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Siebentes Kapitel.

Der Tag war für Oskar ein Tag ununterbrochenen Triumphes, das Fest der Proklamation von großem Erfolg gewesen. Es hatte mit einem Gottesdienst in der Pfarrkirche begonnen, und wenngleich der kleine Platz kaum dem Gouverneur und den Thingmännern Raum bot, waren der Kirchhof draußen und der anstoßende Pastoracker gedrängt voll Menschen gewesen.

Nach dem Gottesdienst war man in einem Zuge von der Kirchentüre nach dem alten Proklamationsplatz gegangen, und Oskar hatte das Ganze geleitet und jeden in Reih und Glied gestellt; erst das städtische Musikchor, dann den Gouverneur und sein Kollegium in ihren goldgestickten Uniformen, den Bischof in seinem Staatsmantel, die Thingmänner mit ihren Schärpen, die Geistlichen in ihren schwarzen Talaren und weißen Halskrausen, und dann eine unabsehbare Volksmenge. Es war ein prächtiges Schauspiel, wie kein Mensch sich erinnern konnte es an jenem Platz je vorher gesehen zu haben.

Die Proklamation selbst hatte sich zu einer erhebenden Feier gestaltet. Auf dem Berge der Gesetze wie auf einer Tribüne – einer natürlichen, von Lavafelsen gebildeten Tribüne – sitzend, hatte der Gouverneur mit nach Osten gewandtem Gesicht, dem Großkreuz des Daneborgordens auf der Brust, die Titel und den Inhalt der vom Parlament bewilligten Beschlüsse verlesen, und am Ende jedes einzelnen derselben mit hocherhobenem Haupt den Leuten in der Ebene darunter zugerufen: »Ist es ja oder nein?« und dann hatten die Leute, von Oskar angeführt »Ja« gejauchzt.

Nachdem das Lesen beendet war, hatte der Gouverneur gerufen: »Lang lebe der König!« worauf Oskar dreimal drei den Hochruf angestimmt hatte, und als dann die Kapelle die Nationalhymne zu spielen anfing, war er als erster in den Chor mit eingefallen.

Der letzte Teil der Festlichkeit jedoch hatte alles übertroffen, und das war der Gesang von Oskars selbstkomponiertem Lobgesang gewesen. Es war ein Preislied auf Island, die Wiege der Vikinger, den Schauplatz der Sagas, den Urquell des Parlamentes, die Mutter der mächtigen Nordlande.

Unter dem jähen Abhang des Berges der Gesetze stehend, mit seinem hundertfünfzig Mann starkem Chor auf dem wellenförmigen Platze vor sich, hatte Oskar mit großem Eifer dirigiert. Sein Vorspiel schon hatte den Leuten zugesagt, als er jedoch die Höhe seiner Ausdrucksform erreicht und die vaterländische Seite, seine Liebe für das strenge, alte Heimatland angeschlagen hatte –

»Isafold! Mein Isafold! Mächtiges Land des Frosts und Feuers,«

waren seine Zuhörer ganz außer sich geraten, und einige hatten gejauchzt und andere hatten geweint.

Nach Beendigung des Lobgesanges hatten die Thingmänner Oskar beglückwünschend umdrängt, und einige der Landbewohner waren ihm um den Hals gefallen. Auch dem oben sitzenden Gouverneur waren viele Gratulationen zuteil geworden. »Aber das nenne ich Genie,« hatte der eine, »die reine Eingebung« hatte ein anderer, und »unser Oskar wird eines Tages ein großer Musiker werden« ein dritter gesagt. Und der alte Mann hatte den ihm gezollten Tribut gelassen, fast schweigend, aber mit dem strahlenden Gesicht eines auf seinen Lieblingssohn stolzen Vaters hingenommen.

Nach Schluß der Feier war nur ein Name auf jedermanns Lippen gewesen, der Name von Oskar Stephenson, und Hunderte hatten, während sie sich gruppenweise zu ihrem Mittagsmahl begaben, die Melodie: »Isafold! Mein Isafold« leise vor sich hin gesummt.

