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Achtes Kapitel.

Hans, der Knecht vom Pachtgut, wurde nach dem Pfarrhause entsandt, um dem Gouverneur und dem Faktor Mitteilung zu machen. Er fand die Herren, die so lange sich unterhalten hatten, bis es zu spät zur Rückkehr war, mit Vorbereitungen für die Nacht beschäftigt. Die Nachricht von Thoras Verschwinden jedoch änderte alles.

»Wir müssen sofort zurück,« sagte der Gouverneur.

»Bringe die Pferde augenblicklich herum,« sagte der Faktor.

In weniger als einer halben Stunde befand sich eine schweigsame und verstimmte Gesellschaft auf ihrem Heimritt – der Gouverneur, der Faktor, Oskar, Helga und ein verschiedenartiges, aus mitfühlenden oder neugierigen Leuten bestehendes Gefolge.

Die beiden alten Freunde waren mürrisch und verdrießlich, und seit fünfzig Jahren zum ersten Male aufgelegt, miteinander zu zanken und zu streiten. Der Gouverneur schob Tante Margret, der Faktor Anna die Schuld zu. Der Gouverneur tadelte Helga, der Faktor tadelte Oskar; der Gouverneur schalt den Faktor, der Faktor schalt den Gouverneur. In dem Dämmerlicht der Ungewißheit und Spannung gewann die Angst die Oberhand über ihre Freundschaft und war das Blut dicker als Freundschaft.

Es war eine elende Heimreise für Oskar. Seine eigne Auslegung von Thoras Verschwinden hatte Magnus überrascht, ihn selbst konnte sie jedoch nur kurze Zeit beruhigen, und er malte sich die Folgen in hundert verschiedenen Farben aus. Helga versuchte, ihn mit allerlei einleuchtenden Schlußfolgerungen zu trösten. Er hätte zum Besten gehandelt – zum Besten Thoras, zum Besten des Kindes, zum Besten seiner selbst, zum Besten aller, und wenn der Zufall es anders gefügt oder sein Vorgehen die entsetzlichen Wahnvorspiegelungen wachgerufen hätte, könne ihn weder Verantwortung noch Tadel treffen.

Das heimliche Fegefeuer, dem Oskars schlimmste Qualen entsprangen, zu löschen, konnte Helga indes nicht gelingen, weil seine bitterste Reue ihr und nicht Thora galt.

Der Ritt war lang und ermüdend, und jeder Schritt brachte seine eigne besondere Qual. Während der ersten Stunde war es Mondschein – glänzender Mondschein, der alles in seinem lieblichen Lichte badete – und Oskar fiel die Szene in der Schlucht ein, und er konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, daß vielleicht gerade während der Stunde seiner wahnsinnigen Glückseligkeit Thora tot dagelegen habe.

Dann ging der Mond unter, und es herrschte Finsternis, eine tiefe Finsternis, düsterer als die Lava, und als Oskar die strauchelnden Füße seines Ponys vorwärts trieb, kam ihm der Gedanke, daß, wenn Thora tot wäre, es vielleicht das beste für sie sei – unter den Umständen das beste – es würde sie vor einer bitteren Zukunft bewahren, die jedenfalls kommen mußte, wenn Helga und er trotz ihres eignen Widerstrebens die sie fesselnden Bande zu sprengen haben würden.

Dann brachte in jener düsteren und verräterischen Stunde, wo kein Auge in das seine schaute, der Gedanke, daß mit Thoras Tode der Fehltritt seines Lebens verlöscht und er frei sein würde, ihm eine unendliche Erleichterung.

Aber das Morgengrauen kam – ein trübes, regnerisches Morgengrauen, das die Sonne, wie der Star ein blutunterlaufenes Auge, mit Nebelstreifen verschleierte und die Wunden, mit denen Oskar sein Gewissen in der Dunkelheit belastet hatte, verdoppelte, und er wagte nicht, seine Augen zu der verhüllt und schweigend neben ihm her reitenden Helga zu erheben.

Sie durchkreuzten nun die Moosfelder Heide, und alles rund umher war düster und schauerlich. Ein einsamer Rabe flog mit heiserem Gekrächze eine kurze Zeit lang als wenig tröstlicher Gesellschafter von Wegweiser zu Wegweiser neben ihnen her. Oskar dachte an die gestrigen Szenen, wie blau der Himmel, wie warm ihr Blut gewesen war, und dann durchfuhr ihn plötzlich, wie einen im Grabe ruhenden Menschen der Blitzstrahl trifft, die Erkenntnis, daß, wenn er fernerhin in seinem Leben nur noch eine ruhige Stunde haben wollte, er aus ganzer Seele und mit aller Kraft beten müsse, Thora bei seiner Rückkehr lebend vorzufinden.

