als der Gouverneur seine Hand aufhob.

»Warten Sie! Wo ist Oskar?« fragte er, und dann wurde Maria, die still außerhalb der Türe schluchzende, alte Magd hinaufgeschickt, um Oskar zu holen.

Während Marias Abwesenheit trat Tante Margret zu Thora heran und flüsterte ihr zu:

»Mein teurer, teurer Liebling! Du hast nie aufgehört, deine arme, dumme alte Tante lieb zu haben, nicht wahr? Selbst da nicht, als sie dein liebes Kindchen dir nicht wieder zurückbrachte und dir dein süßes Herz brach. Glaube nicht, daß sie dich deshalb nicht lieb hatte, mein Kleinod. Jede Minute hat sie dich geliebt, mein Herzblatt. Und nun, da sie dein Kindchen hat, wird sie es auch nicht wieder hergeben. Sie wird es Zeit ihres Lebens behalten, sodaß du dich deshalb nicht zu sorgen brauchst, Thora. Tante Margret wird deiner kleinen Tochter eine Mutter sein, und niemand in der Welt soll je ein Haar auf deines Lieblings Haupte krümmen.«

In diesem Augenblick trat Oskar, von der sich hinter ihm d'reinschleichenden Maria gefolgt, ins Zimmer. Seine bleichen Wangen und tiefliegenden Augen bezeugten die Tiefe seiner Reue, sein Schritt jedoch war fest, und seine ganze Erscheinung bekundete gespannteste Willenskraft. Die eine Hand hielt ein Bündel loser und unordentlich zusammengehaltener Papiere, als ob er es plötzlich in dem Moment erst, wo er gerufen worden, aufgerafft habe. Vollständig in seine Gedanken vertieft, schien er sich der Menschen und Dinge im Zimmer unbewußt, eine Gestalt ausgenommen – die auf dem Bette ruhende – und auf sie zuschreitend, blickte er auf das bleiche Antlitz herab und sprach zu ihm, als ob die Tote – und die Tote allein – es hören könne.

»Thora,« sagte er ruhiger Stimme, »dies sind die einzigen Abschriften meiner Kompositionen, und ich möchte, daß du sie mit dir nähmest. Sie sind während der Stunden geschrieben, wo dein treues Herz durch meine Schuld litt – wo ich dich meiner törichten Kunstillusionen, meines Größenwahnes wegen vernachlässigte und verließ. Sie sind die wirkliche Ursache deines Todes, Thora, und als Selbstzüchtigung dafür, daß ich dein süßes Leben meinen eigensüchtigen Träumen geopfert habe, möchte ich, daß du ihre Früchte mit dir ins Grab nähmest. Nimm sie also und laß sie mit dir sterben, mit dir vergehen und mit dir vergessen werden. Nie, solange ich lebe, werde ich eine einzige Note wieder schreiben, und von dieser Stunde an soll mein Ehrgeiz sein Ende erreicht haben.«

Mit diesen Worten legte er die Papiere neben Thoras Körper und umwickelte sie mit den langen Flechten ihres schönen Haares.

»Oskar! Oskar!« rief Helga in atemlosem Entsetzen.

Die andern hatten, ohne recht zu wissen, was es bedeutete, alles mit angehört und gesehen, Helga aber verwirklichte es und versuchte Oskar vor diesem lebenslänglichen Opfer zu bewahren. Er schien sie jedoch nicht zu hören, und während eines solchen Augenblickes waren weitere Gegenvorstellungen unmöglich.

»Mein süßes Mädchen,« sage Oskar, seine beiden Arme über das Bett breitend, »vergib mir, daß ich meine Pflicht so gänzlich vernachlässigt habe. O, was würde ich darum geben, jetzt vergessen zu können, aber das kann ich, kann ich nicht. Du hast mich verlassen, und ich kann es nie wieder gut machen.«

Dieser, alle so tief ergreifenden Szene ein Ende zu machen, winkte der Gouverneur dem Manne in Hemdsärmeln zu; bei dessen Vortreten jedoch brach Oskars Schmerz von neuem aus, und im Übermaß seines Kummers verlor er alle Beherrschung über seine Zunge.

»Noch nicht!« rief er. »O Gott! Thora! Mein Weib! Mein süßes, junges Weib! Laßt mich noch einen Blick auf ihr Angesicht werfen! Wie strahlend und glücklich es zu sein pflegte, und nun verläßt es mich auf diese Weise! Vergib mir, mein Engel! Sage, ehe du von mir gehst, daß du mir vergibst! Ich kann ohne deine Vergebung nicht leben! Ich habe dir unrecht getan und mich gegen dich versündigt, du aber warst so voll Güte und dein kindergleiches Herz war solch ein Gottesgeschenk!«

Das trostlose Jammern hallte im Zimmer wieder und alle, die diese Enthüllungen einer bloßgestellten Seele mit anhörten, legten sich dieselben auf ihre eigne Weise aus. Helga erbebte und kehrte sich gegen das Fenster, der Gouverneur und der Faktor senkten das Haupt, Tante Margret aber weinte unverhohlen in ehrlichem Mitgefühl, und Anna legte ihre Hand auf Oskars Arm und suchte ihn zu beruhigen.

Nach kurzer Zeit faßte Oskar sich etwas und gab dem Manne sogar selbst das Zeichen, und nachdem alles vorüber war, ging er entschlossenen und mutigen Schrittes aus dem Zimmer.

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