Oskar und Helga aßen in der Pachtausspannung in einer Ecke der gedrängt vollen Halle miteinander. Sie waren jedoch beide viel zu erregt, als daß es sie in dieser gemischten Gesellschaft gelassen hätte, und so stahlen sie sich nach beendigtem Essen nach dem Ufer des Sees und den einsamen Punkten der Ebene fort. Dort pflückten sie Blaubeeren und sprachen, teils um ihrer Aufregung Herr zu bleiben, teils um sie anzufachen, von nichts anderem als von wilden Blumen.

Als die Sonne unterzugehen begann, machten sie sich auf den Heimweg und gingen am Pfarrhause vorüber, wo der Gouverneur mit dem Faktor, dem Bischof und verschiedenen anderen Beamten sein Mittagessen eingenommen hatte. Das kleine Besuchszimmer dort war, wie der Schlund eines Geysers, von undurchdringlichem Rauch erfüllt, und die drinnen ab und zu gehenden Leute stritten über die Vorzüge und Mängel der alten und der neuen Verfassung. Beide, der Gouverneur und der Faktor waren für die alte, wie die Feier und Oskars Lobgesang sie dargestellt hatten; andere jedoch waren der Ansicht, daß andere Zeiten andere Bedürfnisse mit sich brächten, und daß Island besser mit einer neuen Verfassung und mit Freihandel und neuen Methoden fahren würde.

»Sie werden bis Mitternacht so sitzenbleiben und heute nicht mehr nach Hause kommen,« flüsterte Helga, als sie mit Oskar hinausschlüpfte.

Bei ihrer Rückkehr nach dem Pachthof fanden sie die Leute damit beschäftigt, ihre Zelte abzubrechen und ihre Pferde in Vorbereitung für die Rückreise aus den überfüllten Pferdeställen herauszuführen.

»Ich fürchte, ich bin zu ermüdet, um heute abend zurück zu reiten,« sagte Helga.

»Dann bleibe – bleibe auf alle Fälle,« sagte Oskar.

»Und du?« fragte Helga.

»Ich muß unter allen Umständen nach Hause zurück – da ist ja Thora,« sagte Oskar.

»Deine Mutter wird nach ihr sehen,« sagte Helga.

Oskar aber schüttelte den Kopf und beauftragte Gudrun, die Haushälterin, eines der beiden Gastzimmer für Helga herzurichten.

Da räumten gerade einige junge Städter die Halle zum Tanze aus und forderten Oskar und Helga auf, den Reigen mit einem Walzer zu eröffnen. Sie taten dies hoch erfreut, und als der Walzer beendet war, schlossen sie sich dem folgenden Rundtanz und darauf einem zweiten und dritten Walzer an, bis sie rot und erhitzt hinausgehen mußten, um sich abzukühlen.

Währenddem war es dunkel geworden, und die Leute, die in Thingvellir zu übernachten gedachten, hatten vor dem Eingang ihrer Zelte Feuer angezündet und vertrieben sich mit allerlei Kurzweil die Zeit. Eine derselben war Wahrsagen. Eine alte, nicht gerade für weise geltende Frau ging von einem Zelt zum andern und verkündete aufs Geratewohl unter allgemeinem Gelächter die Zukunft.

»Und was sehen Sie hier?« fragte Helga, ihre Hand ausstreckend.

»Ah, dies ist eine glückliche Hand,« sagte die Hexe. »Sie werden eine vornehme Dame werden und jeden Tag Ochsen- und Hammelbraten essen und goldenen Wein und Ingwerbier trinken.«

»Und was steht hier?« fragte Oskar.

»Hier? O Himmel, o Himmel!« rief die Hexe.

»Was steht da Schlimmes, Mutter?«

»Es überläuft mich eine Gänsehaut.«

»Ist es etwas so Schreckliches, alte Dame?«

»Fragen Sie mich nicht, fragen Sie mich nicht! Sie haben einen Bruder, nicht wahr?«

»Was soll der?«

»Hüten Sie sich! Hüten Sie sich!« sagte die Hexe, und Oskar und Helga wandten sich lachend ab.