Als sie die bewohnten Distrikte erreichten, hieß Oskar den Gouverneur und den Faktor voranreiten und Helga seiner am Wege harren, während er selbst die Bauernhäuser abstreifte und nach den Schlafstubenfenstern hinaufrief. Überall jedoch wartete seiner dasselbe Ergebnis – niemand hatte Thora gesehen, und Magnus war schon vor ihm dagewesen.

Als sie die Spitze des Hügels, von dem hinab sie gestern auf Reykjavik und auf den gerade in den Fjord hineindampfenden dänischen Postdampfer zurückblickten, erreicht hatten, flutete die kleine Hauptstadt gleich einer in rauher See schwimmenden Stadt im Morgennebel, und die Laura lag außerhalb vor Anker; die böse Vorahnung von gestern jedoch hatte die heutige Angst verdrängt, und Oskars Gedanken richteten sich ausschließlich nur auf den einen Punkt.

Sie begegneten aus der Stadt kommenden Bauern mit ihren kleinen Ponykarawanen; aus Furcht aber, die Nachricht, die er sich nicht zu hören getraute, zu erfahren, fragte Oskar nichts, und als sie sich schließlich in der langen Straße der kleinen Stadt befanden, hob er seine Blicke nicht zu den hinter den Vorhängen der oberen Fenster auf ihn herabschauenden Augen empor, damit sie ihm nicht etwa die gefürchtete Wahrheit enthüllen möchten.

Die Angst vor einem Verhängnis hatte zu dieser Stunde jeden Hoffnungsschimmer in ihm getötet, und als er bei seinem Nahen einen dichtgedrängten Menschenhaufen vor dem Gouvernementshause stehen sah, wußte er nur zu gut, daß alle Hoffnung dahin sei. Von der Minute an führte eine Tatsache nach der andern zu der verhängnisvollen Gewißheit.

Das Fenster von Thoras Schlafzimmer – das Fenster, zu dem Oskar am vorhergehenden Morgen sein Lebewohl hinaufgerufen hatte – stand offen und eine Leiter daran gelehnt. Vor dem zum Felde hinausführenden Tor lag ein totes Pferd auf dem Kiesweg; es war Magnus' Pony, sein herrliches Galden Mane, staub- und schweißbedeckt, wie es unter seinem Reiter kurz vor Beschluß seines entsetzlichen Rittes hingestürzt war.

In der Mitte der Halle standen Anna und Tante Margret mit dem Gouverneur und dem Faktor und schluchzten ihren kläglichen Bericht heraus. Anna hatte, aus Furcht, in das leere Haus, den Schauplatz so schmerzlicher Erinnerungen zurückzukehren, die Nacht mit Margret im Faktorhause aufgesessen und von Stunde zu Stunde auf Nachricht vom Kreisrichter und den Gendarmen gewartet. Nichts war über Thora in Erfahrung gebracht worden, aber am frühen Morgen war Magnus in das Gouvernementshaus zurückgekehrt und hatte die Türe zu Thoras Zimmer von innen verschlossen gefunden. Dann hatte er sie geholt und sie hatten Thoras Namen gerufen, ohne eine Antwort zu erhalten; einige Male jedoch hatten sie das Kind schreien hören. Und darauf hatte Magnus, nachdem es ihm nicht gelungen war, das Schloß zu sprengen, eine Leiter geholt und nun war er gerade von außen in das Zimmer gestiegen.

Oskar fehlte, bis er sich vor Thoras Zimmer befand, jedes klare Bewußtsein. Unter angstvollem Klopfen rief er in seiner Verzweiflung: »Thora? Thora, wo bist du? Thora! Thora!«

Ein schwerer, schwankender Fußtritt wurde innerhalb des Zimmers laut, der Riegel ward zurückgeschoben, und die Türe aufgerissen.

»Thora!« rief Oskar noch einmal; es war jedoch Magnus, der vor ihm stand – Magnus mit bleichem, starrem und vor Haß und Wut sprühendem Angesicht.

»Du hattest recht,« sagte er, nach dem Bett hinzeigend. »Da ist sie und möge Gott dich ver –!«

Thora lag mit offenen Augen und geöffneten, lächelnden Lippen, als ob sie gerade aus einem schönen Traum erwacht sei, auf ihrem Kissen. Sie war tot, ihr Kind aber lebte und rollte seinen runden kleinen Kopf von einer Seite zur andern und grub seine roten, kleinen Händchen in ihre kalte weiße Brust.

Mit einem dumpfen erstickenden Schrei fiel Oskar neben dem Bett auf die Kniee und begrub das Gesicht in die Betttücher. Magnus verließ das Schlafzimmer, während die andern es betraten und Tante Margret das lebende Kind über des knieenden Vaters Gestalt hinweg von der Mutterbrust emporhob.

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