Der Mond ging auf, und sie schlenderten die tiefe Schlucht hinab und ergingen sich unter dem Schatten der großen, überhängenden Steine, bis sie unter dem größten derselben, der Heizer genannt, der wie ein gewaltiger Grabstein über einer tiefen, grabähnlichen Grube steht, angelangt waren. Dort blieben sie, mit dem weißen Schein der Lagerfeuer unter sich, sitzen, bis der kochende, übersprudelnde Geyser der Erregung in ihrem Herzen sich nicht mehr niederhalten lassen wollte.

»Du hast heute einen großen Erfolg gehabt, Oskar,« sagte Helga.

»Du auch, Helga, du auch, denn ohne deine anregende und begeisternde Gegenwart würde ich nichts geleistet haben.«

»Es macht mich glücklich, wenn ich dir von Nutzen gewesen bin, Oskar. Nun mußt du aber weiterstreben und nicht rückwärts schauen – niemals.«

»Du hast recht, Helga, du hast recht, nun stehen bleiben wäre Sünde – eine unverzeihliche – fast gegen den heiligen Geist gerichtete Sünde!«

»Genau so, Oskar, genau so; denn wenn jemandem eine Gabe verliehen worden ist, hat er sie vom lieben Gott, und sie, wie der Mann im Gleichnis, zu vergraben –«

»Das wäre nicht zu befürchten, wenn ich dich immer zur Seite haben könnte, Helga.«

»Und könntest du das nicht, Oskar?«

»Wollte Gott, daß ich es könnte. Aber es ist unmöglich. Du wirst nach Dänemark zurückkehren –«

»Das werde ich sicher nicht. Ich habe ebensowohl meinen Ehrgeiz. Ich muß nach England, Frankreich, Deutschland, Italien zurück; und du ebensowohl, Oskar – du mußt es, wenn du deinem Talent, dir selbst, deiner großen Zukunft treu bleiben willst –«

»Ich weiß es, Helga, ich fühle es, und auch nur ein Lied zu schreiben, das die Seelen der Millionen bewegen würde, wäre besser als ein Vermögen sich erwerben oder eine Parlamentsakte durchzubringen. Wenn ein Mann dem Glücke aber Geißeln zu stellen hat, und sie ihn hinunterziehen – mag es auch mit seidenen Fäden sein – aber dennoch hinunter, hinunter, hinunter –«

Seine Worte kamen aus einer trockenen, heiseren Kehle, sie aber antwortete sanft und süß: »Ist alles so durchaus unwiderruflich, Oskar?«

»Durchaus, Helga, durchaus, und fernerhin, mein ganzes Leben hindurch muß ich lernen, ohne deine Kameradschaft fertig zu werden.«

»Und was muß ich tun?«

Die Gewalt der Leidenschaft wollte ihn fortreißen, er versuchte jedoch, sie niederzukämpfen. »Helga!« rief er, »weißt du, welches die tödlichste Macht im Leben ist? Es ist die Liebe! Die Maler stellen die Liebe als einen harmlosen kleinen Amor mit verbundenen Augen und einer Kinderarmbrust und einem Pfeil in der Hand dar. Die Liebe aber ist ein gewaltiges, blindes, strauchelndes Ungetüm, das mit einem zweischneidigen Schwert in der Hand nach allen Seiten hin Verderben verbreitet.«

Seine Worte sagten nichts, seine bebende Stimme jedoch klang wie Musik in Helgas Ohren, und sie entgegnete:

»Ist es die Liebe oder der Mensch, der das tut, Oskar – der Mensch mit seiner falschen Auffassung von Recht und Unrecht, seinen törichten Ideen von Ehre?«

»Gott weiß es! Vielleicht wenn ich vor einem Jahr, ehe ich Unrecht auf Unrecht häufte und Unglück über andere und Elend über mich selbst brachte, so hätte denken können, aber jetzt – jetzt –«

Ein Gefühl des Triumphes überkam sie:

»Ist es nicht feige, Oskar, derartig zu sprechen?«

»Ich bin ein Feigling, Helga,« antwortete er, vom Scheitel bis zur Sohle zitternd, »dir kann ich es sagen – ich bin ein Feigling! – ein moralischer Feigling, und ich kann der Gewißheit nicht ins Auge blicken –«

»Wenn du aber,« sagte Helga, sich ihm nähernd, »jemand neben dir hättest, der den nötigen Lebensmut, die nötige Lebensverachtung besäße –«

»Helga!« rief Oskar, schwer atmend – die Erde schien wie eine Lawine ihm unter den Füßen zu entschlüpfen.

»Jemand, der dir stets helfen und nichts als deine Kameradschaft dafür beanspruchen würde –«

»Helga! Helga!« Er stöhnte, in der Berauschung seiner Erregung wie nach Atem ringend.

»Nichts als mit dir zu schaffen, mit dir die Welt zu erobern –«

»Helga! Helga! Helga!«

»Oskar!«

Ein atemloser Schrei entrang sich beiden, und ihm folgten in einem fast unhörbaren Flüsterton die Worte: »Ich gehe heute abend nicht zurück, Helga!«

Als sie wieder zu sich kamen, kehrten sie erhitzter und erregter als vorher aus dem weißen Mondlicht in den gelben Dunst der rauchenden Lampe zurück, die über den Tänzern in der Halle hing. Die jungen Städter empfingen sie mit einem Jauchzer und riefen ihnen zu dem gerade beginnenden Tanz sich einzureihen. Der Tanz hieß »das Tuch weben« und stellte das Spinnen und Kratzen, das Weben, Strecken, Hämmern und Aufrollen des dicken, isländischen Vadmal dar. Die Tanzenden kreuzten und durchkreuzten, wanden und umschlangen sich, schlugen einander Brust gegen Brust gelehnt und tanzten endlich gegenseitig umeinander herum.

Die Musik spielte schnell, und die Tanzenden sangen laut und lachten noch lauter, als plötzlich von draußen heftiges Hundegebell, darauf der Hufschlag eines galoppierenden Pferdes hereinschallte. Gleich danach hörte man das metallene Ende einer Reitpeitsche rasselnd gegen die Fensterscheibe schlagen und eine Stimme: »Gott sei mit euch!« rufen.

Der Hinzukömmling wartete nicht auf die gewohnte Antwortsformel dieser Begrüßung, sondern stieß die Türe auf und trat eiligst ein. Es war Magnus, staubig und beschmutzt, mit bleichem Gesicht und wildblickenden Augen.

Denselben Moment führten Oskar und Helga mitten in der Vorhalle, glühend und lächelnd und einander im Arm haltend, die letzte Figur des Tanzes aus, und in dieser Stellung trat Magnus ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenüber.

»Ist sie hier?« rief er.

»Sie?«

»Thora! Thora! Sie ist fort; ich glaubte, sie möchte eines Pferdes habhaft geworden und euch gefolgt sein.«

Als darauf Magnus in abgebrochenen Sätzen die Geschichte von Thoras Flucht zu Faktors, ihrem Verschwinden mit dem Kinde und dem vergeblichen Suchen nach ihr erzählte, hielten die scharrenden Füße inne und schwiegen die Violinen.

»Aber sie würde doch jedenfalls im Laufe der Zeit wieder nach dem Gouvernementsgebäude zurückkehren,« sagte Oskar. »Das arme Mädchen wird, um ein Erkennen zu vermeiden, den Umweg gemacht haben und den Seeweg nach Hause gegangen sein. Hat niemand daran gedacht und ist keiner im Hause geblieben, um das abzuwarten?«

Magnus sah wie ein Mann aus, dessen Blick durch langes Herumtasten in einem dunklen Tunnel getrübt und dann vom plötzlichen Licht geblendet worden war. Ehe die übrigen zu sich selbst kamen, hatte er kehrt gemacht und war verschwunden.

Im nächsten Augenblick rannte Oskar, seine geballten Fäuste gegen die Stirne gepreßt und »Mein Gott! Mein Gott!« stöhnend, auf den Dielen auf und nieder, während Helga ihr Haar glatt kämmte und sich in ihren Mantel hüllte.

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